URI: 
       # taz.de -- Kritische Männlichkeit in der Schule: Wann ist ein Mann ein Mann?
       
       > Zwölf pubertierende Jungen sollen sich in einem Schulworkshop kritisch
       > mit Männlichkeit beschäftigen. Klappt das, wenn sie Zärtlichkeit kaum
       > kennen?
       
   IMG Bild: Wie bewältigt man Gefühle? Die Hälfte der Jungen sagt: Mit Kampfsport
       
       Berlin taz | Dario Michel klappt die Flügel des Whiteboards zu, der große
       Bildschirm verschwindet dahinter. Er und sein Kollege Nicolas Bruggaier
       haben gerade ein kurzes Video gezeigt: ein Zusammenschnitt von TikTok-Clips
       selbsterklärter [1][„Alpha-Männer“].
       
       Ihre Sätze hallen nach: „Wenn du als Mann der Frau Geborgenheit geben
       möchtest, dann musst du emotional zäh sein“, „Dem Mann verzeiht man nicht,
       wenn der sich wie eine Bitch verhält“, „Du hast ein Hormon in dir, was dir
       ermöglicht, ständig selbstbewusst zu sein, und das ist Testosteron.“ Wie
       sie das Video fanden, fragt Dario in die Runde. „Der Mann mit Glatze hat
       recht“, sagt Keno*. Sein Kumpel Mehmet stimmt zu. „Er hat viele gute Sachen
       gesagt, dass zum Beispiel Männer heutzutage zu wenig Testosteron haben.“
       
       Das fängt ja gut an. Zwölf Jungen, 15 und 16 Jahre alt, aus der zehnten
       Klasse einer Oberschule im Berliner Bezirk Lichtenberg sitzen an diesem
       Donnerstagmorgen Mitte November in einem Stuhlkreis. Während sich die
       Mädchen aus ihrer Klasse für die Wandertage einen Selbstverteidigungskurs
       gewünscht haben, sollen die Jungen zwei Tage lang über Männlichkeit reden.
       
       ## Das Bild vom männlichen Ernährer
       
       Was macht einen Mann aus? Welche Probleme entstehen, wenn sie versuchen,
       dem klassischen Männlichkeitsbild zu entsprechen? Und was ist eigentlich
       wichtig in Freundschaften, in Beziehungen, in der Familie? Wie relevant
       diese Fragen sind, zeigt sich täglich, ob es um sexistische Sprüche,
       queerfeindliche Beleidigungen oder [2][häusliche Gewalt] geht. Die Idee
       hegemonialer Männlichkeit wertet Frauen und marginalisierte Menschen ab und
       führt zu Gewalt. Sie gehört außerdem zum Repertoire rechtsextremer
       Ideologie. Das zeigte sich zuletzt bei den Wahlergebnissen in Sachsen,
       Thüringen und Brandenburg.
       
       Junge Männer von 18 bis 24 Jahren wählten überdurchschnittlich häufig die
       AfD. [3][Soziolog*innen wie Klaus Hurrelmann] erklären den „Modern
       Gender-Gap“ unter anderem mit Geschlechterrollen. Während junge Frauen sich
       eher für Klima und Feminismus interessieren, sorgen sich Männer mehr um
       ihre wirtschaftliche Situation – schließlich müssen sie ihre Rolle erfüllen
       und einmal eine Familie ernähren.
       
       Unterdrückerische Männlichkeit als Gefahr – ist das nicht ein bisschen zu
       abstrakt für pubertierende Jungen, die im Spannungsfeld von Kindheit und
       Erwachsenwerden schon genug Chaos im Kopf haben? Nicolas Bruggaier und
       Dario Michel wollen es trotzdem probieren.
       
       Ihre eigene Pubertät inklusive Identitätsfindung ist noch gar nicht so
       lange her. Michel ist 21 Jahre alt, studiert Sport und Geschichte auf
       Lehramt, Bruggaier ist 20 und ebenfalls angehender Lehrer für Deutsch und
       Ethik. Über den freien Träger „Beteiligungsfüchse“ gehen sie mit dem
       kritischen Männlichkeitsworkshop an Schulen, Dario macht das bereits seit
       eineinhalb Jahren, für Nicolas ist es das erste Mal.
       
       ## Echte Männer und „echte Männer“
       
       Um sich etwas näher an die Lebensrealität der Jugendlichen zu bewegen,
       starten Nicolas und Dario mit den TikTok-Videos und der Frage: Was sind
       eigentlich „echte Männer“? Die Schüler sammeln Eigenschaften, wie die
       [4][Männlichkeits-Influencer] sie verkörpern. Tapfer, besser als andere,
       erfolgreich, hart arbeitend, höflich, stark, selbstbewusst, Bart und
       trainiert, attraktiv, keine Emotionen, erfolgreich bei Frauen. „Da geht ihr
       ja schon mal davon aus, dass man auf Frauen stehen muss“, sagt Dario und
       schreibt den Begriff „hetero“ in die Liste.
       
