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       # taz.de -- Wiedersehen mit einer veränderten USA: Breakdowns und Tränen
       
       > Rückkehr nach 48 Jahren: Eine alte Schulfreundin unseres Autors lässt
       > „Hamlet“ an einer Universität in Texas spielen und zeigt, was man von den
       > „liberal arts“ lernen kann.
       
   IMG Bild: Zwischen Kunst und Leben: Das junge Ensemble macht sich warm für den kompletten „Hamlet“
       
       Als die USA ihren 200. Geburtstag feierten, war ich ein Schüler mit langen,
       blonden Haaren im Herzen des Landes: Ölpumpen, Schulbusse, verblichene
       Cowboylegenden. Es war keine schlechte Zeit für Amerika. Es gab noch
       keinen Flickenteppich fest gebuchter reaktionärer Staaten zwischen den
       Küsten. Der Vietnamkrieg war endlich vorbei, niemand benutzte das Wort
       „verloren“, und der Oberste Gerichtshof hatte landesweit die Todesstrafe
       verboten.
       
       Ich mühte mich an der Sprache ab, um sie zu beherrschen, bis sie mich
       schließlich verschluckte. Es gab nur wenige Menschen, die mich verstanden,
       ein irgendwie linker Deutscher, der „Amerika liebte“ und nicht mehr
       vorankam. Die Jahresuhr tickte. Im Frühjahr 1976 fragte meine
       Schulkameradin Stacey Jones: Warum gehst du nicht für den Rest der Zeit in
       die drama class?
       
       Jetzt, 48 Jahre später, hat Stacey ein ganzes Arbeitsleben hinter sich, in
       der Theaterfakultät einer großen Universität in San Antonio, mitten in
       Texas. Fünfzig Stücke hat sie inszeniert, die nicht nur von den
       Studierenden gespielt, sondern auch komplett ausgestattet und gemanagt
       wurden, und ihr letztes Stück ist William Shakespeares „Hamlet“, das sie im
       Original spielen lässt, mehr als dreieinhalb Stunden mit Pause. Es gibt
       noch nicht einmal einen Souffleur.
       
       Dieser Zweig der Pädagogik nennt sich liberal arts. Was das Theater
       betrifft, werden profunde Bildung in Geschichte und Theorie verbunden mit
       der Arbeit am Text, also der Einübung von Stücken, die nicht einmal zur
       Aufführung kommen sollen. „Hamlet“ aber ist eine Produktion für die große
       Bühne der Fakultät. Drei Tage nach der Präsidentschaftswahl war Premiere
       und heute, am Samstag, wird das letzte Mal gespielt. Einige Profis aus Los
       Angeles sind dabei, um Staceys „Hamlet“ zu sehen, nicht ihretwegen, sondern
       um der Studierenden willen und deren Zukunft.
       
       ## Keine Gefühle mehr für dieses Land
       
       Mein Airbusflugzeug war von Norden her eingeflogen, über Island und Kanada,
       und als ich da unten Wisconsin sah mit seinen Feldern, die aussehen wie
       Spielkarten, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich für dieses Land keine
       Gefühle mehr habe. Bei der Landung in Denver rufen alle „Welcome!“, die
       Einreise dauert fünf und der Zoll zwei Sekunden, ein offensichtlicher Akt
       von Kompensation.
       
       Am nächsten Tag, in San Antonio, bin ich auf der Suche nach einer passenden
       SIM-Karte für mein Handy bei Walmart aufgelaufen, einem monströsen
       Konsumbunker an der Peripherie der Millionenstadt, wo Leute beschäftigt
       werden, die vor Übergewicht kaum noch gehen können, und ein Grüßaugust an
       einem der vier Eingänge ist ganz offensichtlich dement. In der
       Elektronikabteilung verwickelt mich ein schmaler, junger Mann mit
       Grunge-Look in die Frage, ob er nach zwei Semestern Deutsch nicht doch
       lieber Dänisch lernen sollte. Er lese so gern Kierkegaard.
       
