URI: 
       # taz.de -- Autounfälle: Das Tötungsprivileg
       
       > Bei Unfällen zwischen Autofahrern und Fußgängern oder Radfahrern ist die
       > Ursache bekannt: Es ist das Auto. Wie können wir die tödliche Waffe
       > entschärfen?
       
   IMG Bild: Diese Woche raste ein Auto durch die Mauer des Kreuzberger Engelbeckens
       
       [1][Drei Kinder bei „Verkehrsunfällen“ (Tagesspiegel) schwer verletzt], war
       die ganz normale Nachricht aus dem Berliner Verkehr vom Mittwoch. Alle drei
       Kinder beziehungsweise die sie betreuenden Personen werden in der
       Berichterstattung zu zumindest Mitschuldigen erklärt.
       
       Im ersten Fall sei „plötzlich“ (nach Polizeibericht) ein neunjähriger Junge
       zwischen geparkten Autos hervor auf die Fahrbahn getreten und von einem
       Transporter angefahren worden. Im zweiten Fall wurden zwei Mädchen
       verletzt, als sie mit ihrem Vater eine breite Fahrbahn am Alexanderplatz
       überqueren wollten. Der Vater hatte sich „trotz der Dunkelheit“ gegen die
       Benutzung der „Fußgängerampel an der etwa 100 Meter entfernten Kreuzung“
       entschieden.
       
       Dass sich Fußgänger und Radfahrer [2][nicht an die Verkehrs-Regeln halten],
       ist offensichtlich. Selbst als nur gelegentlicher Autofahrer ist man
       ständig mit solchen Verstößen konfrontiert. Als in der Berliner Innenstadt
       Wohnender ist sogar der Eindruck, dass die von fleißigen Fahrradstreifen
       verkörperte Regelungsbehörde ihren Schwerpunkt auf solche Verstöße gelegt
       hat: Während etwa direkt vor der Polizeiwache in taz-Nähe abgehaltene
       Beschleunigungswettbewerbe von Autos als offensichtlich vernachlässigbar
       hingenommen werden.
       
       ## Ein Konflikt mit ungleichen Waffen
       
       Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Verkehr – das Wort bezeichnet
       ursprünglich den „kaufmännischen verkehr, umsatz, vertrieb von waaren“
       (Grimmsches Wörterbuch) – die Idee eines zivilen Austausches, eines
       Aushandelns von Interessen, eben von Gleichberechtigung beinhaltet: Dann
       müssen wir sagen, dass das, was sich inzwischen auf den Straßen abspielt,
       mit dieser Intention nichts mehr zu tun hat. Es ist vielmehr ein Konflikt
       mit ungleichen Waffen: Geschwindigkeit, Masse und Platz.
       
       Und dieser Konflikt verschärft sich nicht nur deswegen, weil die eine Seite
       – die der Radfahrer und Fußgänger – mehr Raum einfordert und – Stichwort
       E-Bike – schneller geworden ist: Die 39-jährige Frau und ihre beiden Kinder
       im Alter von drei und sechs Jahren, die am 22. Oktober von einem Autofahrer
       in Esslingen getötet wurden, hatten nichts falsch gemacht – und trotzdem
       keine Chance.
       
       „Aus noch ungeklärter Ursache“ geriet der 54-jährige Autofahrer mit seinem
       SUV auf den Gehweg. Dort kam es zur Kollision mit der Mutter und ihren zwei
       Kindern. „Die genaue Unfallursache wird weiter untersucht.“
       
       ## Das Auto ist die Ursache
       
       Dabei steht die Ursache natürlich längst fest: Es ist das Auto selbst. Es
       gibt keine guten Autofahrer. Jeder, der sich ans Steuer setzt, ist
       überfordert mit der Kontrolle des Gewaltpotenzials des Geräts, das er meint
       zu beherrschen, wie ein Neunjähriger die Algorithmen von Tiktok.
       
       Das Problem sind eben nicht die Extremfälle – wie jener Verkehrsteilnehmer,
       der [3][diese Woche die Mauer zum Gartendenkmal Engelbecken im Berliner
       Bezirk Mitte an der Grenze zu Kreuzberg durchbrochen hat] (siehe Bilder auf
       dieser Seite). Das Problem sind du und ich. Wir sind der Sache nicht
       gewachsen.
       
       Das Tötungsprivileg von Autofahrern mag man so lange tolerieren, als sie
       sich im Wesentlichen untereinander in Gefahr begeben: auf Autostraßen und
       Autobahnen also. Auf allen Wegen, an denen tatsächlich Verkehr mit
       schwächeren Verkehrsteilnehmern stattfinden soll, aber gibt es nur eine
       Möglichkeit, das Gemetzel zu beenden.
       
