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       # taz.de -- Fachmagazin zieht Analyse zurück: Streit über Studie zu massenhaften Pestizidvergiftungen
       
       > Eine Fachzeitschrift zieht nach Protest der Chemieindustrie eine Analyse
       > wegen angeblich falsch interpretierter Daten zurück. Das stößt auf
       > Kritik.
       
   IMG Bild: Mit rotem Tuch um Mund und Nase will sich ein ugandischer Bauer beim Spritzen schützen
       
       Nach Kritik der Chemieindustrie hat eine Fachzeitschrift eine Studie
       zurückgezogen, derzufolge es jährlich weltweit 385 Millionen
       unbeabsichtigte Vergiftungen durch Pestizide gibt. Das Magazin BMC Public
       Health aus dem Wissenschaftsverlag Springer Nature teilte mit, es habe
       „[1][kein Vertrauen] mehr in die vorgelegten Ergebnisse und
       Schlussfolgerungen“. Doch die Gründe bleiben auch auf Nachfrage bei der
       Redaktion vage. Ein nicht an der Sache beteiligter Wissenschaftler
       kritisiert die Zurückziehung und schließt Druck der Industrie auf die
       Zeitschrift nicht aus.
       
       Laut der im Dezember [2][2020 erschienenen Studie] sterben pro Jahr 11.000
       Menschen beispielsweise durch Arbeitsunfälle mit Pestiziden, Suizide etwa
       wurden nicht mitgezählt. Die Untersuchung lenkte Aufmerksamkeit darauf,
       dass vor allem im Globalen Süden Landarbeiter Gesundheitsschäden durch
       Ackergifte erleiden. Manche Betroffene können nicht die
       Sicherheitsbestimmungen lesen, ihre Arbeitgeber schicken sie entgegen den
       Regeln kurz nach dem Spritzen auf die Äcker, Bauern in den Tropen tragen
       zuweilen keine Schutzanzüge, weil die Hitze sonst unerträglich würde. Zudem
       sind in Entwicklungsländern viele Pestizide zugelassen, die in der EU aus
       Gesundheitsgründen verboten sind – aber dennoch etwa aus Deutschland
       dorthin exportiert werden.
       
       Doch die letzten globalen Zahlen zu unbeabsichtigten Vergiftungen durch
       Pestizide sind schon mehr als 30 Jahre alt. Deshalb werteten der
       Bio-Mathematiker Wolfgang Bödeker sowie drei andere Wissenschaftler im
       Auftrag des Umweltverbands Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) neuere Angaben
       aus 157 Studien und einer Datenbank der Weltgesundheitsorganisation aus.
       Ihr Forschungsansatz hatte aber eine Schwierigkeit: Die Forscher wollten
       das jährliche Ausmaß berechnen.
       
       Manche Studien geben Vergiftungen der Befragten jedoch nicht für ein Jahr,
       sondern für längere Zeiträume an. Wenn also ein Landarbeiter in einer
       Erhebung die Frage bejahte, ob er jemals eine Pestizidvergiftung erlitten
       habe, könnte das bedeuten, dass dies einmal im Leben, einmal im Jahr oder
       mehrfach im Jahr passiert ist. Dennoch zählten die Autoren dies als einmal
       pro Jahr mit. Das legten sie auch in ihrem Paper offen. Ohne solche Studien
       wäre es noch schwieriger gewesen, genügend Daten aus 141 Ländern zu finden.
       Die unabhängigen Gutachter, die das Manuskript im Rahmen der Peer Review
       vor Veröffentlichung für die Redaktion analysiert hatten, kamen zu dem
       Schluss, dass die vorgelegten Belege die Schlussfolgerungen der Autoren
       stützen.
       
       ## Leserbrief von Mitarbeitern der Pestizidindustrie
       
       Aber inzwischen sieht die Redaktion von BMC Public Health das anders. Sie
       rechtfertigte die Zurückziehung im Oktober auf ihrer Website unter anderem
       damit, „dass die Annahme einer jährlichen Exposition für Länder, in denen
       der Zeitrahmen nicht angegeben ist, unzuverlässig ist“. Eine
       Expertenbewertung habe diese Bedenken bestätigt. Sie seien von einem nicht
       genannten Leser sowie einem in der Zeitschrift bereits im Oktober 2021
       veröffentlichten Leserbrief vorgebracht worden. Zwei der Verfasser dieses
       Briefes arbeiten nach eigenen Angaben für den Pestizidhersteller Bayer, ein
       weiterer für den Branchenverband CropLife.
       
