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       # taz.de -- Rechtsanwältin über Gewalt gegen Frauen: „Die Täter werden ermutigt“
       
       > Als Rechtsanwältin vertritt Christina Clemm Frauen, die Gewalt erlebt
       > haben. Sie weiß, was dagegen helfen würde.
       
   IMG Bild: Christina Clemm, Rechtsanwältin, Autorin in Berlin-Kreuzberg
       
       taz: Frau Clemm, wir haben eine Woche lang Fälle von [1][Gewalt gegen
       Frauen dokumentiert], die in Erfurt und Ludwigshafen bekannt geworden sind.
       Es sind 113, in nur 23 wurde direkt Anzeige erstattet. Warum zeigen so
       wenig Frauen Männer an? 
       
       Christina Clemm: Dafür gibt es viele Gründe. Nehmen wir
       Partnerschaftsgewalt: Viele Frauen wollen gar keine Bestrafung. Sie haben
       Angst, dass der Täter dann erst recht gewalttätig wird. Denn die Gewalt
       nach der Trennung ist oft noch drastischer als die während einer Beziehung.
       Die Frauen wollen vor allem, dass die Gewalt aufhört, also versuchen sie,
       das Problem anders zu lösen – viele versuchen abzutauchen, keinen Kontakt
       mehr zu haben. Andere Betroffene wollen trotz der Gewalt an der Beziehung
       festhalten. Sie hoffen, dass ihr Mann sich ändert, was die meisten ja
       versprechen. Besonders schwierig ist es, wenn es gemeinsame Kinder gibt
       oder die Frau finanziell abhängig von dem Mann ist. Wieder andere
       Betroffene misstrauen den Behörden, sie fürchten, dass die Polizei Ihnen
       sowieso nicht glaubt.
       
       taz: Was muss passieren, damit Gewaltbetroffene mehr Vertrauen bekommen? 
       
       Clemm: Wir brauchen spezialisierte Vernehmungsbeamt*innen, die dafür
       geschult sind, sensibel und präzise zu befragen. Außerdem müssen die
       Verfahren viel, viel schneller gehen. Oft dauert es Monate, wenn nicht
       Jahre, bis eine Staatsanwaltschaft über eine Strafanzeige wegen
       Partnerschaftsgewalt entscheidet. Das schreckt ab. Und es ermutigt die
       Täter. Bei häuslicher Gewalt passiert oft eine Tat nach der anderen. Dann
       gibt es mal eine Strafanzeige, dann wieder einen Faustschlag, dann folgt
       eine Bedrohung, dann Stalking und das hat lange keine Konsequenzen. Die
       Täter machen weiter, bis sie irgendwann empört im Gericht sitzen und sagen,
       hätte ihnen früher jemand gesagt, dass das nicht ok sei, hätten sie
       aufgehört.
       
       taz: Braucht es auch höhere Strafen?
       
       Clemm: Nein, davon halte ich nichts. Wir haben für viele Straftaten bereits
       hohe Strafrahmen, die selten ausgeschöpft werden. Es ist wichtig, Täter von
       weiteren Taten abzuhalten. Wir wissen aber, dass hohe Strafandrohungen das
       nicht leisten.
       
       taz: Wenn es um Abschreckung geht, wird immer wieder „Täterarbeit“
       gefordert. Was ist das genau? 
       
       Clemm: Sehr gut ist in diesem Bereich die [2][Bundesarbeitsgemeinschaft
       Täterarbeit]. Dort durchlaufen Täter ein gut entwickeltes und erprobtes
       Programm mit geschultem Personal. Die Täter müssen sich mit ihren Taten und
       Folgen auseinandersetzen, meist in Gruppen, weil das besser als im
       Einzelgespräch mit einem Therapeuten funktioniert. Es gibt den Effekt, dass
       Männer ihr Handeln eher reflektieren, wenn sie hören, was die anderen
       Männer erzählen. Manchmal werden in extra moderierten Gesprächen auch die
       Betroffenen miteinbezogen. Diese Form der Täterarbeit erzielt tatsächlich
       gute Erfolge.
       
       taz: Funktioniert sie eher, wenn die Männer sie freiwillig machen? 
       
       Clemm: Nach den Erfahrungen der Täterarbeit funktioniert diese über Druck,.
       Nur dann setzen sie sich wirklich mit ihren Taten auseinander. Bitter ist,
       dass vielen Stellen, die mit gewaltbereiten Männern zu tun haben, bewusst
       ist, dass Täterarbeit gut funktioniert – nur fehlt das Geld. Das erlebe ich
       auch in den Berliner Gerichten immer wieder, wenn ich Täterarbeit fordere.
       Dann sagen die Richter*innen: Ja, das wäre gut, aber da finden wir keinen
       Platz.
       
       taz : Die Zahlen von Partnerschaftsgewalt sind zuletzt gestiegen. Wie
       erklären Sie sich das: Gibt es mehr Fälle oder wird heute schneller
       angezeigt? 
       
