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       # taz.de -- Russlands Krieg in der Ukraine: Zwischen Stille und Knall
       
       > Mykolajiwka ist eine kleine Stadt im Osten der Ukraine. Wie funktioniert
       > das Leben kurz vor der Front? Wieso sind die, die noch hier sind,
       > geblieben?
       
   IMG Bild: Olha Horodynska pachtet ihren Garten seit 26 Jahren von der Gartengemeinschaft „Kleine Birke Nr. 9“. Sie ist hier fast jeden Tag
       
       Olha Horodynska hört das Summen über sich, leise nur. Sie schaut nach oben,
       sucht den Himmel ab, der Mitte November noch immer klar und hell ist. Sie
       sieht den schwebenden Punkt über einem Haus. Der Punkt fliegt weg.
       
       „Das war eine Kamikaze-Drohne“, sagt sie am Telefon zu ihrer Tochter
       Viktoriia. Eine davon ist neulich beim Kraftwerk explodiert, ein Feuerball
       auf dem Beton, eine andere haben Soldaten abgeschossen, mitten in der
       Stadt. „Die Drohnen sind neu“, sagt Olha Horodynska am Telefon, das Summen
       ist ein neues Geräusch, eine neue Gefahr.
       
       Das Deuten der Töne, das Interpretieren von Wummern, Zischen, Knallen und
       nun eben auch Summen – in Mykolajiwka ist das so, als würden die Menschen
       übers Wetter reden. Sie horchen beim Einkaufen kurz auf oder wenn sie neben
       ihren Kindern am Klettergerüst stehen und sagen: Das ging raus. Oder: Das
       kam rein. Je nachdem, ob die ukrainische Armee auf die aus Russland
       geschossen hat oder umgekehrt.
       
       Ohne die Klänge des Krieges ist es still. Zwischen den Häusern hallt ein
       mittleres Gewitter, wenn man nur mit der Schuhsohle über den Asphalt
       kratzt. Gehen die Menschen, nehmen sie ihre Gespräche mit, das Klappern des
       Geschirrs beim Abwasch, die Echos ihrer Schritte.
       
       4.676 Ukrainer:innen leben noch in Mykolajiwka. 14.210 waren es einmal,
       2022, [1][vor Russlands Großangriff.] Die Zahlen der Stadtverwaltung
       stimmen vielleicht nicht ganz, aber eines stimmt gewiss: Mykolajiwka in der
       Ostukraine, Mykolajiwka, wo viele unter den sieben riesigen Schornsteinen
       eines Kraftwerks arbeiten, Mykolajiwka, die Stadt zwanzig Kilometer vor der
       Front, ist leer. Die Bewohner:innen sind geflohen vor Russlands
       Raketen, Drohnen, Streubomben. Vor der dumpfen Wucht der Artillerie.
       
       Mykolajiwka im Sommer 2024, es ist der vorletzte Sonnabend im August, der
       ukrainische Unabhängigkeitstag. Heute hat es bereits drei Mal geknallt.
       
       15.12 Uhr
       
       15.19 Uhr
       
       15.27 Uhr
       
       Zwei Stunden ist das her. Wir laufen zum Hund. Olha Horodynska, ihre
       Tochter Viktoriia und ich. Von Olha Horodynskas Wohnung in der ersten Etage
       eines Blocks geht es vorbei an einem Haus mit Holzplatten in den Fenstern
       und Löchern in den Mauern. Die Schule Nummer 3. Viktoriia hat hier gelernt
       – Lesen, Bruchrechnung, Ukrainisch. Vor sechs Jahren zog sie nach Kyjiw. An
       diesem Tag Ende August ist sie mit mir zurückgekehrt. Wir fragen die
       Menschen in Mykolajiwka, wie sie leben, so nahe der Front. Warum sie noch
       hier sind.
       