       Die Studienautoren verteidigen ihre Daten. „Wir nehmen solche
       Untersuchungen trotzdem rein, weil wir aus Studien wissen, dass
       Pestizidvergiftungen mehrfach vorkommen in einer Saison, in einem Jahr“,
       erläuterte Bödeker der taz. Zwar könnten dadurch die Zahlen überschätzt
       werden, doch andersherum würde das Weglassen der Fälle „mit Sicherheit“
       eine Unterschätzung verursachen, so der Forscher. Letzteres hält er für
       problematischer, weil es um die Gesundheit von Menschen gehe, die geschützt
       werden müsse.
       
       Doch selbst wenn man die angeblich falsch interpretierten Untersuchungen
       weglässt, würde die Zahl der Vergiftungen dem Mathematiker zufolge kaum
       sinken: Im Konkreten sei die Interpretation von Angaben aus fünf Ländern
       angegriffen worden. Würde man die fraglichen Studien weglassen, so würde
       sich am Gesamtergebnis der Länder aber kaum etwas ändern, in zweien wäre
       die Zahl der jährlichen Pestizidvergiftungen sogar höher gewesen, rechnet
       Bödeker vor. Und hätte man die zwei Länder weggelassen, für die es nur
       diese Zahlen gab, hätte das den globalen Schätzwert lediglich um 0,6
       Prozent verändert.
       
       Aus diesen Gründen bezeichnen die Autoren die Zurückziehung ihres Artikels
       als „inakzeptabel“. Da die Kritik nicht schlüssig sei, habe die Redaktion
       ihre eigenen Regeln gebrochen, indem sie sich von dem Text distanziert hat.
       Das Magazin hätte lieber neutral bleiben und den Raum für eine öffentliche,
       wissenschaftliche Debatte über die Einwände bieten sollen, fordern die
       Studienautoren.
       
       BMC Public Health hält sich nach eigenen Angaben bei Zurückziehungen an die
       Regeln des Komitees für Veröffentlichungsethik ([3][Cope]). Für diese
       Organisation sind „Retractions“ von Studien nach etwa simplen Korrekturen
       die schärfste Maßnahme. Die Hürden sind hoch: Voraussetzung seien
       „eindeutige Beweise dafür, dass die Ergebnisse unzuverlässig sind, entweder
       aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers (zum Beispiel eines Rechenfehlers
       oder eines experimentellen Fehlers)“. Schwerwiegende Rechenfehler wirft die
       Redaktion den Autoren aber nicht vor.
       
       ## „Retraction“ statt Diskussion
       
       Carsten Brühl, Ökotoxikologe an der Rheinland-Pfälzischen Technischen
       Universität Kaiserslautern-Landau, kritisiert die Zurückziehung des
       Artikels denn auch als „fragwürdig“. Die Methode der Studie sei „valide“,
       aber „natürlich sind das alles Hochrechnungen“. Die Autoren hätten sehr
       deutlich geschrieben, dass die Datenlage schwierig sei. „Man kann die
       Studie angreifen, aber warum man sie ohne ausführliche und transparente
       Begründung zurückzieht, verstehe ich nicht“, sagt der Professor, der auch
       Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesagrarministeriums zum
       Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutz ist. Im Fachmagazin Nature etwa gebe
       es ebenfalls Artikel, die scharf kritisiert werden, aber sie würden nicht
       zurückgezogen.
       
