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       # taz.de -- Alltag in Gaza: Momente des Friedens zwischen den Angriffen
       
       > Das Nachbarhaus unserer Autorin wird getroffen, nur drei der Kinder
       > überleben. Gemeinsam versuchen sie die Trauer zu bewältigen.
       
   IMG Bild: Rauch über Gaza: Auch der Autorin und ihrer Familie hat der Krieg vieles genommen
       
       Über ein Jahr ist dieser unvergessliche Tag nun her – und doch kommt es mir
       vor, als wäre es gestern gewesen. Damals traf eine Rakete unser Nachbarhaus
       und forderte das Leben des Nachbarn, seiner Frau und eines ihrer Kinder.
       Drei Geschwister überlebten – Kinder, die zuvor oft zu uns nach Hause
       gekommen waren, um mit den Kindern in unserem Haus zu spielen.
       
       Als sie aus dem Krankenhaus zurückkehrten, besuchte ich sie. Wir saßen
       zusammen und fanden in der Gesellschaft des anderen ein wenig Trost. Das
       älteste Mädchen, noch keine zehn Jahre alt, sprach zuerst: „Wenn wir diesen
       Krieg überleben und das Leben wieder zur Normalität zurückkehrt“, sagte
       sie, „dann erst werde ich das Gefühl haben, meine Mutter wirklich verloren
       zu haben.“ Ihre jüngere Schwester, sieben Jahre alt, fragte: „Glaubst du,
       wenn Papa überlebt hätte, hätte er den Verlust von Mama verkraften können?“
       Ihre Augen ähneln denen ihrer Mutter, nach der sie sich sehnte.
       
       Der Bruder der beiden versuchte sich unterdessen abzulenken, indem er mich
       zu einem Kartenspiel herausforderte – mit einem Kartensatz, den er aus
       ihrem brennenden Haus gerettet hatte. Ein Schatz seines Vaters. Während er
       die Karten mischte, flüsterte er: „Papa hat gesehen, wie Mama ihren letzten
       Atemzug tat. Er versuchte, ihr zu helfen, aber als sie aufgehört hatte zu
       atmen, hörte auch er auf. Mein Vater sah, wie meine Mutter ging, und folgte
       ihr dann auch. Das war’s. Das ist alles.“ Er blickte auf, die Tränen
       rollten ihm über die Wangen. „Dieses Spiel ist alles, was mir von ihm
       geblieben ist. Ich werde es nicht verlieren.“
       
       Der [1][Kummer der Kinder] war zu schwer, als dass sie ihn allein hätten
       ertragen können. Also schlug ich vor, dass wir zum Haus meines Onkels gehen
       und dort spielen. Wir verließen das kleine Haus, in dem sie jetzt bei ihrer
       Großmutter lebten – einer Frau, die bereits zwei Söhne begraben hatte. Ich
       brachte die Kinder in unser vorübergehendes Zuhause. [2][Es ist nicht unser
       Haus, wir waren dorthin geflohen, nachdem unser eigenes Haus zu einem
       militärischen Außenposten geworden war.]
       
       ## Meine dreijährige Nichte wurde getötet
       
       Dort angekommen, spielten die Kinder mit den Spielsachen meines Neffen und
       für einen Moment tönte ihr Lachen durch die Stille. Doch dann hallten
       Explosionen durch die Luft. Wir hielten inne, schwiegen und lauschten – und
       versuchten uns an die kurzen Momente des Friedens zu klammern. Eines der
       Mädchen sagte: „Wir haben gebetet, wir haben den Koran rezitiert. Aber der
       Krieg ist noch nicht vorbei. Was können wir noch tun?“
       
       Ich erinnerte mich an meine dreijährige Nichte, die einem plötzlichen
       Luftangriff zum Opfer gefallen war. Ihr hübsches Gesicht war unter den
       Trümmern begraben worden. Ich schluckte meine Trauer hinunter und erzählte
       den Kindern, wie süß meine Nichte gewesen war. Als ich sie zum letzten Mal
       sah, verabschiedeten wir uns – ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein
       würde, dass wir uns sehen. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie sie
       bei uns war – ein kleiner Engel, der über uns wachte.
       
       Die Explosionen draußen wurden immer unerbittlicher. Und erinnerten uns
       wieder einmal daran, dass der Frieden noch in weiter Ferne liegt.
       
       Diese Tragödien ereignen sich weiterhin, jede mit ihrer eigenen Geschichte.
       Ich erlebe sie nicht mehr aus erster Hand, [3][denn ich bin vom Norden des
       Gazastreifens in den Süden gezogen.] Doch nun bin ich Zeugin einer ganz
       anderen Welt: ein Leben in Vertreibung, Zelten und unsäglicher Not.
       
       Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englisch studiert
       und schreibt seit acht Jahren Gedichte. Noch ist ihr Erstlingswerk
       unveröffentlicht.
       
       Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges
       nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im
       [4][„Gaza-Tagebuch“] holen wir Stimmen von vor Ort ein.
       
       18 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/gazastreifen-kinder-hilfe-friedensdorf-aegypten-100.html
   DIR [2] /Palaestinenserinnen-auf-der-Flucht/!6049211
   DIR [3] /Alltag-in-Gaza/!6045198
   DIR [4] /Kolumne-Gaza-Tagebuch/!t5999816
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sawsan Al-Ajouri
       
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