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       # taz.de -- Ineffizienter Sozialstaat: Geteilte Zuständigkeiten
       
       > Sozialleistungen erreichen die Bürger*innen zu wenig, auch wegen
       > bürokratischer Eigenlogik der Behörden. Eine Sozialstaats-App könnte
       > helfen.
       
   IMG Bild: Ein zugänglicher Sozialstaat scheitert oft an einem Kompetenz-Dschungel
       
       Man muss kein kalter Neoliberaler sein, um festzustellen: Der deutsche
       Sozialstaat ist ineffizient. Und nicht nur das: Er ist auch zu kompliziert
       und muss dringend einfacher, unbürokratischer und transparenter werden.
       Diese Auffassung wurde zuletzt auch vom [1][Nationalen Normenkontrollrat]
       (unabhängiges Gremium der Bundesregierung, das die Bürokratiekosten
       bewertet, d. Red.) geteilt.
       
       Komplexitätsfallen des Sozialstaats führen dazu, dass er zu einem
       Sanierungsfall geworden ist und trotz relativ hoher finanzieller
       Aufwendungen von Bürger*innen immer öfter nicht mehr verstanden wird.
       Während Bürger*innen auf einen funktionsfähigen Sozialstaat in ihren
       unterschiedlichen Lebenslagen angewiesen sind, handeln die
       sozialstaatlichen Institutionen primär gemäß ihren Zuständigkeiten.
       
       Ob bei kommunaler Jugendhilfe, Schulbehörde, Gesundheitsamt, Jobcenter oder
       Wohngeldstelle: Jede Institution handelt in der Logik ihrer Zuständigkeit
       sowie gesetzlichen Restriktionen, während multiple Problemlagen von
       Bürger*innen eigentlich die Überwindung von Zuständigkeitsgrenzen
       verlangen: Verwaltungen denken in den Grenzen von Zuständigkeiten, die aber
       nicht identisch mit den Abgrenzungen von Problemen sind.
       
       Aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive wird argumentiert, dass das
       System überhaupt nur noch funktioniert, weil viele Bürger*innen es wegen
       Überforderung gar nicht nutzen. Dies muss auch vor dem Hintergrund sozialer
       Gerechtigkeit dringend ernst genommen werden. Parallel zu den in
       sozialwissenschaftlichen Studien diagnostizierten Erschöpfungszuständen in
       der Bevölkerung geht das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Politik
       zurück – und dies trifft zunehmend auch die Verwaltungen.
       
       Dies wird in den Kommunen durchaus registriert: Es bewegt sich inzwischen
       etwas mit Blick auf die Überwindung geteilter Zuständigkeiten durch
       ressortübergreifende Zusammenarbeit. Inzwischen hat sich nach der reinen
       Orientierung an schlanken Organisationen das Interesse in Richtung
       wirkungsvoller Prozesse verschoben.
       
       Hier ist aber auch die Bundesebene gefragt: [2][Das Scheitern des großen
       Projekts Kindergrundsicherung] etwa ist nicht allein an der Kostenfrage
       festzumachen, sondern vor allem daran, dass die tangierten Hilfesysteme in
       der politischen Verantwortung von drei unterschiedlichen Ministerien liegen
       sowie von drei verschiedenen Behörden nebeneinander verwaltet werden
       (Arbeitsagenturen/Jobcenter, Wohngeldstellen, Familienkassen).
       
       Die einzelnen Behörden hätten also entweder Kompetenzen abgeben oder
       zusammenarbeiten müssen, was quer zum starren Zuständigkeitsdenken der
       Behörden liegt. Vor diesem Hintergrund plädieren wir parallel zu einer
       institutionellen Verwaltungsreform für eine Transparenz-Offensive des
       Sozialleistungssystems sowie für mehr Zugänglichkeit sozialpolitischer
       Leistungen.
       
       ## Mehr Transparenz
       
       Solange eine Vereinheitlichung und Entbürokratisierung aufgrund der
       institutionellen wie politischen Blockaden nicht aufgelöst werden kann,
       sollte eine Bundesregierung mit Nachdruck daran arbeiten, sozialstaatliche
       Leistungen für die Bürger*innen transparenter zu machen. Hier sollte als
       Sofortmaßnahme eine nutzerfreundliche „Sozialstaats-App“ auf den Weg
       gebracht werden.
       
       In Zeiten von KI ist auch die digitale Integration der über 160
       Einzelleistungen keine Raketenwissenschaft mehr – selbst dann nicht, wenn
       man die sozialstaatlichen Leistungen auch mit steuerlichen Freibeträgen
       plus Steuer- und Abgabenbelastung verknüpfen würde, um auf diese Weise
       realistische Netto-Einkommenshöhen zu ermitteln. Der Anspruch wäre, dass
       die Bürger:innen nicht mehr persönliche Daten angeben müssten, als sie
       es bei amtlichen Erhebungen wie dem Mikrozensus bereits tun müssen.
       
       Der Thinktank „Agora Digitale Transformation“ hat hierfür in Zusammenarbeit
       mit dem Caritasverband unter dem Titel „Den digitalen Sozialstaat
       nutzerorientiert gestalten“ in vier Handlungsfeldern einen machbaren
       Fahrplan entwickelt: Dieser zielt darauf ab, Initiativen vonseiten der
       Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der
       Entwicklung digitaler Antragsassistenten zusammenzuführen. Auch der grüne
       Vizekanzler Robert Habeck formulierte in einem Impulspapier das Ziel: „Eine
       einzige digitale Plattform in Form einer Deutschland-App, auf der alle
       Sozialleistungen direkt beantragt werden können, sollte das Ziel sein“.
       
       ## Anspruchsberechtigung prüfen
       
       In der Tat – dieses Ziel dürfte aber trotz der von Bund, Ländern und
       Kommunen grundsätzlichen bekräftigten Kooperationsbereitschaft vor allem
       wegen der institutionellen Komplexität des Sozialsystems auch in der
       nächsten Legislaturperiode noch nicht erreicht werden. Als unmittelbare
       Maßnahme wäre deshalb viel gewonnen, wenn die nächste Bundesregierung
       zunächst ein ressortübergreifendes Pilot-Projekt starten würde, das auf das
       engere Feld der Sozialpolitik beschränkt ist. Darin sollte als erster
       Schritt jedoch nicht die digitale Beantragungsfunktion stehen, sondern man
       könnte mit einer transparenten „Anspruchsberechtigungsfunktion“ – zunächst
       ohne Rechtsverbindlichkeit – starten, die mit einer örtlichen
       Adress-Datenbank verlinkt wäre.
       
       Eine staatliche Ausschreibung könnte neben den IT-technischen auch die
       datenschutzrechtlich relevanten Aspekte beeinflussen und zudem
       sicherstellen, dass eine klare Nutzer*innen-Orientierung im Vordergrund
       steht.
       
       Sozial engagierte Stiftungen und Wohlfahrtsverbände könnten zudem einen
       jährlichen Preis für die bürgerfreundlichste Sozialpolitik-App
       ausschreiben, die beim jährlichen Digitalgipfel der Bundesregierung
       öffentlichkeitswirksam verliehen und ausgezeichnet wird. Hierdurch könnte
       als Nebeneffekt das Vertrauen in einen bürokratieärmeren und transparenten
       Sozialstaat wieder gestärkt werden.
       
       Jürgen Schupp ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin
       und Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
       (DIW). Rolf G. Heinze war von 1988 bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für
       Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft an der Ruhr-Universität
       Bochum. Jetzt ist er an selbiger Uni Seniorprofessor für Soziologie.
       
       3 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Schupp
   DIR Rolf G. Heinze
       
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