       Vielleicht hätten Bödeker und Kollegen ein Worst-case-Szenario berechnet,
       meint Brühl. „Der normale Vorgang wäre, dass jemand anders die Daten der
       Autoren analysiert und dann in einem weiteren Artikel als Antwort andere
       Zahlen publiziert. Das haben die Kritiker aber nicht getan.“
       
       Weil der Ökotoxikologe die Zurückziehung als intransparent und schlecht
       begründet ansieht, kann er sich nach eigenen Worten auch vorstellen, dass
       dahinter „eine Einflussnahme“ der Chemieindustrie stecke. „Die
       Wissenschaftler kommen extrem unter Druck.“ Sie müssten viel Zeit für ihre
       Verteidigung opfern und könnten kaum noch forschen. „Das ist die perfide
       Strategie, die dahinter steckt.“
       
       Sicher ist: Die Verfasser des Leserbriefs, auf den sich das Fachmagazin
       beruft, arbeiten in der Pestizidbranche. Und diese feiert nun die
       Zurückziehung der Studie. Auch ihr Industrieverband Agrar schmähte die
       Untersuchung als ein „[4][Schauermärchen ohne Substanz]“. Die
       Lobbyorganisation suggerierte in einer Pressemitteilung, die Studie sei
       auch deshalb zurückgezogen worden, weil die Autoren schon einen Kontakt mit
       einer potenziell gefährlichen Substanz als Vergiftungsfall gezählt hätten.
       Davon steht aber sowohl in der öffentlichen Begründung des Magazins als
       auch in der Studie selbst kein Wort. Offen ließ der Verband, wie viele
       Millionen unbeabsichtigte Vergiftungen durch Pestizide es seiner Meinung
       nach pro Jahr wirklich gibt und ob es keinen Handlungsdruck für die Politik
       gäbe, wenn es beispielsweise „nur“ 200 Millionen wären.
       
       ## Kein Dementi vom Branchenverband
       
       Peter Clausing, Co-Autor der Studie, findet zudem den Zeitpunkt
       „merkwürdig“: Die Zeitschrift zog den Artikel vier Jahre nach Erscheinen
       ausgerechnet dann zurück, als ein Bundestagsausschuss eine Expertenanhörung
       zu einem Exportverbot für Pestizide vorbereitete, die in der EU wegen
       Gesundheitsrisiken untersagt sind. [5][In Unterlagen für die Anhörung]
       wurde auch die Studie zitiert.
       
       Natalie Pafitis, Chefredakteurin von BMC Public Health, wollte in einer
       Stellungnahme für die taz „aus Gründen der Vertraulichkeit“ nicht näher auf
       die Vorwürfe der Autoren eingehen. Zur Frage, ob ein Kontakt zur Redaktion
       Anlass für die Zurückziehung nach so langer Zeit war, und wer das war,
       antwortete die Zeitschrift: „Es gibt eine Reihe von Gründen, warum diese
       Prozesse gelegentlich länger als erwartet dauern können.“
       
       Ein Bayer-Sprecher teilte der taz mit, nicht der Konzern habe in der Sache
       Kontakt mit BMC Public Health gehabt, sondern CropLife. Der Verband aber
       ließ bis Redaktionsschluss die Frage der taz unbeantwortet, ob es außer dem
       Brief weitere Kontakte zwischen CropLife und der Redaktion bezüglich der
       Studie gegeben hatte. Sowohl das Fachmagazin als auch CropLife dementierten
       diese Vermutung also nicht.
       
       Misstrauen nährt auch die Tatsache, dass die Zeitschrift den Brief des
       anonymen Lesers nicht veröffentlicht hat, auf den sich die Redaktion
       beruft. Das Schreiben [6][der Chemiebranchen-Mitarbeiter] dagegen und die
       [7][Antwort der Autoren] darauf wurden publiziert. Ersteres streift die
       mutmaßliche Mehrfachzählung von Vergiftungen allerdings nur am Rande –
       nämlich in nur einem Satz.
       
       29 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-024-20318-x
   DIR [2] https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-09939-0
   DIR [3] https://publicationethics.org/retraction-guidelines
   DIR [4] https://www.iva.de/newsroom/neuigkeiten/pressemitteilung/385-millionen-pestizidvergiftungen-ein-schauermaerchen-ohne
   DIR [5] https://www.focus.de/earth/analyse/pestizid-tote-bundestag-befasst-sich-mit-laengst-zurueckgezogener-studie_id_260477906.html
   DIR [6] https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-021-11940-0
   DIR [7] https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-021-11941-z
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jost Maurin
       
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