URI: 
       # taz.de -- Autor über Klassenliteratur: „Die Revolution braucht ihre Geschichten“
       
       > Der Hamburger Autor Mesut Bayraktar beschäftigt sich in seinen
       > Kurzgeschichten mit der Arbeiterklasse. Oldschool? Findet er nicht.
       
   IMG Bild: Auch HSV-Fans können mit dem Klassenbegriff etwas anfangen: Choreographie beim Spiel gegen den FC St. Pauli im September 2019
       
       taz: Herr Bayraktar, die Figuren der Geschichten von „Die Lage“ sind sehr
       unterschiedlich – aber durch ihr Dasein als Arbeiter:innen verbunden.
       Warum dieser Fokus auf Klasse? 
       
       Mesut Bayraktar: Mir ist wichtig, mit diesem Buch zu zeigen, dass die
       arbeitende Klasse nicht das ist, als was sie in den letzten Jahren in Szene
       gesetzt wurde, nämlich eine rein männliche, drogenabhängige, homophobe
       Horde. Die arbeitende Klasse steht auch für Würde, Kämpfe, Widersprüche und
       Vielfalt. Zugleich zeichnet sie sich heute auch dadurch aus, dass sie an
       der Unwissenheit über ihre eigene Lage leidet. Das kenne ich aus meinem
       eigenen Leben. Diese Unwissenheit tut weh. Sie gehört ebenso zur Herrschaft
       wie die Ausbeutung.
       
       taz: Im Feuilleton ist neuerdings oft von einer „neuen Klassenliteratur“ zu
       lesen. Gehören Sie dazu? 
       
       Bayraktar: Ich würde meine eigene Arbeit an den Peripherien dieser Strömung
       einordnen. Sie bedeutet vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden
       Klassenverhältnisse vor allem eine Suchbewegung von [1][schreibenden
       Arbeiterkindern] und Intellektuellen hin zur [2][Arbeiterklasse]. Es ist
       der Versuch, eine Sprache der Konfrontation zu entwickeln, die wieder zu
       einer symbolischen Existenz der arbeitenden Klasse führen soll. Sprache
       befasst sich wieder mit der Realität. Die Wirklichkeit bekommt wieder
       Einlass in die Literatur, was meiner Ansicht nach in den 30 Jahren zuvor so
       nicht der Fall war.
       
       taz: Das heißt, Klasse hatte da keine Rolle mehr gespielt? 
       
       Bayraktar: Ich selbst bin 1990 geboren. Ich habe dieses Jahrzehnt und die
       folgenden Jahre eher so erlebt, dass die arbeitende Klasse aus der
       Literatur, der Kunst und den Wissenschaften verbannt wurde. Von heute auf
       morgen hieß es, die arbeitende Klasse gebe es nicht mehr. Wir seien eine
       Gesellschaft von Individuen, von Projekten der Selbstverwirklichung. Indem
       man meine Klasse leugnete, hat man auch meine Erfahrungen und mein Leben
       geleugnet. Ich habe aber an meinem eigenen Körper gesehen und erfahren,
       dass es die Klasse gab.
       
       taz: Wie kam es, dass nicht mehr von und über Klasse geschrieben wurde? 
       
       Bayraktar: Als der Realsozialismus und das Projekt eines sozialistischen
       Aufbaus weggefallen sind, hatte der Kapitalismus freie Bahn. Er musste
       seine eigene Existenz nicht mehr rechtfertigen. Die neoliberale
       Restauration folgte. In der Literatur wurde die arbeitende Klasse quasi der
       Vergangenheit eingepreist. [3][Klassenkampf] war nicht mehr en vogue. Damit
       wurde aber auch die Geschichte einer proletarischen Gegenkultur kassiert
       und unter die Erde verbannt.
       
       taz: Und die neue Klassenliteratur gräbt sie nun wieder aus? 
       