       Die Schüler wissen, wie ein Mann zu sein hat, so viel wird klar. Im
       nächsten Schritt wollen Dario und Nicolas aufzeigen, wie diese Erwartungen
       mit der Realität clashen – wie unterschiedlich also echte Männer ohne
       Anführungszeichen sein können. Auf ein gelbes Stück Papier schreiben die
       Schüler Eigenschaften einer männlichen Bezugsperson auf, die sie schätzen.
       Das kann der Vater sein, ein Bruder, Cousin, Freund oder Trainer. Auf den
       Zetteln steht: klug, sportlich, höflich, offenes Ohr, nett, fürsorglich,
       guter Style, inspirierend, hilfsbereit.
       
       Bis hierhin gehen alle mit. Offensichtlich unterscheiden sich die „echten
       Männer“ von echten Männern. Nur – wo liegt das Problem, den
       gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen zu wollen? „Es ist doch gut,
       wenn Männer stark sind und trainieren“, sagt Mehmet. Und Kilian sagt: „Das
       wollen halt auch die Frauen so.“
       
       ## Kampfsport gegen Gefühlsexplosionen
       
       Für diesen Moment hat Nicolas eine große Cola-Flasche mitgebracht. Er
       schüttelt sie heftig und hält sie dann einem Schüler vor die Nase. „Was
       passiert, wenn ich sie jetzt aufmache?“ Großes Gelächter, niemand will eine
       Cola-Dusche. „Hey, Jungs!“, ruft Nicolas, um wieder die Aufmerksamkeit zu
       bekommen.
       
       Er will den Gedanken hinter dem Witz erklären: So wie sich in der Cola
       durch das Schütteln eine explosive Kraft sammelt, so stauen sich negative
       Gefühle an, wenn man sie verdrängt – bis sie sich als Aggression ihren Weg
       bahnen. „Damit könnt ihr euch selbst schaden, aber natürlich auch anderen“,
       sagt Dario.
       
       Er und Nicolas erwähnen die [5][hohe Suizidrate bei Männern], die im
       Kontrast steht zu dem geringeren Anteil von Männern in Psychotherapie. Und
       sie erwähnen [6][Partnerschaftsgewalt und Femizide]. „In der Kleinstadt, wo
       ich herkomme, wurden in einem Jahr fünf Frauen von ihren Partnern oder
       Ex-Partnern ermordet“, sagt Nicolas.
       
       Wie also umgehen mit Traurigkeit, Einsamkeit, Angst, den Gefühlen also, die
       Männer nicht zeigen dürfen, um nicht als schwach zu gelten? Die eine Hälfte
       der Schüler sagt: Mit Freunden reden, sich Hilfe holen. Es sind die Jungen,
       denen die Kindheit noch ins Gesicht geschrieben steht, die als ihr Hobby
       mehrheitlich Zocken angeben. Die andere Hälfte, die coolen Jungen, die
       pumpen gehen, Caps tragen oder sich die Kapuze ihres Hoodies bis knapp über
       die Augenbrauen ziehen, sagt: Kampfsport.
       
       ## Allein mit der Wut
       
       Mehmet gehört zu der Kampfsport-Fraktion. Zärtlichkeit unter Freunden? Nur
       beim Boxen: „Wir umarmen uns immer nach dem Sparring, das reicht“, sagt er
       und lacht. Natürlich, mit seiner Freundin rede er schon über Gefühle, aber
       manches müsste man eben mit sich selbst ausmachen.
       
       Welche Probleme das sind, die er mit sich selbst ausmachen muss, wird kurz
       deutlich, als Nicolas und Dario über Diskriminierung reden. Mehmet erzählt,
       wie ihn einmal in der U-Bahn eine ältere Frau anging: „Die hat mich so
       durch die Tür geschoben, ich frag sie, was das soll, und sie sagt einfach:
       ‚Geh zurück in dein Land.‘“
       
       Keno erzählt von einer rassistischen Lehrerin. „Ich habe gefastet und zu
       Freunden gesagt, dass ich Hunger habe. Da meinte die Lehrerin, ‚Dann iss
       doch was!‘ Ich meinte, dass ich faste, da meinte sie: ‚Dann geh doch zurück
       in dein Land, dann kannst du fasten.‘“ Eine Gesprächsrunde mit zwölf
       Schülern reicht aus, um deutlich werden zu lassen, welche Ausgrenzung und
       Abwertung migrantisierte Jugendliche erleben. Und mit welcher Wut es sie
       zurücklässt.
       
       Umso mehr überrascht Mehmet mit seiner Schauspieleinlage. Für eine
       praktische Übung tut Nicolas so, als sei er todtraurig: Liebeskummer.
       Mehmet erklärt sich bereit, den zweiten Part zu übernehmen und Nicolas’
       Freund zu spielen, der ihn trösten will. Er setzt sich neben Nicolas, legt
       ihm die Hand auf den Rücken, beugt sich zu ihm runter, fragt: „Was ist denn
       los?“ Nicolas erzählt von einer fiktiven Freundin, die ihn hat abblitzen
       lassen. „Du musst ihr zeigen, dass du ohne sie kannst, dann kommt sie
       wieder zurück. Jetzt ist gleich Boxen, komm mit, erst mal ablenken“, sagt
       Mehmet. Nähe herstellen – Check. Zuhören – Check. Ablenkung vorschlagen –
       Check. Nur Mehmets Idee, die Freundin eifersüchtig zu machen, entspricht
       noch nicht ganz den Workshop-Zielen.
       
