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       # taz.de -- Politikwissenschaftlerin über Ukraine: „Land gegen Frieden funktioniert nicht“
       
       > Die Politikwissenschaftlerin Claudia Major im Gespräch über einen
       > möglichen Frieden in der Ukraine und die Gefahr eines Atomkriegs.
       
   IMG Bild: Der dritte Kriegswinter in der Ukraine steht vor der Tür
       
       taz: Frau Major, der [1][dritte Kriegswinter in der Ukraine] steht bevor.
       Wird es der letzte sein? 
       
       Claudia Major: Das werden wir erst im Nachhinein wissen. Aber die Ukraine
       und Russland scheinen sich auf eine US-Entscheidung bezüglich des Krieges
       vorzubereiten. Trumps Wahl bedeutet eine [2][große Unsicherheit für beide
       Seiten]. Er hat einerseits angekündigt den Krieg in 24 Stunden zu beenden,
       ohne zu erklären wie. Das klingt nach einem Opfern der Ukraine.
       Andererseits sprechen MAGA Vertreter vom „Frieden durch Stärke“.
       
       Russland eskaliert, das zeigen die Ausweitung der Luftangriffe auf zivile
       Ziele, also die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung, und der
       Einsatz nordkoreanischer Soldaten. Daher versuchen beide Kriegsparteien
       sich in die bestmögliche Position zu bringen. Langsam aber stetig
       [3][erobert Russland ukrainische Gebiete]. Die russischen Material- und
       Personalverluste sind kaum vorstellbar: Schätzungen gehen von Verlustzahlen
       von 1000 bis 1900 Soldaten pro Tag aus Und die Ukraine versucht mit allen
       Mitteln, sie aufzuhalten, weil sie [4][große Sorge hat], dass die
       Frontlinie zur Waffenstillstandslinie wird.
       
       taz: Die USA hat den Einsatz [5][reichweitenstarker Rakten genehmigt], die
       Ukraine setzt auch britische Storm Shadows ein. Nur in Deutschland führt
       die Taurus-Debatte weiterhin zu keiner Einigung. Könnte das ein Game
       Changer sein? 
       
       Major: Diese ganze [6][Game Changer Debatte] ist Unsinn. Eines der
       Grundprobleme in der deutschen Debatte ist, dass wir ganz lange über
       einzelne Waffensysteme diskutiert aber weniger gefragt haben, was das Ziel
       der Waffenlieferungen sein soll. Der Taurus würde der Ukraine helfen,
       wichtige militärische Ziele wie Kommandozentralen und Logistikknotenpunkte
       zu zerstören und damit Druck aus dem russischen Angriff rauszunehmen. Doch
       für eine wirkliche Wirkung hätte man sie schon viel früher liefern müssen.
       Wir scheinen zu glauben, dass wir durch die Lieferung ausgewählter
       Waffensysteme Putins Reaktionen kontrollieren und ein anarchisches System
       wie Krieg steuern können. Das grenzt an Hochmut.
       
       taz: Wenn die Ukraine den Taurus nicht bekommt, wie kann Deutschland
       unterstützen? 
       
       Major: Abgesehen von Taurus gibt es viele andere Wege, die Ukraine zu
       unterstützen. Sie braucht zum Beispiel Luftverteidigung, Nachschub bei
       gepanzerten Fahrzeugen, Investitionen in die ukrainische Rüstungsindustrie,
       die schneller und günstiger produziert als der Westen, Munition,
       Ersatzteile, Drohnenkomponenten. Letztlich beeinflussen die Ausstattung,
       Personal, finanzielle und politische Unterstützung der Ukraine, wie der
       Krieg weiter geht – und bei allen vier Bereichen können westliche
       Unterstützer mehr tun. Dazu gehört auch, die russische Rüstungsindustrie zu
       schwächen.
       
       taz: Wie könnte ein Frieden garantiert werden? 
       