       Die Straße des Friedens. Mit ihren vier Spuren könnte sie durch eine
       Großstadt führen. Auf der anderen Seite liegen Gärten und darin einstöckige
       Häuser. Viele wurden, wie Olha Horodynskas Wohnblock und die Schule Nummer
       3, in der Sowjetunion aus weißgrauen Steinen gemauert. In einem der Gärten,
       unter dem Vordach eines Schuppens, wohnt Archer, der Hund. Grau-blond ist
       er und blind. Oder vielleicht sieht er noch Schatten, das weiß außer ihm
       keiner. Archer gehört Olha Horodynska nicht. Er gehört gerade niemandem,
       seine Besitzerin ist weit weg im Westen. „Sie liebt den Hund“, sagt Olha
       Horodynska. „Aber ihren Mann liebt sie noch mehr, und der hat Krebs und ist
       deshalb in Deutschland.“
       
       Olha Horodynska hat heute Morgen ein Huhn für Archer gekocht und das
       Fleisch mit Brot vermengt. Der Hund frisst, sie gibt den Tomaten Wasser,
       sie hält die Gießkanne wie eine Handtasche, am nach unten abgewinkelten
       Handgelenk, zwei Finger am Henkel. Es faucht am Himmel. Viktoriia und ich
       schauen mit Archer nach oben, blinde Hunde wie er. Zivilen Luftverkehr gibt
       es in der Ukraine nicht mehr. Ist es eine Rakete? Fliegt sie auf uns zu?
       
       „Das ist eine F-16, eine von unseren“, sagt Olha Horodynska und setzt sich
       auf die Bank neben Archers Schuppen. „Das hört man doch.“ Woran denn, woran
       hört man das? Olha Horodysnka lacht. „Eine Rakete ist schneller als ein
       Jagdflugzeug. Wenn du zwei Jahre im Krieg gelebt hast, weißt du, wie das
       klingt.“
       
       Sie schaut auf ihr Telefon. In die Telegram-Chats, in denen steht, was die
       Geräusche bedeuten. Zum Fauchen von eben hat noch niemand etwas
       geschrieben, dafür aber über die drei Explosionen vom Nachmittag: „Heute
       geriet der Ortsrand von Rajhorodok unter Beschuss: Ein Waldgebiet wurde
       getroffen, was zu einem Brand führte“, meldet der Chat „Mykolajiwka
       Online“. Acht bis neun Kilometer sind es von Mykolajiwka nach Rajhorodok.
       „Das war Streumunition“, kommentiert Din2 321vr. Streumunition – das sind
       mehrere kleine Sprengsätze in einem großen.
       
       Olha Horodynska erzählt auf der Gartenbank, wie sie 1985 nach Mykolajiwka
       gekommen ist. 18 Jahre war sie da alt, 57 ist sie heute. Geboren wurde sie
       in Donezk, etwa 150 Kilometer südlich von hier. Die Großstadt ist seit 2014
       von Soldaten aus Russland und mit ihnen verbündeten Milizen besetzt. Der
       Teil der Region, den die Ukraine kontrolliert, Mykolajiwka gehört dazu,
       trägt weiter den Namen Donezk. Olha Horodynska wollte gar nicht nach
       Mykolajiwka damals, „im Vergleich zu Donezk war das hier ein Dorf“. Aber
       der sowjetische Staat schickte die Menschen dorthin, wo er sie brauchte.
       Und die Sowjetunion brauchte eine Köchin für die Kantinen des
       Elektrizitätswerks, in dem hier seit Jahrzehnten die meisten Menschen
       arbeiten.
       
       Nach 39 Jahren möchte Olha Horodynska nicht mehr weg aus Mykolajiwka. Jeden
       Tag fordern die Regierung und die regionale Verwaltung sie per SMS zum
       Gehen auf: „Sehr geehrte Einwohner der Region Donezk! Schützen Sie sich und
       Ihre Lieben! Lassen Sie sich evakuieren!“ Dazu Telefonnummern und
       Mailadressen, bei denen sich jeder melden soll, der hier noch wohnt. Olha
       Horodynska sagt: „Ich möchte nicht als Flüchtling mit anderen Leuten in
       deren Wohnung wohnen. Ich will keine Last sein.“
       
       Sie war ja schon fort. Ein halbes Jahr hat es Olha Horodynska 2022 in Kyjiw
       ausgehalten. Sie wohnte bei ihren Töchtern, lebte deren Leben mit. Sie
       musste die Wege neu lernen und die U-Bahn-Stationen, sie fragte oft um
       Hilfe, fühlte sich an manchen Tagen wie ein Kind. Sie ist zurückgekommen.
       