       Bayraktar: Wir arbeiten mit einer fast archäologischen Präzision daran, die
       Linien zurück in die Geschichte der eigenen Vorfahren und der Klasse
       freizulegen. Um uns stark zu machen für die Kämpfe, die vor uns liegen,
       womöglich für einen Kampf um eine klassenlose Gesellschaft.
       
       taz: Wie kam es zum Comeback der Klassenliteratur? 
       
       Bayraktar: Die [4][Wirtschaftskrise 2008] war eine Zäsur. Es war ja nicht
       nur eine wirtschaftliche Krise, sondern auch eine Hegemonie-Krise der
       Bürgerlichen. Die bis dahin entwickelten Theorien, die Ungleichheit
       innerhalb kapitalistischer Gesellschaften begründen sollten, das
       Leistungsnarrativ oder das von der individuellen Schuld, langten nicht
       mehr. Aber niemand akzeptiert unbegründete Ungleichheit.
       
       taz: Was war die Konsequenz? 
       
       Bayraktar: Als diese Gründe wegfielen, hat man wieder zu [5][radikaleren
       Theorien von Gesellschaft] gegriffen. Der Marxismus war wieder auf der
       Tagesordnung. Seither findet aus unterschiedlichen Zungen eine
       Wiederauferstehung des Marxismus statt. Diese Rückeroberung ist nötig, um
       zu verstehen, warum die Verhältnisse sich so zuspitzen und wie sie
       verändert werden können.
       
       taz: Viele Autor:innen schreiben vom Aufwachsen und der Sozialisation
       innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Sie haben das auch
       Arbeiterkinderliteratur genannt. Was meinen Sie damit? 
       
       Bayraktar: Viele dieser Stimmen rekonstruieren anhand ihrer Biografie ihre
       Herkunftsgeschichte. Dabei lassen die schreibenden
       Arbeiter:innenkinder durch das Schreiben ihre Klasse hinter sich.
       Manche forcieren das. Dabei wird immer auch die Erzählung des sozialen
       Aufstiegs durch Bildung bedient. Ich will aber etwas dagegenhalten.
       
       taz: Und zwar? 
       
       Bayraktar: Ich denke, dass man nicht zwangsläufig im Schreiben über die
       eigene Klasse seine Klasse zurücklassen muss. Ganz im Gegenteil. Ich
       schreibe Geschichten aus meiner Klasse, um Literatur in ein Forum zur
       Entwicklung des Klassenbewusstseins zu verwandeln, vielstimmig und
       kritisch. Mit anderen Worten: Die Revolution braucht ihre Geschichten, vor
       allem in einer vorrevolutionären Situation.
       
       21 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Leben-einer-franzoesischen-Arbeiterin/!5996416
   DIR [2] /Arbeiterklasse/!t5283905
   DIR [3] /Klassenkampf/!t5021554
   DIR [4] /Schwerpunkt-Finanzkrise/!t5009668
   DIR [5] /Philosophin-ueber-radikale-Systemkritik/!6021416
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Kähler
       
       ## TAGS
       
   DIR Hamburg
   DIR Literatur
   DIR Arbeiterklasse
   DIR Klassenkampf
   DIR Kurzgeschichte
   DIR Schlagloch
   DIR Mode
   DIR Intersektionalität
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Der Rechtsruck und die Arbeiterklasse: Reaktionäre Hinterwäldler?
       
       In den populären Rechtsextremismus-Analysen steckt viel Verachtung für die
       arbeitenden Klassen – und eine Verniedlichung des Faschismus.
       
   DIR Ästhetisierung der Arbeiterklasse: Der Traum vom Armsein
       
       Sich als arm auszugeben, ist angesagt. Ohne Scham inszenieren diese
       Klassentourist*innen ihre angebliche Armut und Klassenzugehörigkeit.
       
   DIR Professorin über Wokeness: „Raus aus den Kulturkämpfen!“
       
       Die Professorin und Buchautorin Catherine Liu wendet sich von der Klasse
       der linksliberalen Akademiker ab, um zum wahren Klassenkampf
       zurückzufinden.