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       # taz.de -- Bedrohtes Kirchenasyl: Bis die Polizei kommt
       
       > Nach dem Bruch von Kirchenasylen diskutiert die evangelische Kirche über
       > Strategie und Taktik. Aufgeben kommt für die Helfer:innen nicht
       > infrage.
       
   IMG Bild: Der Kirchturm: Symbol der Zuflucht oder der Macht?
       
       Merle Hansen* sitzt im Stuhlkreis, der im Foyer der St.-Anschar-Kirche in
       Neumünster aufgebaut ist, und schreibt eifrig mit. Um ihren Kopf liegen
       wilde Locken, sie trägt eine runde Brille und mehrere Schichten Kleidung
       gegen die Zugluft im Kirchenvorraum. Draußen ein trüber Novembernachmittag,
       drinnen beraten Kleingruppen über Fragen praktischer Flüchtlingshilfe wie
       „Vorabprüfung“ oder „Mobilisierung und Vernetzung“.
       
       Das Ökumenewerk der evangelischen Nordkirche und der Flüchtlingsrat
       Schleswig-Holstein haben zu dem Treffen eingeladen. Es geht um die Zukunft
       des Kirchenasyls, das in den letzten Monaten immer wieder gebrochen worden
       ist – die Polizei hat die Geflüchteten abgeholt. Zuletzt traf es Ende
       September einen 29-jährigen Afghanen, der in einer katholischen Gemeinde in
       Hamburg-Bergedorf Zuflucht gefunden hatte. [1][Der Erzbischof protestierte,
       ohne Erfolg.]
       
       Auf den Stühlen neben Merle Hansen sitzen überwiegend Frauen, die meisten
       nicht mehr ganz jung. Sie stammen aus Kirchengemeinden aus allen Teilen des
       Landes, die meisten wollen, wie Hansen selbst, anonym bleiben: Mehrere von
       ihnen haben als Ehrenamtliche bereits Menschen im Kirchenasyl betreut, oft
       waren es „stille Asyle“, die ohne Öffentlichkeitsarbeit, ohne Demos und
       Unterschriftensammlungen über die Bühne gehen.
       
       Ob ein Asyl still oder laut verläuft, sei eine taktische Frage, sagt
       Dietlind Jochims, Flüchtlings- und Menschenrechtsbeauftragte der
       Nordkirche, in einer anderen Workshop-Runde im Raum nebenan. „Wenn ihr
       still sein müsst, seid still. Wenn ihr laut sein müsst, seid richtig laut.“
       
       Merle Hansens erste Asylbegleitung verlief still. Zwei Monate lang hat sie
       zwei Frauen betreut, die in einem Gebäude ihrer Kirchengemeinde Schutz
       gesucht hatten. Inzwischen sind beide in eine Sammelunterkunft des Landes
       Schleswig-Holstein gezogen, wo sie auf ihr Verfahren warten. Das ist ein
       Erfolg des Kirchenasyls: Die Frauen hätten eigentlich nach dem sogenannten
       Dublin-II-Verfahren in das andere europäische Land zurückgeschoben werden
       sollen, in das sie zuerst eingereist waren.
       
       ## Weibliche Bezugspersonen
       
       Wenn die Frauen ihren Fall den deutschen Behörden schildern dürfen, stünden
       die Chancen auf dauerhaften Aufenthalt gut, glaubt Merle Hansen, die weiter
       Kontakt zu den beiden hält. Gedrängt hat sie sich nicht zu der Aufgabe:
       „Ich bin am Rand eines Gottesdienstes angesprochen worden, ob ich mir die
       Begleitung vorstellen könnte“, sagt sie. Die Frauen hatten eine lange
       Flucht hinter sich und dabei Schreckliches erlebt. Es stand fest, dass sie
       im Asyl weibliche Bezugspersonen brauchen.
       
       Merle Hansen ist kirchlich engagiert, gehört dem örtlichen
       Gemeindekirchenrat an, kann organisieren und zupacken. Dennoch sei die Zeit
       des Asyls nicht einfach gewesen, sagt sie: „Ich hatte den Eindruck, dass
       ich vieles hätte besser machen können.“ Darum ist sie jetzt hier: um sich
       Tipps zu holen.
       
       Dass die Kirche diesen Workshop anbietet, ist ein Zeichen dafür, dass die
       Asyle schwieriger werden – für die Kirche insgesamt, für die Gemeinden und
       für die Ehrenamtlichen, auf deren Schultern die praktische Arbeit ruht: Sie
       kaufen ein, erledigen Behördengänge, trösten ihre Schützlinge, wenn die
       Angst vor der Zukunft wächst. Sie müssen sich jetzt darauf einstellen, dass
       selbst ein Gotteshaus nicht mehr sicher ist.
       