       ## Olha träumt von einer Wohnung für ihre Tochter
       
       In Mykolajiwka gehören vielen Menschen ihre Wohnungen – wie oft im Europa
       östlich von Deutschland. Hier zahlen sie keine Miete. Für etwas Neues im
       Westen fehlt ihnen das Geld. Wie Olha Horodynska haben die meisten hier
       einen Garten, das heißt: Obst und Gemüse. Olha Horodynska träumt davon,
       ihrer jüngeren Tochter Viktoriia eine Wohnung zu kaufen. So wie sie und ihr
       Mann es auch für die ältere Tochter Anya getan haben, bevor dieser Mann im
       Januar 2014 zum Arbeiten nach Russland ging und nicht zurückkam. „Wenn ich
       nur genug sparen kann“, sagt Olha Horodynska. Viktoriia verdreht die Augen.
       
       1986, ein Jahr nachdem Olha Horodysnka nach Mykolajiwka gehen musste,
       explodierte Reaktorblock 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Wieder schickte
       die Sowjetunion Olha Horodynska fort. In die verstrahlte Zone. Sie kochte
       für jene, die den Sarkophag um das zerstörte Kraftwerk bauten. Einen Monat
       nur, aber dieser Monat reicht bis heute. Sie bekam Kopfschmerzen, gegen die
       keine Tabletten halfen, sie fühlte sich zu schwach zum Arbeiten.
       Ärzt:innen erkannten nicht, dass sie zu viel Strahlung abbekommen hatte.
       Oder wollten es nicht erkennen. Olha Horodynska trug Dokumente von
       Krankenhaus zu Krankenhaus. Als sie im Jahr 2000 als
       Tschernobyl-Geschädigte anerkannt wurde, existierte die Sowjetunion längst
       nicht mehr.
       
       Olha Horodynska hustet beim Sprechen, ihre Stimme klingt, als müsste sie
       vor jedem Wort eine knarzende Holztreppe hinauflaufen. Die Strahlung hat
       die Schilddrüse geschädigt. Olha Horodynska fällt das Atmen schwer und das
       Sprechen auch. Sie hat ein offenes Gesicht, einen herausfordernden Blick,
       sie sieht alles und jeden mit vorgeschobenem Kinn an: Na, was willst du!
       Fest, aber nicht unfreundlich. Dieser Blick wird weich, wenn sie zu ihrer
       Tochter schaut, die neben ihr auf der Bank sitzt.
       
       Viktoriia ist 2001 geboren. Anya kam lange vor ihr auf die Welt, 1987, im
       Jahr nach der Explosion in Tschernobyl. Viktoriia und ich kennen uns seit
       2015, damals [2][habe ich Mykolajiwka das erste Mal besucht]. Sie ging noch
       in die Schule Nummer 3. Eltern aus Mykolajiwka hatten das Gebäude zusammen
       mit Freiwilligen aus Kyjiw wieder aufgebaut, nachdem es 2014 bei Kämpfen
       zerstört worden war. Seit Februar 2022 hat Russlands Armee die Schule
       Nummer 3 wieder getroffen. Zwei Mal.
       
       Granate für Granate, Stein um Stein radiert Russlands Artillerie
       ukrainische Städte aus der Landschaft: Bachmut, Marjinka, Wuhledar.
       Mykolajiwka könnte es genauso gehen.
       
       Abends blondiert Viktoriia ihrer Mutter im kleinen Badezimmer die Haare,
       und ein Mann aus Mykolajiwka fährt auf der breiten Straße des Friedens
       einem geparkten Auto hinten rein. Sein Wagen überschlägt sich, in dem
       geparkten Auto sitzen Soldaten. Die wohnen ebenfalls in Mykolajiwka, sie
       sind bei der Zählung der 4.676 aber nicht mitgemeint. Mit Soldat:innen
       dürfen wir nicht sprechen – Verbot der Militärverwaltung, aus
       „Sicherheitsgründen“. Keine weitere Erklärung.
       
       ## Ein Unfall wird zum Nachtgespräch
       
       Der Unfall geschieht kurz vor der Ausgangssperre um 21 Uhr. Die
       Bewohner:innen der Stadt sind zu Hause und verhandeln den Crash auf
       Telegram. Die meisten verwenden Russisch als erste Sprache wie 2015, wenige
       schreiben auf Ukrainisch. „Ein betrunkener beschissener Zivilist ist ohne
       Licht gefahren“, schimpft Nastya um 21.05 Uhr. „Die waren auch alle
       betrunken“, schreibt Anya um 2.25 Uhr über die zwei Soldaten im geparkten
       Auto. In den Stunden dazwischen streiten die Kommentator:innen über
       die ukrainische Armee. Wer jetzt Uniform trage, sei bis vor Kurzem auch nur
       ein normaler Mensch gewesen, schreibt einer, Elektriker oder Mechaniker
       vielleicht. Soldat:innen würden trinken und Zivilist:innen schlagen,
       behauptet eine andere. Die vom Militär und die Menschen, die schon länger
       in Mykolajiwka leben, führen bisweilen eine Misstrauensbeziehung.
       
