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       # taz.de -- Feministin auf Wanderschaft: Radikales Gehen
       
       > Die französische Anarchistin und Feministin Alexandra David-Neél lief und
       > lief, oft 40 Kilometer am Tag. Sie kam an Orte, wo sie nicht hin sollte.
       
   IMG Bild: „Gehen ist ein Prozess statt Statik“: Wanderin in den Bergen
       
       „Ich wanderte 44 Tage nur mit einem meiner Hausangestellten, überwand ein
       Dutzend Gipfel mit Schnee bis zu meinen Knien, schlief in Eishöhlen wie
       eine prähistorische Frau, ohne Essen, fast barfuß, weil die Sohlen von
       meinen Mokassins von den Steinen auf der Straße zerstört wurden.“
       
       Dieser martialische Fußmarsch, den Alexandra David-Néel in einem Brief an
       ihren Ehemann schildert, kostet sie fast das Leben – und der Bericht
       darüber wird sie weltberühmt machen, obwohl sie eigentlich weit
       interessantere Sachen getan hat als diesen Streich: 1924, vor genau hundert
       Jahren, gelangt Alexandra David-Neél als erste Europäerin in die für
       Ausländer:innen verbotene Stadt [1][Lhasa in Tibet]. 57 Jahre ist die
       Französin da schon alt. Vier Monate überquerte sie zu Fuß den Himalaja,
       verkleidet als einheimische Bettlerin, aber unter der Kleidung ausgestattet
       mit Kompass und Pistole.
       
       Was nach abenteuerlichem Draufgängertum klingt, ist eher spirituell
       motiviert. Die französische Anarchistin und Feministin Alexandra David-Neél
       kritisiert den Imperialismus; sie ist Buddhistin, sie studiert seit Jahren
       asiatische Religionen. Das Wissen dazu hat sie sich wörtlich erlaufen. Denn
       sie ist auch: eine radikale Geherin. Ab 1911 geht sie vierzehn Jahre lang
       fast ununterbrochen durch Tibet, China, Japan, Korea, Indien, die Mongolei
       [2][und die Wüste Gobi]. Oft 40 Kilometer am Tag ohne Landkarte oder
       Führer. Ihre Vision: „Keine Gesetze! Lebe deinen Instinkt!“
       
       Alexandra David-Neél ist eine recht ungewöhnliche Protagonistin dieser
       Kolumne. Die hat nämlich, zugegeben, einen wunden Punkt: Sie erzählt meist
       von Siegerinnen. Von Frauen, die im organisierten Sport erfolgreich waren,
       die sich ihren Platz erstritten haben. Und das sagt wohl auch was darüber,
       wie viel Patriarchat in Erinnerung steckt. Erinnert werden nur die, die im
       von Männern konstruierten Höher-Schneller-Weiter triumphierten.
       
       Schon die Infolage außerhalb dieser Chronik ist dünn: Wer schreibt schon
       Biografien über chronische Verliererinnen? [3][Oder über Frauen, die sich
       aus ganz anderen Motiven bewegten?] Die Politikwissenschaftlerin Kathy E.
       Ferguson hat es getan: „Anarchistische Frauen und die Politik des Gehens“
       heißt der Essay, in dem sie an die vielen Feministinnen erinnert, die
       leidenschaftlich gern wanderten, von George Sand über David-Neél bis Simone
       de Beauvoir.
       
       ## Gleichzeitigkeit von Wiederholung und Neuheit
       
       Durch radikales Gehen, so Ferguson, kamen Frauen an Orte, wo sie nicht hin
       sollten. Es öffnete auch den Blick auf soziale Verhältnisse in anderen
       Stadtvierteln. Es erhöht die Kreativität. Und Ferguson betont, wie
       politisch es sei: Gehen ist ein Prozess statt Statik, eine Gleichzeitigkeit
       von Wiederholung und Neuheit. Sie ist überzeugt, dass Alexandra David-Neél
       ihren Anarchismus auch durchs Gehen auslebte.
       
       David-Neél, geboren 1868 in Paris, bricht aus allen Rastern aus. „Seit ich
       fünf Jahre alt war, hatte ich Sehnsucht, das Gartentor zu durchqueren, der
       Straße zu folgen und ins Unbekannte aufzubrechen“, schrieb sie einmal.
       Schon in Teenagerzeiten reißt sie mehrfach von zu Hause aus. Ihre späteren
       Weltreisen sind auch deshalb ungewöhnlich, weil Alexandra David-Neél nicht
       aus reichem Haus stammt. Sie wandert mit geringsten Mitteln, irgendwann
       hilft – das ausnahmsweise konventionell – ein begüterter Ehemann, der sie
       aber fast nie sieht.
       
       Das Ergebnis ist ein Leben wie zehn Leben. David-Neél lernt Tibetisch,
       Sanskrit und Mandarin, betreibt ein Casino in Tunis, arbeitet als
       Opernsängerin in Hanoi, meditiert eineinhalb Jahre als Einsiedlerin im
       Himalaja und schreibt mehr als 30 Bücher über Philosophie, Religion und
       ihre Reisen. Im hohen Alter wird sie noch einmal zur Inspiration für die
       Beat-Generation. Sie stirbt 1969 mit 100 Jahren in Frankreich. Da hat sie
       gerade ihren Reisepass noch mal erneuert, „nur für den Fall“. Gehen auch
       als Rebellion gegen Autoritäten und Verhältnisse. Auf die Frage, warum sie
       nach Lhasa ging, antwortete sie einmal: „Weil es da war und weil die
       Bürokraten Nein sagten.“
       
       21 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alina Schwermer
       
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