URI: 
       # taz.de -- Debütroman von Jayrôme C. Robinet: Bis die ersten Steine fliegen
       
       > Mehr als nur ein Leihvater: Welchem Hass ein schwangerer trans Mann
       > begegnet, davon erzählt Jayrôme C. Robinet in seinem Roman „Sonne in
       > Scherben“.
       
   IMG Bild: Ließ sich für seinen Roman von wahren Begebenheiten inspirieren: Autor Jayrôme C. Robinet
       
       Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ – dieses Zitat hat
       [1][Jayrôme C. Robinet] seinem ersten Roman „Sonne in Scherben“ als Motto
       vorangestellt. Es handelt sich dabei um den Untertitel von Heinrich Bölls
       „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, in dem eine junge Frau durch die
       Hetze einer Boulevardzeitung in die Verzweiflung getrieben wird, bis sie
       schließlich einen Mord begeht.
       
       Ähnlich schonungslos von der Presse verfolgt werden Angèle und Enzo, die
       Protagonist*innen in Robinets Roman. Die beiden leben in einer
       französischen Kleinstadt, sind glücklich verheiratet und wünschen sich ein
       Kind.
       
       Weil Angèle unfruchtbar ist, entscheiden sie sich dafür, dass Enzo
       schwanger werden soll – denn er ist ein trans Mann, der seinen Uterus noch
       hat. Eine Gynäkologin zu finden, die das Paar behandelt, gestaltet sich als
       schwierig, sodass sie die Befruchtung selbst organisieren müssen.
       
       Einen Auszug aus dem Roman las Robinet [2][2023 beim Bachmann-Preis.] Davor
       erschien 2019 bei Hanser Berlin der Essay „Mein Weg von einer weißen Frau
       zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ und 2015 bei w_orten & meer
       die Textsammlung „Das Licht ist weder gerecht noch ungerecht“.
       
       ## Hetze in der Boulevardpresse
       
       Für Enzo und Angèle scheint endlich alles gut zu laufen, bis sich die
       Nachricht über Enzos Schwangerschaft in der Presse verbreitet. Absurde
       Schlagzeilen wie „Kommt sein Baby mit einem Vollbart zur Welt?“ tauchen
       fast täglich in der fiktiven Klatschzeitschrift Revue auf. Gegen die
       Zeitung zu klagen ist laut einem Anwalt aussichtslos, weil die
       Schwangerschaft eines Mannes vermutlich als Sache von öffentlichem
       Interesse gewertet würde. Stattdessen rät der Anwalt ihnen, ihre eigene
       Version der Geschichte zu verbreiten.
       
       Also berichtet Enzo in einem Artikel über seine Schwangerschaft, die nicht
       dazu führe, dass er seine Männlichkeit in Frage stellt: Er sehe sich
       technisch gesehen als „Leihvater“. Trotz der positiven Gegendarstellung
       nimmt der Druck durch die Medien und die Öffentlichkeit immer bedrohlichere
       Formen an, wie zum Beispiel die eines Pflastersteins mit der Aufschrift
       „Monster“, mit dem das Fenster ihres Wohnhauses eingeschlagen wird.
       
       Die Hetze wirkt sich zunehmend auf die Beziehung der beiden aus und treibt
       insbesondere Angèle an den Rande des Wahnsinns – und zu einer verheerenden
       Tat, als das Baby kurz nach der Geburt stirbt.
       
       Das Buch ist inspiriert von der Geschichte des Amerikaners Thomas Beatie,
       der 2008 als erster schwangerer Mann weltweit Schlagzeilen machte. Nachdem
       Robinet damals von diesem Fall hörte, sei ihm die Idee für den Roman
       gekommen, wie er beim queeren Literaturfestival „Coming Out, Inviting In“
       im Literarischen Colloquium Berlin berichtete.
       
       Er wollte ihn aber erst veröffentlichen, sobald es genug positive queere
       Geschichten als Gegengewicht gäbe. Das ist inzwischen der Fall: Zum
       Beispiel erzählt Torrey Peters im Roman „Detransition, Baby“ von einer
       queeren Dreiecks-Elternschaft.
       
       ## Widersprüchliche Charaktere
       
       Robinet stellt die queere Community in seinem Roman nicht als heile Welt
       dar. Vielmehr sind die Charaktere widersprüchlich und verhalten sich nicht
       immer moralisch einwandfrei: Enzos Freundin Jessie zum Beispiel, eine trans
       Frau, die das Paar nach einer Samenspende gefragt hatte, was sie ablehnte,
       verrät intime Details über die Insemination in einem Youtube-Video.
       