       In dieser Nacht feuert Russlands Armee eine Rakete in ein Hotel in
       Kramatorsk. Ein Mann stirbt. Er ist Brite und hat als Sicherheitsberater
       für die Nachrichtenagentur Reuters gearbeitet. Internationale Medien werden
       über diesen Angriff berichten. Wir spüren den Einschlag. Glauben wir. Um
       22.36 Uhr wummert es und die Türen in Olha Horodynskas Wohnung wackeln.
       Kramatorsk ist über 20 Kilometer weit weg.
       
       Danach ist es still. In einem Wohnblock mit so dünnen Wänden sollte das
       Leben der Nachbarn auch unser Leben sein. Fernsehen, Lachen, Sex – wir
       hören nichts. Es wohnt kaum noch jemand im Haus. Das macht Olha Horodynska
       Angst. Wenn niemand schießt, hört sie oft nur sich selbst. Um kurz vor zehn
       geht sie ins Bett. Später als elf wird es bei ihr nie. Dank Tschernobyl ist
       sie immer müde.
       
       Sonntag. Es ist Sonntag? Habe er gar nicht gemerkt, sagt Serhii Kobernik.
       Am Sonntag hätte sein Laden nämlich geschlossen. Und der hat offen, also
       kann eigentlich gar nicht Sonntag sein. Nicht zu wissen, ob man morgen
       wieder aufwacht, ob das Haus nebenan noch steht, lässt die Zeit in laut und
       leise zerfallen, in gefährlich und ungefährlich, nicht in Montag und
       Dienstag, Sonnabend und Sonntag.
       
       45 Jahre ist Serhii Kobernik alt. Er ist schmal geworden, seit wir uns 2015
       das letzte Mal gesehen haben. Diabetes seit 2020, von 124 Kilo auf 80.
       Serhii Kobernik hat blaue Augen, starke helle Brauen und lächelt, als
       wüsste er ein Geheimnis. Als wir um 11.30 Uhr in seinen Laden kommen, lehnt
       er an einer Glastheke voller Batterien. In den Regalen türmen sich
       Kochtöpfe, Lampen, Tupperware. Serhii Kobernik gehören neben diesem
       Geschäft noch der Schawarma-Stand direkt nebenan, ein Taxi-Unternehmen und
       eine Werkstatt am Stadtrand. An einer zweiten baut er gerade. Elf
       Angestellte arbeiten für ihn. Aus einem Lautsprecher kommt russischer Pop,
       danach singt Louis Armstrong „Wonderful World“. Serhii Kobernik will nicht
       fotografiert werden. „Keine gute Zeit, um berühmt zu sein.“
       
       Bei ihm kaufen sie alle, aber heute kommen nur Männer in sein Geschäft.
       Manche sind Freunde, möchten quatschen, einer erklärt Serhii Kobernik, wie
       er eine Klärgrube für seine neue Werkstatt baut. Andere wollen mehr von
       ihm, ziehen ihn aus dem Laden, flüstern erregt in sein Gesicht. Wenn einer
       weiß, was Russlands Großinvasion seit 2022 aus Mykolajiwka gemacht hat,
       dann er.
       
       Preise und Verbrechen, sagt Serhii Kobernik. Die sind gewachsen. Die Preise
       steigen seit Russlands Angriff im ganzen Land. So nahe der Front wird es
       nochmal teurer. Er rechnet das vor: Eine Schachtel Zigaretten kostet in
       Slowjansk, 16 Kilometer westlich von hier, zwischen 90 und 95 Hrywnja, etwa
       2 Euro. In Mykolajiwka sind es 100 Hrywnja und noch näher an der Front 150
       oder sogar 200. „Die letzten zwanzig Kilometer machen den größten
       Unterschied“, sagt Serhii Kobernik. Diese Unterschiede bedeuten in der
       Ukraine etwas. Das Durchschnittsgehalt liegt bei etwa 430 Euro, viele
       verdienen weniger, bekommen kleine Renten.
       