       Das Theater der Fakultät heißt, wie so viele Orte in Amerika, nach der
       Spenderfamilie, in diesem Fall „Stieren Hall“. Zu stieren gibt es eine
       Menge in dieser Inszenierung in postmoderner Helsingör-Burgkulisse mit
       höchst eklektischen Kostümen. Der mörderische König auf Kriegstrip ist
       Wilhelm II. nachempfunden, schwer überdekoriert.
       
       Die Hamlet-Spione Rosenkranz und Güldenstern formen ein Comedy-Duo als
       Bohnenstange vs. Untersetzling. Vor allem aber stellt das Ensemble,
       ethnisch gesehen, einen globalen Regenbogen dar. Ohne dies abzubilden auf
       den Rollen – diese sind nach Erfolg beim Vorsprechen besetzt –, wird die
       gesamte Neuzeit aufgerufen, die Stämme, Nationen und Kolonien.
       
       ## Hierarchien veralbern
       
       Hamlet nun aber. Schmal, beweglich, in Schwarz, mit Pferdeschwanz, befreit
       er sich aus der doppelten Gefangenschaft, der des Schicksals und der des
       Hofes, indem er, zunächst vorsichtig, dann mit allen Mitteln der Satire –
       des „satirischen Schufts“, heißt es irgendwo im Text – ausschert:
       Hierarchien veralbert, Verstellung offenlegt, und überhaupt die hohe
       Sprache des Globe Theatre mit noch „höheren“ Varianten vorführt. Von einem
       irre werdenden Prinzen kann gar keine Rede sein.
       
       An der Stelle, wo er von den Krebsen spricht, die „rückwärts gehen“, gibt
       er auf der Bühne auf allen Vieren mit dem Bauch nach oben, für nur wenige
       Sekunden und analog zum Text, ein akrobatisches Beispiel.
       
       Die hohen Wangenknochen, das Funkeln der Augen, die mühelose Anverwandlung
       der Shakespeare’schen Verse durch einen ironisch zuckenden Mund: Das ist
       Anna Kate Vaughan, eine Studentin im Fach Marketing. Sie wird im Dezember
       21, Theaterklasse nur nebenbei. Spitzenklasse ihr Spiel, Vaudeville ist da
       drin, Berlin zwanziger Jahre, schwebend, tänzelnd, der Punk als Galant bis
       zum Schluss – wenn der haarsträubende Klamauk ernst wird.
       
       Das Foyer zwischen dem Musiksaal und der Kunstgalerie ist hergerichtet für
       ein Abendessen um fünf Uhr nachmittags. Erst einmal gibt es Cocktails aus
       einem Zapfhahn, der im Beiwagen einer Oldtimer-Vespa installiert ist, das
       Ganze frisch lackiert. Stacey Jones heißt schon lange Dr. Connelly, und sie
       spricht zu drei Dutzend längst erwachsenen Menschen, die durch ihre
       Namensschilder als „Board of Visitors“ ausgewiesen sind. Sie waren alle
       irgendwann Teil dieses Unitheaters.
       
       Stacey Connelly legt ihre Quellen offen, was die Geschichte von
       Hamlet-Inszenierungen betrifft, Bühne und Film, mit Bildbeispielen, die sie
       am Bildschirm anklickt. Der Bildschirm wird getragen von einer fahrbaren
       und schwenkbaren Stahlarchitektur, die kaum weniger als 3.000 Euro gekostet
       haben kann. Sie beginnt die Sache direkt, indem sie ausführt, dass Dänemark
       ein hochgerüsteter, kriegslüsterner Staat war – „das wollen wir zeigen in
       einer Zeit, in der sich autokratische Regime ausbreiten in der Welt“. Wer
       Ohren hat zu hören …
       
       ## Wem träufelt Trump Gift ins Ohr?
       
       Es ist etwas faul im Staate. Desinformation, Leugnung, Drohung,
       Verdrängung, Gängelung. Bürger gerüstet, als ginge es gleich in den Krieg,
       SUVs und Pick-up-Trucks mit bösartig röhrenden Motoren, mit Reifen, die auf
       dem Asphalt klingen wie der Lärm von tausend Peitschen. Waffen,
       automatische Waffen, gehortet für den Tag X, wenn der Staat kommt, um sie
       zu kassieren: Das wird dann das Ende des Staates sein, Waco überall.
       