       Major: Die ultimative Lebensversicherung für einen Staat sind entweder
       eigene Atomwaffen oder eine Mitgliedschaft in einer Verteidigungsallianz
       wie der NATO. Russland hat bislang den Konflikt mit NATO-Staaten vermieden,
       weil diese glaubhaft vermitteln konnten, dass bei einem Angriff auf einen
       NATO-Staat, ob Estland oder Rumänien, alle 32 Alliierte – darunter drei
       Atommächte – gemeinsam zur Verteidigung kommen würden. Das wirkt
       abschreckend.
       
       taz: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat sich dazu geäußert,
       zeitweise Gebiete abzutreten. Zeugt es von seiner Hilflosigkeit?
       
       Major: Selenskij hatte im Sommer schon gesagt, dass er das allein nicht
       entscheiden kann. Wenn, dann muss das die ukrainische Bevölkerung
       mittragen. Momentan spricht sich die Mehrheit immer noch gegen
       Landabtretungen aus, weil sie wissen, dass unter russischer Besatzung nicht
       Frieden herrscht, sondern eine aktive Russifizierung und Entukrainisierung.
       Zudem hat 2014 gezeigt, dass Land gegen Frieden nicht funktioniert.
       
       Die Ukraine musste die Krim und einen Teil des Donbass abgeben. Aber es gab
       keinen Frieden, sondern den nächsten Krieg ein paar Jahre später. Solange
       die Konfliktursachen nicht behoben sind, also solange Russland immer noch
       die [7][Souveränität der Ukraine abschaffen will], und solange Moskau die
       Mittel hat, seine Ziele militärisch zu erreichen, solange ist die Ukraine
       bedroht. Dann ist ein Waffenstillstand eine Regenerationspause für die
       russischen Streitkräfte bis zum nächsten Angriff, wie zwischen 2014 und
       2022.
       
       taz: Was könnten Verhandlungen an diese Stelle bringen? 
       
       Major: Die Frage ist, wie man zum Kriegsende und dann Frieden kommt: durch
       Verhandlungen oder militärischen Druck. Bislang haben die zahlreichen
       Verhandlungsversuche, ob die brasilianisch-chinesische, afrikanische oder
       andere Initiativen, leider nichts gebracht. Putin scheint zu glauben, dass
       er in einer Position der Stärke ist, länger durchhält als die Ukraine und
       der Westen, und siegen kann – er hat also von einem Weiterführen des
       Krieges gerade mehr Vorteile hat als vom Aufhören. Putin hat seine
       Bedingungen klargemacht und die laufen nicht auf Verhandlungen hinaus,
       sondern auf eine Kapitulation und die Verwandlung der Ukraine in einen
       Vasallenstaat. Dazu gehören die Anerkennung der vier annektierten Gebiete
       plus der Krim als russisches Territorium, der Verzicht auf einen
       NATO-Beitritt, die Demilitarisierung, also die Limitierung der ukrainischen
       Streitkräfte auf einen Level, wo sie sich nicht mehr verteidigen kann, und
       die Denazifizierung, also einen Regimechange durch eine Absetzung des
       demokratisch gewählten Präsidenten. Mit diesen Forderungen geht es um Sieg,
       nicht um Verhandlungen.
       
       taz: Im Juni fand ein Friedenskongress in der Schweiz statt, im November
       sollte ein weiterer Termin folgen. Man hört davon nun nichts mehr.
       Verschwendet man seine Zeit?
       
       Major: Nein, weil es immer gut ist, zu versuchen, den Krieg zu beenden. Die
       Lage in der Ukraine ist katastrophal: Russland zerstört das Land
       systematisch, zerstört die Lebensgrundlagen, mordet und foltert, und will
       das Land in die Aufgabe zwingen. Und deswegen ist es immer gut zu
       versuchen, einen Ausweg zu finden. Was wir bei der Konferenz auf dem
       Bürgenstock aber gesehen haben, ist, dass der Versuch international
       Russland zu isolieren und weltweit Unterstützung zu bekommen, nicht
       funktioniert hat. Die Abschlusserklärung war auf wenige zentrale Punkte
       heruntergekürzt. Und trotzdem haben viele Länder des sogenannten globalen
       Südens nicht unterschrieben.
       
       taz: Welche Rolle könnte an dieser Stelle ein Nato-Beitritt spielen? 
       