       Und die Verbrechen, ja die Verbrechen – um 13 Uhr öffnen zwei Polizisten
       die Tür zu Serhii Koberniks Laden. Sie zeigen ihm das Video einer
       Überwachungskamera. Einbruch in Schwarz-Weiß. Ein Mann steigt in ein Café
       ein, versucht ein Fass aus dem Weg zu räumen, zieht, hebt, drückt, fällt
       fast hintenüber. Er zieht seine Maske ab, seine Augen leuchten. „Das war in
       der vergangenen Nacht. Kennst du den?“ Serhii Kobernik schüttelt den Kopf.
       „Der hat Flip-Flops an“, sagt er. „Damit kann man doch total schwer laufen.
       Das war keiner von hier.“ Die Polizisten schicken ihm das Video auf sein
       Telefon, er soll es anderen zeigen.
       
       ## Alkohol ist verboten. Es gibt ihn trotzdem
       
       „Seit der Invasion wird mehr geklaut und mehr eingebrochen“, sagt Serhii
       Kobernik. In die verlassenen Wohnungen, Keller und Garagen. Ihm sei
       Werkzeug im Wert von 700 Euro gestohlen worden. Das traut er nur Leuten aus
       Kyjiw zu, aus Dnipro, Leuten von weit weg jedenfalls. In Mykolajiwka steht
       ein graues Häuschen, in dem die zwei Polizisten sitzen, die Serhii Kobernik
       das Video gezeigt haben, und noch ein weiterer Kollege. Einbrüche habe es
       2022 gegeben, sagt dieser Polizist. In diesem Jahr könne er sich an keine
       Anzeige erinnern. Serhii Kobernik hat kein großes Vertrauen in das, was die
       Polizei sagt.
       
       Im Juli ist sein alter Laden abgebrannt. Ein paar Meter entfernt von dem
       Geschäft, in dem er heute arbeitet, stehen die verkohlten Reste. Eine
       Million Hrywnja, mehr als 20.000 Euro, habe er in jener Nacht verloren,
       sagt Serhii Kobernik. Ein Gerücht schwirrt durch die Stadt, die Besitzerin
       des Ladens nebenan habe ihr Schutzgeld nicht bezahlt. „Jeder weiß, wer es
       war, aber keiner tut etwas“, sagt Serhii Kobernik. Der Polizist, mit dem
       wir reden, sagt, in Mykolajiwka gebe es keine Schutzgelderpressung.
       
       Nur dass hier getrunken wird – da sind sich die Polizei und Serhii Kobernik
       einig. In Frontnähe ist es verboten, Alkohol zu verkaufen, die
       Soldat:innen sollen nüchtern bleiben. Die Armee kontrolliert die großen
       Straßen nach Mykolajiwka, aber nicht alle Feldwege. Im Büro des
       Paketdienstes Nowa Poschta haben Polizisten monatelang Kartons in die Hand
       genommen und geschüttelt, Bier-, Schnaps- und Weinflaschen beschlagnahmt.
       Seit einem halben Jahr sind sie nicht mehr genug Leute dafür. Die Armee
       braucht die Männer.
       
       Ein Mann in Camouflage holt sich eine Speicherkarte für 180 Hrywnja bei
       Serhii Kobernik, die meisten wollen Batterien. Daran erkennt man die
       Soldaten, die schon länger hier sind. Die Neuen schaffen sich Lautsprecher,
       Rasierer, Lampen an. Wer überlebt, kauft Batterien.
       
       70 Prozent seiner Kund:innen seien vom Militär, sagt Serhii Kobernik. An
       manchen Tagen macht er 200 Euro Umsatz. Er hat sein Sortiment angepasst. Er
       verkauft Lampen, die man sich über den Kopf ziehen kann. Ihr rotes Licht
       sollen die Soldaten auf der anderen Seite der Front mit ihren
       Nachtsichtgeräten nicht erkennen können.
       