       Deshalb preist Trump die Fast-Killer als Boten seiner göttlichen Sendung.
       Ein Pornogespenst als Antichrist. Wem träufelt er Gift ins Ohr? Den
       Gründervätern, dem Fortschritt, der Gleichheit; einfach jedem, der den
       Traum der Vernunft schläft. Verraten sind die Kinder, an deren Schulen
       Gemetzel angerichtet werden, und damit all die anderen auch. An ihnen wird
       nur ausprobiert, was kommen soll.
       
       David, früher Schauspieler in Chicago, und Stacey, Historikerin des
       Theaters (bewandert in Brecht, Piscator, Frank Castorf, Jelinek) sind
       entschiedene Anhänger einer liberal arts education, Inseln der Reflexion
       und Integration in Texas, einem Bundesland, das sie ohne zu zögern
       „faschistisch“ nennen.
       
       David hat in einer auf das Musische spezialisierten Highschool Generationen
       von Schülerinnen und Schülern unterrichtet, begleitet und betreut, genau
       das, was Stacey an der Uni macht. Es hat viele gegeben und gibt sie jetzt
       noch, die von den Rändern her kommen, plötzlich getrennte Eltern,
       Familienmitglieder mit psychischen Problemen, verschlepptes Coming-out,
       nicht genug Geld für das Studium, zeitraubende Jobs in Restaurants und
       Supermärkten. Breakdowns und Tränen im Dienstzimmer.
       
       ## Theater als éducation sentimentale
       
       Was tun? Trost spenden und Alternativen aufzeigen. Das Rollenspiel des
       Theaters als éducation sentimentale; das Ensemble als verschworene
       Gemeinschaft; eine hochdiverse Minigesellschaft als Gegenmodell. Die
       Einlösung des puritanischen Versprechens im Kleinen, dass man es schaffen
       kann, wenn man nur will.
       
       Aber eben nicht, weil es einem auf dem Silbertablett serviert wurde. Stacey
       Connelly: „Die vielen jungen denkfaulen weißen Männer, die steckengeblieben
       sind, weil sie dachten, die guten Positionen stünden ihnen zu. Weshalb sie
       sich in Donald Trump wiedererkennen, der genau so einer ist –
       Lumpenproletariat.“
       
       Auf einer Backstagebegehung eine dreiviertel Stunde vor Showbeginn entdecke
       ich zufällig das gesamte Ensemble auf einer Probebühne, 29 Studierende
       schon in Kostüm, teils noch ohne Maske oder Perücke.
       
       Sie stehen im Kreis, sie rufen hochmerkwürdige Verse im Rhythmus von
       Call-and-Response, das mal nach baptistischer Kirche klingt, dann nach
       Kinderversen, und Anna Kate Vaughan, als Derwisch durch die Mitte tanzend,
       leitet die letzte Runde ein, mit dem verbotenen Erwachsenenfluch: Fuck! Das
       nennt sich Warm-up, und es gehört zu den ergreifendsten Szenen, die ich
       jemals gehört und gesehen habe, eine aus dem Moment geborene Universalität,
       flammend auf der Schwelle von Kunst und Leben.
       
       Jemand hat der Theaterfakultät 80.000 Dollar gespendet. Nirgendwo, ließ er
       wissen, habe er so viel für seinen Beruf gelernt wie an diesem Haus der
       Trinity University. Er verteidigt Menschen als Rechtsanwalt vor Gericht, in
       Houston.
       
       19 Nov 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulf Erdmann Ziegler
       
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