       Der Roman ist aus wechselnden Perspektiven geschrieben, meist aus Enzos
       oder Angèles, aber auch Enzos Mutter oder außenstehende Personen kommen zu
       Wort. So erinnert das Buch zuweilen an die Gerichtsvernehmung zu einem Fall
       – noch bevor ein Gericht tatsächlich zum Schauplatz wird.
       
       Neben den Tragödien gibt es immer wieder auch unterhaltsame Situationen,
       wie etwa Angèles ersten Besuch einer queeren Party, auf der sie die Frage
       „Bist du Femme?“ als Frage nach ihrem „Fame“ missversteht.
       
       Enzos Transidentität an sich steht nicht im Mittelpunkt der Erzählung,
       sondern wird als selbstverständlich gezeigt. Die Beschreibung seines
       [3][Coming-outs] beschränkt sich auf zwei Sätze: „Enzo hatte schon immer
       gern Verantwortung übernommen. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte er
       beschlossen, mit sich selbst ins Reine zu kommen und eine Transition zu
       beginnen.“
       
       ## Progressiver als die Realität
       
       Auch wenn das Buch keinen Bildungsauftrag verfolgt, erfährt man beim Lesen
       einiges über die Absurditäten des Rechtssystems, wenn es um den Zugang zu
       künstlicher Befruchtung für trans Personen geht. Vieles ist Geschichte,
       auch wenn die Gesetzgebung im Roman etwas progressiver als in der Realität
       dargestellt wird: So werden trans Personen in Frankreich seit 2016 nicht
       mehr zur Sterilisation gezwungen, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern
       wollen.
       
       Im Roman wird diese Gesetzesänderung allerdings auf 2002 verschoben, damit
       Enzo in der Zeit, zu der der Roman spielt, rechtlich als Mann anerkannt
       wird und trotzdem ein Kind austragen kann. In Deutschland wurden der Zwang
       zur Sterilisation und geschlechtsangleichenden OP für die Änderung des
       Geschlechtseintrags 2011 abgeschafft.
       
       Der Roman endet mit einem moralischen Dilemma und überlässt es den
       Leser*innen, es für sich zu lösen. Mit viel Empathie für seine Figuren und
       ohne die Leser*innen zu bevormunden, erzählt Robinet eine berührende
       Familiengeschichte, einen rasanten Kriminalroman und ein Psychogramm einer
       Familie, die dem gesellschaftlichen Druck kaum standhält. Dank der
       humorvollen Sprache bleibt die Geschichte trotz der emotionalen Zumutungen
       unterhaltsam.
       
       3 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Selbstbestimmungsgesetz/!5965211
   DIR [2] /Bachmann-Preis-2023/!5941716
   DIR [3] /TransPersonen-in-der-Schule/!5728383
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Emma Rotermund
       
       ## TAGS
       
   DIR Gewalt
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Trans
   DIR Familienplanung
   DIR US-Literatur
   DIR Debütroman
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Literatur
   DIR Französische Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Neues Buch von US-Autorin Torrey Peters: Ein Busch unter Holzpiraten und Axtmännern
       
       „Stag Dance“ versammelt vielschichtige und berührende Kurzgeschichten der
       Autorin Torrey Peters. Sie enträtselt darin ihr Leben als trans* Mensch.
       
   DIR Roman „Muskeln aus Plastik“: Hot und behindert
       
       Chronisch erschöpft sein und trotzdem horny. Selma Kay Matter verhandelt im
       Roman „Muskeln aus Plastik“ Transness, Non-Binarität und Post-Covid.
       
   DIR Neuer Roman von Hengameh Yaghoobifarah: Böller durch die Magengrube
       
       In luftiger Höhe: Hengameh Yaghoobifarah nimmt in „Schwindel“ auf höchst
       unterhaltsame Weise eine queere Dreiecksbeziehung in den Blick.
       
   DIR Autor Evan Tepest über queere Signale: „Wonach wir greifen, entzieht sich“
       
       Im Debütroman von Evan Tepest hadert eine queere Autor:in mit ihrer
       Mutter. Mit essayistischen Passagen wird der Raum der Reflektion
       ausgeweitet.
       
   DIR Roman über lesbische Selbstfindung: Bruch mit jeglicher Bürgerlichkeit
       
       Die lesbische Frau tritt auf als einsamer Cowboy. „Love Me Tender“ von
       Constance Debré ist ein beeindruckend kämpferisches Stück
       Selbstfindungsprosa.