       Auch vor Serhii Koberniks Ladentür, auf dem Basar von Mykolajiwka, sind die
       meisten Käufer Soldaten. Sie und die Leute aus der Stadt reden kaum
       miteinander. Ist das immer so? Serhii Kobernik antwortet mit einer
       Geschichte: „Einmal hat ein Soldat sein Portemonnaie auf dem Basar
       verloren. Ich bin ihm hinterher, habe es ihm zurückgebracht.“ Ob er aus dem
       Westen der Ukraine sei, habe ihn der Soldat gefragt. „Er war überrascht,
       dass ich von hier bin und trotzdem ehrlich.“
       
       Um 14 Uhr macht Serhii Kobernik den Laden zu. Wir fahren in seinem roten
       Transporter durch Mykolajiwka. Erinnerungsabgleich 2015/2024. Damals
       konnten Viktoriia und ich die zerstörten Häuser an einer Hand abzählen. Ein
       Riss ging durch die Mitte des langen Wohnblocks am Eingang zur Stadt. Ein
       Küchenschrank hing über dem Riss, die weißen Teller darin wollten nicht in
       die Leere fallen. Die Aussetzung der Schwerkraft, ein Stück Weltall auf der
       Erde war das, ein Wunder. Ein Ort, zu dem man Fremde führte. Seit 2022 hat
       Russland dieses Wunder in der ganzen Ukraine zehntausendfach kopiert.
       
       Verbogene Rohre, zerbrochene Fenster, gesplitterte Balken. Wie
       Schlammspritzer ziehen sich die Spuren der Streumunition über Straßen und
       Wände. 34 Tote seit Februar 2022. 44 Verletzte. 635 beschädigte Häuser. Die
       Stadtverwaltung schickt uns Zahlen per Mail. Zahlen, mit denen wir
       begreifen wollen, welche Gewalt auf Mykolajiwka niedergeht. Wir zählen die
       Schüsse. Wir schreiben Uhrzeiten auf. Wir notieren, wenn der Donner grollt,
       ohne dass wir Blitze sehen: „Artillerie“. Wenn es blechern rattert:
       „Sturmgewehre“ – die ukrainischen Soldat:innen trainieren Schießen.
       
       Serhii Kobernik zeigt uns seine Bunker. Einen im Keller unter seinem Haus,
       eine Matratze, ein Ofen, das Rohr geht zum Kellerfenster raus. Einen
       anderen unter einem von Kletten bewachsenen Grundstück am Rande der Stadt.
       Er hat noch weitere solcher Höhlen. Er sagt, sie wären nutzlos. „2014, da
       konntest du noch in den Keller gehen, wenn geschossen wurde, aber jetzt
       haben die Russen zu viele und zu starke Waffen, die zerstören einfach
       alles.“
       
       Warum ist er noch hier? Seine Frau [3][lebt in Deutschland], seine zwei
       Töchter auch. Die ältere studiert an der Kunsthochschule in Halle an der
       Saale. Das Geld, um jemanden an der Grenze zu bestechen, hätte Serhii
       Kobernik doch sicher. Wenigstens in die Westukraine könnte er gehen. Er
       erzählt noch eine Geschichte. Ein Cafébesitzer im Westen des Landes habe
       einem Freund zu viel Geld abgeknöpft, weil er Russisch gesprochen habe
       statt Ukrainisch. Und Deutschland – er könne so viele Geschichten von
       Menschen erzählen, die dort depressiv würden. „Und warum? Weil sie nicht zu
       Hause sind.“ Serhii Kobernik will hier nicht nur nicht weg. Er investiert
       in Mykolajiwka.
       
       Er baut eine neue Werkstatt. Wir gehen über das verwilderte Grundstück,
       unter dem sein zweiter Bunker liegt, auf die andere Straßenseite und stehen
       vor einem Loch. Das ist die Klärgrube, über die er heute Mittag im Laden
       mit einem Freund geredet hat. Dahinter Wände, Dach und Stützbalken aus
       rötlichem Holz, zwei Kuhlen im Boden. Hier werden seine Mechaniker unter
       die Autos kriechen.
       
       ## Von Usbekistan nach Mykoljaiwka
       
       In seiner anderen Werkstatt arbeiten seit acht Uhr morgens zwei Brüder, 23
       und 32 Jahre alt. Sie kommen aus der Großstadt Dnipro. 1979 zog ihr Vater
       aus der Usbekischen Sowjetrepublik dorthin, um in einer Gärtnerei zu
       arbeiten. Eine Migrationsgeschichte, die vorläufig hier endet, in
       Mykolajiwka, zwischen sieben grünen Autos der Armee und vier zivilen Wagen.
       Es knallt laut, Minuten später heult die Sirene. Serhii Kobernik lächelt,
       die zwei Brüder lächeln. Sie sagen: „In Dnipro ist der Luftalarm meist auch
       zu spät.“
       
       Sechs Uhr abends. Wir sitzen auf einer Holzbank vor einem Kasten aus Blech.
       „Das ist der luxuriöseste Laden in Mykolajiwka“, sagt Serhii Kobernik.
       Drinnen liegen Meeresfrüchte in einer Kühltruhe. An der Theke erklärt die
       Verkäuferin einem jungen dünnen Soldaten, was der Unterschied zwischen zwei
       Beuteln mit Pelmeni ist: In einem ist mehr drin. Steht auch drauf. Er wird
       rot, sie lacht.
       