       Die Vorstellung, dass Flüchtlinge auf heiligen Grund geschützt sind, geht
       in vorchristliche Zeiten zurück. Im antiken Griechenland blieben entflohene
       Sklaven oder politisch Verfolgte am Leben, wenn sie den Tempelbezirk
       erreichten. Das moderne Kirchenasyl in Deutschland gibt es seit 1983.
       Auslöser war der Suizid des 23-jährigen Flüchtlings [2][Cemal Kemal Altun],
       der sich aus Angst vor der Abschiebung aus dem Fenster eines Berliner
       Gerichts stürzte. [3][Ein Denkmal in Charlottenburg] erinnert an seinen
       Tod.
       
       ## Polizist:innen in Kampfmontur
       
       Im Sommer 2023 begingen die Kirchen das 40. Jubiläum der Asylbewegung mit
       Veranstaltungen und Gottesdiensten. Doch das Verhältnis zwischen Staat und
       Kirche wird schwieriger. Mehrfach brach die Polizei in den vergangenen
       Monaten das Asyl. So drangen wenige Tage vor Weihnachten 2023
       Polizist:innen, teils in Kampfmontur, in ein kirchliches Haus in Schwerin
       ein. Hier war eine sechsköpfige afghanische Familie untergekommen, deren
       Mutter als Journalistin und Frauenrechtlerin von den Taliban verfolgt wird.
       
       Die Familie gehörte damit zu den besonders Schutzbedürftigen, [4][denen die
       Bundesregierung nach der Machtübernahme der Taliban Hilfe versprochen
       hatte]. Aber die Eltern waren mit ihren Kindern, die zwischen 22 und 10
       Jahre alt sind, zunächst nach Spanien geflohen. Nach den Regeln des
       Dublin-Verfahrens müsse die Familie dort Asyl beantragen, so sieht es das
       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf).
       
       Aus Sicht der Kirche dagegen gilt die „zwar nicht rechtlich, aber moralisch
       bindende“ Zusage der Bundesregierung, die sie nach der Machübernahme der
       Taliban in Afghanistan geben hatte, so die Flüchtlingsbeauftragte Dietlind
       Jochims. Proteste und ärztliche Gutachten halfen, die Familie darf bis auf
       Weiteres bleiben.
       
       Anders in einem [5][Fall aus Bienenbüttel in Niedersachsen]: Mitte Mai 2024
       holte die Polizei nachts einen russischen Kriegsdienstverweigerer und seine
       Familie aus dem Gemeindehaus der örtlichen Sankt-Michaelis-Kirche und
       setzte sie in ein Flugzeug nach Barcelona. Ein Schock für die
       Kirchengemeinde und die Organisationen der Flüchtlingshilfe: „Es brauchte
       offenkundig eine rot-grüne Landesregierung, um das Tabu des Kirchenasyls zu
       brechen“, [6][heißt es auf der Homepage des Flüchtlingsrats Niedersachsen].
       
       ## Besorgniserregender Kulturwandel
       
       Und auch „Hamburg ist nichts mehr heilig“, wie die taz Ende September
       titeln musste, nachdem die Polizei den 29-jährigen Afghanen aus einer
       katholischen Gemeinde geholt hatte. Es war der erste Bruch eines
       Kirchenasyls in der Hansestadt seit 1984. „Wir sind entsetzt“, heißt es in
       einer Stellungnahme der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der
       Kirche“. Es sei ein „besorgniserregender Kulturwandel“ zu verzeichnen.
       
       Diesen Wandel sehen auch die Haupt- und Ehrenamtlichen, die zu dem Treffen
       in die St.-Anschar-Kirchen in Neumünster gekommen sind. [7][542
       Kirchenasyle gibt es aktuell bundesweit,] 690 Menschen, darunter 114
       Kinder, befinden sich unter dem Schutz der Kirche. Nur in 20 Fällen geht es
       um eine Abschiebung ins Heimatland, der Rest sind Dublin-II-Fälle, also
       „Rückführungen“ in das EU-Land, in dem die Geflüchteten zuerst angekommen
       sind. Diese Fälle seien überschaubarer und damit planbarer für die
       Gemeinden, sagt Wilko Teifke, als Landeskirchlicher Beauftragter der
       Nordkirche zuständig für den Kontakt zur Landespolitik.
       
       Das Ziel des Kirchenasyls ist nicht, dass Menschen „untertauchen“, betonen
       Wilko Teifke und Dietlind Jochims. Die Ausländerämter wissen genau, wer
       sich wo aufhält. Vielmehr gehe es darum, dass die Kirche besondere
       Härtefälle auswähle. Für die Betroffenen bedeutet es eine Chance, zu
       bleiben, denn die Behörden schauen sich ihre Schicksale noch einmal an und
       prüfen, „ob im Einzelfall eine besondere, unverhältnismäßige Härte
       vorliegt“, [8][so vereinbarten es Bamf und Kirchen im Jahr 2015].
       
       Aber die Praxis habe sich geändert, sagt Jochims: „Anfangs wurden fast alle
       Fälle anerkannt, dann 40 Prozent, dann 20, heute sind es unter 1 Prozent.“
       War vor knapp zehn Jahren das Kirchenasyl praktisch ein Garant für ein
       Asylverfahren in Deutschland, spielt es heute fast keine Rolle mehr für die
       Entscheidungen des Bundesamtes. „Dabei stellen wir inhaltlich, also was die
       Fluchtgründe angeht, keinen Unterschied zwischen damals und heute fest“,
       sagt Jochims.
       