       Major: Die Ukraine hat eine NATO Beitrittsperspektive. Das haben die
       NATO-Staaten auf ihrem Gipfel 2024 bestätigt. Sie wird aber erst beitreten
       können, wenn alle 32 Alliierten zustimmen, also politisch geeint sind, die
       NATO glaubhaft auch die Ukraine verteidigen kann und Kyjiw die
       Beitrittskriterien erfüllt. Für die NATO heißt das zum Beispiel, dass sie
       genug Truppen und Ausrüstung, und die Pläne zur Verteidigung haben muss.
       Bislang sehen vor allem die USA und Deutschland einen schnellen Beitritt
       kritisch. Natürlich sind damit schwierige Fragen verbunden: wie nimmt die
       NATO ein Land auf, dessen Territorium zum Teil besetzt ist und die Grenzen
       unklar sind? Wann kann ein Beitritt erfolgen? Wenn Alliierte betonen, ein
       Beitritt käme erst nach dem Krieg, kann das für Russland ein Anreiz sein,
       diesen Krieg ständig weiterzuspinnen und damit ein Veto beim Beitritt zu
       haben. Wie kann man sich auf die Reaktion von Russland vorbereiten, wenn
       Moskau es als Eskalation auffasst? Aber ein NATO-Beitritt der Ukraine ist
       meines Erachtens ausdrücklich im Interesse von EU und NATO: Es wäre die
       kostengünstigste und stabilste Variante ist, die Ukraine und Europa
       abzusichern. Es bindet die Ukraine ein, kann Reformprozesse und den
       Wiederaufbau absichern und reduziert die Kosten für die Absicherung nach
       einem Waffenstillstand.
       
       taz: Putin hat am vergangenen Dienstag seine Atom-Doktrin minimal ergänzt.
       Verstehen Sie die Sorge vor einem 3. Weltkrieg? 
       
       Major: Ich verstehe die Sorge – jeder Konflikt mit einer Atommacht ist
       gefährlich. Aber wir müssen auch verstehen, was Russland bezwecken will:
       Die nuklearen Drohungen sind seit Beginn der erneuten Invasion Teil des
       russischen Versuchs, uns einzuschüchtern und von der [8][Unterstützung der
       Ukraine abzuschrecken]. In Deutschland scheint das zu funktionieren – mehr
       als in anderen Ländern. Wir springen bereitwillig über fast jedes nukleare
       Stöckchen, was Moskau uns hinhält. Putin will Angst schüren. Doch letztlich
       weiß auch er, dass der [9][Einsatz von Nuklearwaffen], also der Bruch des
       nuklearen Tabus seit 1945, für Russland katastrophal wäre. Wir können eher
       davon ausgehen, dass Russland konventionell weiter eskaliert, Konflikte an
       anderen Orten weltweit schürt und die hybriden Angriffe ausweitet, etwa
       Sabotage von kritischen Infrastrukturen, Desinformation und Cyberangriffe.
       
       Die Frage für uns sollte sein, wo bei uns die Grenze zwischen notwendiger
       Besonnenheit und gefährlicher Selbstabschreckung verläuft, wann wir also
       aus Furcht unser Handeln einschränken und durch Unterlassen schlimmere
       Folgen in Kauf nehmen. Uns sorgt die mögliche Reaktion Putins – aber uns
       sollte auch die Perspektive eines russischen Sieges beunruhigen. Dann
       könnte Putin die Lehre ziehen, dass sich Krieg lohnt, der Westen sich nicht
       ernsthaft wehrt und dass nukleare Erpressung erfolgreich ist. Die Kosten
       eines russischen Sieges für Deutschland und Europa wären immens.
       Nichthandeln aus Furcht vor Handeln kann auch desaströse Folgen haben.
       
       23 Nov 2024
       
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