       Serhii Kobernik beißt in einen Pfirsich und zeigt Fotos auf seinem Telefon.
       Er ist in den 1990ern aufgewachsen, der Zeit der hohen Arbeitslosigkeit,
       der Kriminalität, der Morde. Auf der Berufsschule hielt er es nur wenige
       Tage aus. „Damals musstest du Geld verdienen, sonst hattest du nichts zu
       essen“, sagt er. Er holte Melonen aus dem Süden und verkauft sie hier. Er
       hat nie eine Ausbildung gemacht, hatte aber eine Menge Jobs. Als es im
       Frühjahr 2022 in Mykolajiwka kein Fleisch gab, fuhr er mit einem Freund
       knapp 100 Kilometer nach Nordwesten, holte 200 Hühner aus Isjum und
       schlachtete sie. „Wir haben in einer halben Stunde 70 Stück verkauft“, sagt
       Serhii Kobernik. „Wer kein Risiko eingeht, trinkt keinen Champagner.“
       
       Am nächsten Tag schickt Russland 127 Raketen und 109 Drohnen in die
       Ukraine. Acht Stunden Alarm in Kyjiw. Tote im Norden, Süden, Osten und
       Westen. Getroffene Kraftwerke, abgeschalteter Strom. Über uns fliegt alles
       drüber. Um uns brennt die Welt. Der Beschuss der vergangenen Tage hat die
       Wälder auf allen Seiten der Stadt in Brand gesetzt. Wir sehen den Rauch.
       Vielleicht leben wir auf einer Insel.
       
       Bei Telegram fragt Asya, ob das ihre Katze sein könnte auf einem der Fotos,
       die gestern Abend jemand hochgeladen hat. „Worüber sollen die Menschen hier
       sonst reden, wenn nicht über Katzen“, sagt Olha Horodynska und gießt die
       Pflanzen vor ihrem Küchenfenster. „Sollen sie verrückt werden?“
       
       Wir fahren mit Oleksandr Sirotkin zur „Allee des Ruhmes“. Dreizehn Tafeln,
       dreizehn Gesichter, dreizehn tote Männer: Valeriy Ivanovych Kryvosheya, 1.
       10. 1976 bis 24. 12. 2022, wohnte in Mykolajiwka. Serhiy Romanovych
       Pyschalka, 30. 7. 1997 bis 23. 4. 2022, ebenso. Die meisten kamen aus
       Dörfern in der Nähe. Oleksandr Sirotkin hat über dieses Denkmal geschimpft,
       in einem Video auf Instagram: „Wenn ich sterbe, würde ich mein Gesicht hier
       nicht sehen wollen.“
       
       Oleksandr Sirotkin hat viele sterben sehen. Er wäre selbst oft fast
       gestorben, er hat das auf Video. Ein Mal rutscht er gerade noch in ein
       Erdloch, das sie für einen Generator ausgehoben haben. Die Explosion der
       Mörsergranate wirbelt Dreck vor seine Helmkamera. Der Krach quetscht sich
       durch den Lautsprecher des Smartphones, bleibt hängen, endet als Krächzen.
       
       Er hat den tödlichsten Job in der ukrainischen Armee: Pichota, Infanterie.
       Zwei Jahre und zwei Monate Schützengräben einnehmen, Schützengräben
       verteidigen. Oleksandr Sirotkins Rücken tut weh, weil er die kugelsichere
       Weste so oft getragen hat.
       
       ## Oleksandr Sirotkin will eine Statue für tote Soldat:innen
       
       Wir laufen von seinem Jeep zu den Tafeln mit den dreizehn Gesichtern, ein
       jedes unterlegt mit der ukrainischen Flagge. Was regt ihn so auf? Dass das
       Denkmal neben dem großen Platz steht und nicht in der Mitte. Dass es keine
       große Statue gibt. Oleksandr Sirotkin redet laut: „Wenn die Leute in
       Mykolajiwka könnten, würden sie das Denkmal irgendwo hinter dem Krankenhaus
       verstecken.“ Das steht am Ende der Stadt.
       