       ## Mädchen, die Seeungeheuer
       
       Wie stellen sich pubertierende Jungen eine ideale Liebesbeziehung vor? Die
       wenigsten in der Runde haben eine Freundin, niemand erzählt von einem
       festen Freund. Aber die vermeintlichen Regeln kennen trotzdem alle. Bei der
       Übung „Beziehungsschiff“ malen die Schüler auf ein Plakat ein Schiff und
       kleben dann Aussagen über eine Liebesbeziehung auf das Bild.
       
       „Dein/e Freund/in hat etwas ausgeliehen und gibt es nicht zurück“, steht
       zum Beispiel auf einem Zettel. „Das juckt nicht“, sagt Andrij und klebt den
       Zettel in den Rumpf des Schiffes. „Dein/e Freund/in hat viele Freunde des
       anderen Geschlechtes.“ Dieser Zettel landet beim Seeungeheuer. „Das ist
       gefährlich“, sagt Andrij. Und das sagen auch alle anderen.
       
       Dass Mädchen und Jungen einfach befreundet sind, dass Mädchen nicht sofort
       fremdgehen, wenn sie die Aufmerksamkeit eines anderen Mannes bekommen –
       diese Überlegungen scheinen ihnen fremd zu sein. Sowieso tauchen immer
       wieder frauenfeindliche Bilder auf. Als es zum Beispiel um Beleidigungen
       geht. „Fotze“, „Hure“, „Fick deine Mutter“, „Entjungfere deine Tochter“ –
       so richtig scheint keiner einzusehen, warum diese Ausdrücke Frauen
       abwerten. Das sei eben schwarzer Humor, sagt Lars. „Wenn ich zu Andrij
       sage, ich schieb dich ab, findet er das auch witzig.“
       
       Zwei Tage bewirken keine Wunder, kommen nicht an gegen 16 Jahre
       gesellschaftlichen Einflusses. Im besten Fall geben sie einen Denkanstoß
       mit. „Das mit dem Schauspielen hat mich überrascht“, sagt Mehmet am Ende.
       „Weil man sollte wirklich nicht schlecht reden, wenn es jemandem schlecht
       geht, sondern vorsichtiger sein.“
       
       *Die Namen aller Schüler wurden geändert.
       
       26 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rudel-Phaenomen-auf-Social-Media/!6000234
   DIR [2] /taz-Recherche-zu-Gewalt-gegen-Frauen/!6048072
   DIR [3] /Jugendforscher-ueber-AfD-Erfolg/!5966378
   DIR [4] /Rechte-Influencer/!6016268
   DIR [5] /Suizide-in-Deutschland/!6035273
   DIR [6] /taz-Recherche-zu-Gewalt-gegen-Frauen/!6048065
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nora Noll
       
       ## TAGS
       
   DIR Toxische Männlichkeit 
   DIR Männlichkeit
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Teenager
   DIR Bildung
   DIR Social-Auswahl
   DIR Richter
   DIR Patriarchat
   DIR Heizkosten
   DIR US-Wahl 2024
   DIR Toxische Männlichkeit 
   DIR Feminismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Unzureichende Fortbildungen der Justiz: Kampfbegriff der Väterrechtler
       
       An vielen Familiengerichten finden Gewaltopfer unzureichend Gehör. Kann das
       auch an Missständen bei der Ausbildung von Richtern liegen?
       
   DIR Männer und Feminismus: Die männliche Identitätskrise
       
       Mansplaining, Manspreading, #metoo: Männlichkeit ist vor allem negativ
       konnotiert. Das Vakuum an positiven Männlichkeitsidealen muss gefüllt
       werden.
       
   DIR Klimafreundlicher Fernwärmeausbau stockt: Heizen bleibt schmutzig
       
       Fernwärme ist selten klimafreundlich. Was brauchen Städte, um das zu
       ändern? Die taz hat den Weltklimabericht aufbereitet und zeigt Euch, wo
       sonst noch Emissionen reduziert werden können.
       
   DIR Toxische Bro-Kultur: Stoppt die Muskulinisten!
       
       Elon Musk und seine Armee der „tech bros“ greifen nach der Macht. Darunter
       leiden vor allem die Frauen – und am Ende die ganze Welt.
       
   DIR MannSein-Event in Berlin: Von Feminismus stirbt man nicht
       
       Das Event „MannSein“ in Berlin will die Rolle des Mannes neu definieren –
       und verstärkt dabei bloß starre binäre Vorstellungen.
       
   DIR Autorin Sophia Fritz: „Sehnsucht nach mehr Ehrlichkeit“
       
       Autorin Fritz findet den Begriff „toxische Weiblichkeit“ aus feministischer
       Sicht hilfreich. Er bezeichne Verhaltensmuster, die Solidarität
       verhinderten.