       Clemm: Das ist schwer zu sagen, die letzte umfassende Dunkelfeldstudie zu
       dem Thema ist 20 Jahre alt. Aber ich habe in meinen Beratungen zunehmend
       mit betroffenen Frauen zu tun, die keine Anzeige erstatten. Ich gehe also
       davon aus, dass es tatsächlich mehr Fälle werden. Eine Begründung wird als
       feministisches Paradox beschrieben: Je mehr feministische Errungenschaften
       es gibt, desto mehr steigt die patriarchale Gewalt. Ich glaube dazu
       kommt,die krisenhafte Situation, in der wir leben – Klimakrise, Kriege,
       zunehmende Armut – Männer motiviert das, diejenigen zu misshandeln und
       erniedrigen, die in der Hierarchie unter ihnen stehen. Also ihre
       Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen. Und sie sehen ja, dass dieses Verhalten
       zunehmend akzeptiert wird. In den USA ist gerade ein Mann wieder zum
       Präsidenten gewählt worden, dem 34 Frauen sexuelle Übergriffe vorwerfen.
       Der globale Rechtsextremismus feiert ein tradiertes, wehrhaftes Männerbild.
       Religiöser Fanatismus, egal ob evangelikaler oder islamistischer,
       zelebriert die Unterdrückung der Frau. Es wundert mich also nicht, dass
       patriarchale Gewalt zunimmt.
       
       taz : Gleichzeitig gibt es seit 7 Jahren die #metoo-Debatte. Femizide
       werden also solche benannt und medial berichtet. Reicht das nicht als
       Gegengewicht? 
       
       Clemm: All das ist ein guter Anfang, aber es reicht nicht. 360 Frauen
       wurden im vergangenen Jahr [3][Opfer von Femiziden] in Deutschland, das ist
       eine Zahl, die ihresgleichen sucht. Dafür passiert politisch noch viel zu
       wenig.
       
       taz : Die Ampel-Regierung hatte im Koalitionsvertrag das „Jahrzehnt der
       Gleichberechtigung“ ausgerufen. Sie wollte eine stabilere Finanzierung von
       Frauenhäusern, Frauen und Kinder außerdem besser vor häuslicher Gewalt
       schützen. Jetzt ist die Regierung kaputt. Was bleibt von ihren
       Gewaltschutzvorhaben? 
       
       Clemm: Nicht viel. Wir haben immer wieder gesehen, dass die FDP gute
       Ansätze blockiert oder verschleppt hat und die Grünen und SPD sie nicht
       wirklich mit Nachdruck verfolgt haben. Das so dringend benötigte
       [4][Gewalthilfegesetz] steckt seit Monaten fest. Dahinter steht die Idee,
       dass Kommunen verpflichtet werden, Geld in Frauenhäuser, Beratungsstellen
       und Täterarbeit zu stecken. Im Moment entscheiden Kommunen selbst, ob sie
       Geld für diese Einrichtungen ausgeben. Das zu ändern ist dringend
       notwendig, auch, um die Demokratie zu stärken. Wenn Landkreise demnächst
       rechtsextreme Mehrheiten oder Regierungen haben, dann ist absehbar, dass
       sie in Zukunft keine Beratungsstellen mehr finanzieren. Oder sie
       finanzieren nur noch Beratungsstellen für Familien, dafür aber keine mehr
       für queere Menschen, für Opfer von sexualisierter Gewalt oder für Frauen,
       die eine Abtreibung wollen.
       
       taz: Wie optimistisch sind Sie, dass das Gesetz noch kommt? 
       
       Clemm: Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Aber selbst, wenn
       danach die CDU den Kanzler stellt: Die Bekämpfung geschlechtsbezogener
       Gewalt ist nicht unbedingt parteigebunden. Es gab immer wieder
       parteiübergreifende Anträge in Sachen Geschlechtergerechtigkeit. Da stimmen
       dann eher die Frauen mit den Frauen. Sorge macht mir, dass
       geschlechtsbezogene Gewalt zunehmend rassistisch konnotiert wird: Gewalt
       gegen Frauen als ein Problem von migrantischen Gruppen. Dabei ist es ja
       genau andersherum. Jeder Politikbereich hat direkte Auswirkungen auf den
       Schutz von allen Frauen, Mädchen und queeren Menschen. Wenn es nicht genug
       Wohnungen gibt, dann bleiben Frauen eher bei ihrem gewalttätigen Partner.
       Wenn der Öffentliche Nahverkehr eingeschränkt wird, haben Frauen auf dem
       Land kaum Möglichkeiten, Beratungsstellen aufzusuchen. Wenn Jugendarbeit
       nicht mehr finanziert wird, sondern nur noch von Rechten angeboten wird,
       dann verfallen Jugendliche nachweislich in konservative Geschlechterbilder.
       Wenn also der Sozialstaat abgebaut wird, dann fördert das
       geschlechtsbezogene Gewalt. Das muss eine Regierung erkennen, und darauf
       hoffe ich [5][trotz allem].
       
       24 Nov 2024
       
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