       ## Kein Teil der Vereinbarung
       
       Aus Sicht des Bamf sollte ein Kirchenasyl beendet werden, wenn ein Bescheid
       nach der zweiten Prüfung erneut abgelehnt wird. Die evangelische
       Flüchtlingsbeauftragte sieht das anders: „Das war nie ein Teil der
       Vereinbarung“, sagt Jochims. Die Gemeinden halten die Asyle daher aufrecht,
       das Bamf schickt die Polizei.
       
       [9][Acht Mal hätten die Behörden seit Sommer 2023 das Kirchenasyl
       gebrochen,] sagte der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in
       Deutschland, der Berliner Bischof Christian Stäblein, bei deren Synode
       Mitte November. Korrigiere das Bundesamt seine Entscheidung nicht, bedeute
       das für die Gemeinden unter Umständen, „eine Rückführung zu begleiten“. Auf
       eine Räumung müsse aber verzichtet werden: „Es war ein gutes Agreement,
       dass wir auf solche Maßnahmen verzichten.“
       
       Die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche gibt sich derweil kämpferisch.
       „Je kritischer der Blick auf das Kirchenasyl, je rauer das politische Klima
       wird, desto klarer müssen wir sein“, sagt Dietlind Jochims bei dem Treffen
       in Neumünster. Doch auch hier bleiben ihre Worte nicht unwidersprochen: In
       der ersten Kirchenbank sitzt Norbert Scharbach und schüttelt den Kopf.
       
       Scharbach vertritt bei dieser Veranstaltung die Gegenseite. 30 Jahre lang
       war der Beamte mit SPD-Parteibuch unter Minister:innen verschiedenster
       Parteifarben für die schleswig-holsteinische Flüchtlingspolitik zuständig.
       Die Länder stehen bei Abschiebungen zwischen Bamf und Kirchen, sie stellen
       die Polizeikräfte, entscheiden aber nicht selbst, wann und wo die
       Beamt:innen Asylsuchende aus ihren Unterkünften holen.
       
       ## Gesetze für alle
       
       Norbert Scharbach ist alles andere als ein Hardliner, aber für die Haltung
       der Landeskirche, die das Recht auf Schutz aus der Bibel ableitet, hat er
       wenig Verständnis: „Gesetze müssen für alle gelten. Wer ein Ausnahmefall
       ist, kann nicht von der Entscheidung einer Kirchengemeinde abhängen.“
       
       Die Haupt- und Ehrenamtlichen der Kirchengemeinden sehen das anders, sie
       nutzen den Tag, um Kontakte zu knüpfen und Informationen auszutauschen: Wo
       gibt es ein Gemeindehaus mit Platz für Geflüchtete? Worauf müssen sich
       ehrenamtliche Helfer:innen einstellen? „Wir brauchen Leute, die
       vorangehen und anderen Mut machen“, sagt Jochims.
       
       Leute wie Merle Hansen, die sich die erhofften Tipps abholt: „Ich hatte
       keine Ahnung, wo ich die Lebensmittel und Gewürze einkaufen sollte, um die
       sie gebeten haben.“ Eine andere Frau in der Runde weiß die Antwort: „Bitte
       jemanden aus der entsprechenden Community, die Sachen zu besorgen.“
       
       So schnell werden die Ehrenamtlichen nicht aufgeben. Die nächste Konferenz,
       die sich mit dem Kirchenasyl befasst, ist konfessionsübergreifend und
       begann am Freitag in Hannover unter dem Motto: „[10][Kirchenasyl – gelebte
       Solidarität in Zeiten der Abschottung]“.
       
       *Name geändert
       
       24 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://erzbistum-hamburg.de/Erzbischof-Hesse-zur-Raeumung-eines-Kirchenasyls-in-Hamburg-2825
   DIR [2] /Der-Fall-Altun/!5952693
   DIR [3] https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/persoenlichkeiten-und-gedenktafeln/artikel.125468.php
   DIR [4] /Aufnahme-von-Menschen-aus-Afghanistan/!6009471
   DIR [5] /Schutzraum-geraeumt/!6007697
   DIR [6] https://www.nds-fluerat.org/59366/aktuelles/rot-gruene-landesregierung-bricht-kirchenasyl-in-bienenbuettel-kirchenkreis-uelzen/
   DIR [7] https://kirchenasyl.de/kirchenasyle-bundesweit/
   DIR [8] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/AsylFluechtlingsschutz/merkblatt-kirchenasyl.pdf?__blob=publicationFile&v=11
   DIR [9] https://www.ekmd.de/aktuell/nachrichten/staeblein-auf-raeumung-von-kirchenasylen-verzichten.html
   DIR [10] https://kirchenasyl.de/event/jahrestagung-bag-asyl-in-der-kirche-e-v/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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