       Oleksandr Sirotkin ist 46 Jahre alt, wurde in Mykolajiwka geboren und wuchs
       hier auf. Schweißer hat er mal gelernt. Er sagt: „Ich kann dir ein Haus
       bauen, vom Fundament bis zum Dach.“ Über Oleksandr Sirotkins Gesicht laufen
       vier tiefe Furchen von Stirn und Kinn auf seine Nase zu. Falten haben sich
       in Stirn und Mund gegraben.
       
       Bis 2022 hat Oleksandr Sirotkin mit seiner Familie in Mykolajiwka gelebt.
       Seitdem kämpft er im Osten der Ukraine. Seine Frau ist nach Deutschland
       geflohen, nach Ulm. Sie verkauft Kuchen in einer Bäckerei. Die drei
       minderjährigen Kinder leben bei ihr, 10 Jahre alt das eine, die Zwillinge
       sind 14. Mykolajiwka ist ihm fremd geworden. „Auf dem Basar wollen die
       Leute Geld verdienen, da sagen sie nichts Schlechtes über uns“, sagt
       Oleksandr Sirotkin. „Aber hinter deinem Rücken spucken sie aus, wenn du in
       Uniform unterwegs bist.“
       
       Er ist hier, weil er Dokumente braucht, er verlässt die Armee für eine
       Weile. Wegen seiner Kinder darf er das, er will die Familie in Deutschland
       besuchen. Als er mit uns spricht, ist er kein Soldat mehr, oder jedenfalls
       nicht so richtig. So wie er das sieht, warten viele Leute in Mykolajiwka
       nur darauf, dass die Stadt besetzt wird. „Sie glauben nicht, dass sie
       gefoltert werden, wenn Russland kommt. Sie glauben, dass sie dann mehr Geld
       verdienen.“
       
       Bevor Russland 2014 seinen Krieg mit der Ukraine begann, haben viele Männer
       aus Mykolajiwka Jobs in Russland angenommen – die Löhne waren dort höher.
       Der Mann von Olha Horodynska gehört dazu, viele von Viktoriias
       Freund:innen wuchsen wie sie praktisch ohne Väter auf.„Ich habe dort auch
       acht oder neun Jahre lang gearbeitet“, sagt Oleksandr Sirotkin. „Lange Zeit
       war ich prorussisch.“ Dann habe er seine Frau kennen gelernt, ihre Familie,
       „intelligente Menschen“.
       
       ## Er hat Soldaten aus Russland angerufen
       
       Zwischen seinen Einsätzen im Schützengraben hat er die Accounts von
       Soldaten aus Russland im Internet gesucht und angerufen. Manchmal ist
       jemand rangegangen und sie haben geredet. Warum hat er das getan? „Ich
       wollte über sie lachen“, sagt er. „Sie sind dumm.“
       
       Oleksandr Sirotkin sagt, er plane, sechs Monate in Deutschland zu bleiben
       und danach zurückzugehen, an die Front. Er sagt: „Ich kann meine Jungs
       nicht allein lassen.“
       
       Mykolajiwka ist keine Insel.
       
       Rakete am 8. September. Zwei Männer sterben.
       
       Rakete am 23. September. Die Fenster in Serhii Koberniks Wohnung splittern,
       die Uhr fällt von der Wand. Er fängt sie auf.
       
       Drohnen und Raketen am 7., am 13. und am 15. November. Eine Rakete trifft
       das Haus von Serhii Kobernik und verwandelt die Zimmer in kalte
       Müllhalden. Er zieht zu den Eltern seiner Frau und schläft dort auf dem
       Sofa, auf dem er im Februar 2022 das letzte Mal gemeinsam mit seiner
       Familie übernachtet hat. Mykolajiwka will Serhii Kobernik immer noch nicht
       verlassen. Er sagt, Soldat:innen könnten ihn an einem Checkpoint
       anhalten und [4][direkt an die Front schicken.]
       
       Olha Horodynska kümmert sich um ein weiteres Tier. Eine alte Frau ist in
       die Westukraine geflohen. Ihre Hündin hat sie dagelassen. Sie heißt Masha.
       
       2 Dec 2024
       
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