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       # taz.de -- Grünen-Parteitag in Wiesbaden: Grüne wählen neue Arbeiterführer
       
       > Die Grünen setzen im Wahlkampf auf soziale Gerechtigkeit und Harmonie.
       > Bei der Wahl des neuen Vorstands reicht es aber lediglich für ein
       > Traumergebnis.
       
   IMG Bild: Die neuen Grünen-Vorsitzenden nach ihrer Wahl: Franziska Brantner und Felix Banaszak
       
       Wiesbaden taz | Felix Banaszak stammt aus Duisburg und das ist an diesem
       Samstag sein großes Glück. „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets“, sagt der
       35-Jährige in seiner Bewerbungsrede für den Grünen-Vorsitz, und da gibt es
       auf dem Parteitag den ersten kleinen Jubel. „Die Kokerei, auf der mein
       Großvater gearbeitet hat, gibt es schon lange nicht mehr. Aber das
       Stahlwerk gibt es noch“, führt er fort. Dann erzählt er von den
       Arbeiter*innen, die seit Wochen dafür demonstrieren, dass Thyssen Krupp in
       Duisburg weiter produziert und künftig grünen Stahl herstellt.
       
       Banaszak spricht von „Tekin, Ali, Susanne, Dirk und ihre Kolleginnen und
       Kollegen vom Betriebsrat.“ Dafür gibt es wieder Jubel: Für
       Grünen-Verhältnisse hat der studierte Sozialwissenschaftler einen richtigen
       Kleine-Leute-Hintergrund.
       
       Drei Monate vor den Neuwahlen [1][haben die Grünen einen neuen Fokus
       gefunden:] Soziale Gerechtigkeit, Zukunftsängste und Alltagsprobleme fehlen
       auf dem Parteitag in Wiesbaden in kaum einer Rede. Annalena Baerbock redet
       am Freitagabend über gestiegene Dönerpreise und teure Wocheneinkäufe. Der
       designierte Kanzlerkandidat Robert Habeck spricht nach ihr von
       „Gerechtigkeit und Sozialstaat“ als einen Wahlkampfschwerpunkt. Und auch
       bei Franziska Brantner, die sich neben Banaszak um den Parteivorsitz
       bewirbt, kommt das Thema prominent vor.
       
       Einen so passenden biografischen Hintergrund wie Banaszak hat die
       Heidelbergerin zwar nicht. Immerhin hat sie aber einen kleinen Erfolg aus
       der Ampel vorzuweisen: Als Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium hat
       sie die Novelle des Postgesetzes mitverhandelt, die vorsieht, dass
       Paketboten zumindest im Regelfall nur noch Pakete unter 20 Kilo alleine
       ausstellen müssen. „Um genau diese Menschen geht es mir in der Politik.
       Genau für sie will ich Politik machen“, sagt die 45-Jährige, und erhält
       dafür ebenfalls einen kurzen Jubel.
       
       Als Duo [2][bewerben sich der Parteilinke Banaszak] und die
       Realo-Vertreterin Brantner um die Nachfolge von Ricarda Lang und Omid
       Nouripour, die nach den verlorenen Landtagswahlen des Septembers ihre
       Rücktritte angekündigt hatten. Der Fokus auf die Verteilungsgerechtigkeit
       verbindet die beiden Neuen am Samstag bei ihren Auftritten auf der
       Parteitagsbühne. Ansonsten halten sie aber zwei sehr unterschiedliche
       Reden.
       
       ## Rio Reiser und Attacke
       
       Brantner befindet sich in ihrem Beitrag bereits im Wahlkampfmodus, teilt
       ausgiebig gegen die Konkurrenz aus: Von einer „pseudo-sozialistischen
       Spitzenverdienerin wie Sahra Wagenknecht“ wolle sie sich nicht vorwerfen
       lassen, dass die Grünen eine Partei der Besserverdienenden seien. Annalena
       Baerbock dankt sie dafür, dass sie sich „den Irrungen und Wirrungen aus dem
       Kanzleramt immer so sehr entgegenstellst“. Und wenn Friedrich Merz die Wahl
       gewinnt? Dann sei klar, dass er „die Förderungen von Wärmepumpen wieder
       einstellt“ und die Leute blöd dastünden mit ihren teuren Gasheizungen.
       
       Banaszaks Rede ist dagegen in die Partei gerichtet, soll fürs Gefühlige und
       den Zusammenhalt sorgen. Mit dem Satz „Wir haben nichts zu verlieren außer
       unsere Angst“ zitiert er Rio Reiser, das grüne Publikum zieht er damit noch
       ein bisschen weiter auf seine Seite. Die Partei wolle er künftig nicht mehr
       als „ausgelagerte Pressestelle der Regierung“ verstehen, sondern als deren
       Motor. Und in der Migrationspolitik wolle er weiter „an der Seite derer
       stehen, die an ein weltoffenes Deutschland glauben“ – wenn auch natürlich
       weiterhin bei „aller Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen“.
       