       ## Eine asoziale Ansammlung von Individuen
       
       Wer auf den unbestrittenen Komfort und die Sicherheit einer Autofahrt nicht
       verzichten will, muss das mit von außen bestimmter Geschwindigkeit tun – ob
       Tempo 30 oder (ein dann tatsächlich eingehaltenes) 50, ist erst mal
       zweitrangig. Solange die Polizei damit überfordert ist oder kein Interesse
       daran hat, muss eine technische Lösung angestrebt werden.
       
       Das Gebot der Stunde ist also nicht-autonomes Fahren. Denn autonomes Fahren
       ist ohnehin eine Täuschung: „Autofahren ist keine autonome Tätigkeit. Es
       ist eine kooperative, soziale Tätigkeit, bei der die Kommunikation mit
       anderen Verkehrsteilnehmern zu den Aufgaben des Fahrers am Steuer gehört.“
       (Rebecca Solnit: „[4][In the Shadow of Silicon Valley]“).
       
       Autos sind Waffen. Waffen haben ihren Wert. Aber eine Gesellschaft, die den
       völlig ungenügend geregelten Gebrauch dieser Waffen nicht in den Griff
       bekommt, ist keine. Sie ist eine asoziale Ansammlung von Individuen, in
       denen der Stärkste sich durchsetzt und in der die Schwächsten fortdauernd
       und willentlich geopfert werden. Und niemand darf sich wundern, wenn die
       Opfer und ihre Angehörigen das nicht länger hinnehmen.
       
       26 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/drei-kinder-bei-verkehrsunfallen-schwer-verletzt-madchen-in-berlin-friedrichshain-angefahren-junge-in-marzahn-12759410.html
   DIR [2] /Jaywalking-in-New-York-nun-legal/!6042977
   DIR [3] https://www.instagram.com/dmage_berlin/p/DCuIWpYs8wX/?img_index=1
   DIR [4] https://www.lrb.co.uk/the-paper/v46/n03/rebecca-solnit/in-the-shadow-of-silicon-valley
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
   DIR Selbstfahrendes Auto
   DIR Auto
   DIR Straßenverkehr
   DIR Verkehrswende
   DIR Verkehrsunfälle
   DIR Social-Auswahl
   DIR TV-Serien
   DIR Anschläge
   DIR Kolumne Das bisschen Haushalt
   DIR Anschlag in Magdeburg
   DIR Auto-Branche
   DIR Straßenverkehr
   DIR Verkehrspolitik
   DIR Verkehrsunfälle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR ARD-Serie „Hundertdreizehn“: Die Toten und die Lebenden
       
       Die gelungene Serie „Hundertdreizehn“ dreht sich um die Folgen eines
       Verkehrsunfalls. Erzählt mit kitschigen Elementen, aber ohne Zeigefinger.
       
   DIR Amokfahrt in Mannheim: Mit dem Auto in der Waffenverbotszone
       
       In deutschen Innenstädten wird das Auto zum Tatwerkzeug. Genauso wie andere
       Waffen hat das Lieblingsspielzeug der Deutschen dort nichts verloren.
       
   DIR Trend im Januar: Warum Verzicht auf den Verzicht die wahre Größe wäre
       
       Wie so viele andere verzichtet unser Autor im Januar auf Alkohol. Mit
       aggressiver Klarheit formuliert er ein paar weitere Verzichtvorschläge.
       
   DIR Anschlag in Magdeburg: Die Waffe regulieren
       
       Nicht erst seit dem Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt gilt:
       Fußgänger müssen endlich besser vor Autos geschützt werden.
       
   DIR Verkauf von E-Autos: Die Antriebswende braucht mehr Schwung
       
       E-Autos lohnen sich vor allem für Besserverdienende, zeigt eine Studie.
       Eine sozial gestaffelte Förderung könnte für mehr Absatz sorgen.
       
   DIR Kriminalitätsschwerpunkt Straßenverkehr: Mit aller Brutalität
       
       Autofahrer:innen stellen ein Viertel aller Verurteilten in
       Deutschland. Doch vielen fehlt Bewusstsein für ihre Taten.
       
   DIR Verkehrswende in Städten: Die Poller-Politik
       
       In Leipzig sollen „Superblocks“ für weniger Autoverkehr und Platz für
       Begegnungen sorgen. Doch manche Anwohner:innen fühlen sich davon
       überfahren.
       
   DIR Verkehrsunfälle in Berlin 2023: Mehr ist immer noch weniger
       
       Die Zahl der Verkehrsunfälle ist 2023 wieder gestiegen, liegt aber unter
       dem Vor-Pandemie-Niveau. Mit 33 erreicht die Zahl der Getöteten ein Tief.