       Am Ende kommt Banaszak unter den Delegierten deutlich besser an als seine
       künftige Co-Vorsitzende: Mit 92 Prozent erzielt er bei der anschließenden
       Abstimmung ein gutes Ergebnis. Brantner erhält mittelmäßige 78 Prozent.
       Möglicherweise diente die Abstimmung für viele der Anwesenden auch als
       Ventil für ihre Unzufriedenheit, die an irgendeiner Stelle doch rausmusste.
       
       ## Harmonie trotz Unbehagen
       
       Grundsätzlich ist in Wiesbaden auf der einen Seite zwar viel Wille zur
       Harmonie zu spüren. In drei Monaten ist Bundestagswahlkampf, auf offener
       Bühne will man sich da nicht streiten. Robert Habeck abzustrafen, über
       dessen Kanzlerkandidatur am Sonntag abgestimmt wird, wäre misslich.
       
       Auch in inhaltlichen Fragen, [3][wo man teils weit auseinander ist], gab es
       in Verhandlungen hinter den Kulissen viele Einigungen. Eine Kampfabstimmung
       vermieden haben die Grünen zum Beispiel beim Thema Vermögenssteuer, die
       viele Parteilinke fordern, etliche Realos wie Brantner aber vermeiden
       wollen. In einem Formelkompromiss wird die Steuer jetzt zwar genannt, aber
       nur als eine Option unter vielen.
       
       Aber bei all der demonstrativen Einigkeit: Vor allem an der Basis ist
       weiterhin auch Unmut zu spüren über all die Verrenkungen, die die Grünen in
       drei Jahren Ampel hingelegt haben. Sie schlägt sich nicht nur im
       durchwachsenen Ergebnis von Brantner nieder, sondern zuvor auch schon in
       Gegenkandidaturen zum Personaltableau des Partei-Establishments. Fünf Stück
       gibt es insgesamt.
       
       Susanne Bauer aus Oberfranken etwa kandidiert gegen Brantner. Als
       Vorsitzende wolle sie rote Linien ziehen, „die wirklich nicht überschritten
       werden“. Das sei für sie ganz klar da, wo es um grüne Werte geht:
       „Menschenrechte stehen nicht zur Disposition und die Natur verhandelt
       nicht.“
       
       Auch für Matthias Ilka, der gegen Banaszak antritt, ist die Partei zu
       kompromissbereit und selbstgewiss. „Es fehlt mir ein bisschen das
       Selbstkritische. Uns nur zu feiern, ist zu wenig“, sagt er. Und weiter:
       „Robert stellt sich wieder als Kanzler auf, obwohl er mit dem Scheitern der
       Ampel verbunden ist.“ Da gibt es sogar ein bisschen Applaus.
       
       ## Tränenreicher Abschied
       
       Für mehr reicht es freilich nicht. Um das Personaltableau hatte das
       Partei-Establishment im Vorfeld in vielen Runden gerungen – und am Ergebnis
       wird nicht ernsthaft gerüttelt. Neben Banaszak und Brantner sitzt künftig
       Pegah Edalatian als Politische Geschäftsführerin im Vorstand. Bei der Wahl
       erhält sie wie Sven Giegold als Parteivize 81 Prozent der Stimmen. Damit
       schnitten die beiden Parteilinken knapp besser ab als die Realos Heiko
       Knopf als Vize (77 Prozent) und Manuela Rottmann als Schatzmeisterin (78
       Prozent).
       
       Vor den Wahlen waren die alten Vorsitzenden wort- und zum Teil auch
       tränenreich verabschiedet worden. Die Laudatio auf Omid Nouripour hielt
       bereits am Freitagabend Wolfgang Ischinger, der ehemaligen Leiter der
       Münchener Sicherheitskonferenz. Ischinger, der Nouripour als Außenpolitiker
       schon lange kennt, bescheinigte den Grünen, in diesem Themenfeld einen
       längeren Weg gegangen zu sein als jede andere Partei: „Chapeau, Hochachtung
       vor dieser Partei!“
       
       Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer würdigte Ricarda Lang, die sie als
       Freundin bezeichnete, nicht nur politisch. Beide erlebten sie seit Jahren,
       dass man als junge Frau mit politischen und gesellschaftsverändernden
       Ambitionen eigentlich nur alles falsch machen könne. Sie lobte mit Blick
       auf Lang die „gelebte Rollenverteilung“ zwischen der Klimabewegung und den
       Grünen und empfahl der Partei einen „echten Klimawahlkampf“. Und: „Mehr
       Ricarda wagen, dann kann es was werden.“
       
       Lang selbst verabschiedete sich mit einer sehr klaren Rede. „Wir erleben
       eine tiefe Krise des demokratischen Systems“, sagte sie und betonte, es
       reiche nicht, gegen Rechtsextremismus zu sein. Notwendig sei, das Leben von
       Menschen zu verbessern. Und: „Wer die liberale Demokratie schützen will,
       muss die Menschen im Land wie Erwachsene behandeln und Antworten geben, die
       so groß sind wie die Probleme.“
       
       Sie forderte mehr Klartext von ihrer Partei. Es sei falsch, nach
       Misserfolgen zu sagen, man müsse seine Politik nur überzeugender verkaufen.
       Und: „Wir sind nicht die Staubsaugervertreter der Demokratie. Wir müssen
       Politik nicht nur besser erklären, wir müssen bessere Politik machen.“
       
       16 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
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