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       # taz.de -- Eroberung von Aleppo: Glückstränen und Zukunftsängste
       
       > Syrische Rebellen haben die Millionenstadt Aleppo erobert. Das
       > Assad-Regime ist auf dem Rückzug, auch seine Verbündeten halten still.
       
   IMG Bild: Machtkampf voll entbrannt: Syrische Rebellen zünden die Flagge der syrischen Assad-Regierung an. Aleppo, 30. November 2024
       
       Männer fallen sich weinend in die Arme. Kämpfer reißen Plakate von Diktator
       Assad nieder. Solche Videos teilen Menschen aus Aleppo am Wochenende. Die
       Millionenstadt im Norden Syriens ist seit Freitagabend in den Händen von
       Rebellen, die Truppen des Assad-Regimes sind geflohen.
       
       „Es sind Tränen der Rückkehr nach vielen Jahren der Vertreibung und
       Unterdrückung“, schreibt ein Mann am Freitag auf Instagram, der sich als
       Aktivist bezeichnet. Gemeinsam mit bewaffneten Kämpfern steht er auf einem
       Video vor der Zitadelle in der Altstadt, sagt: „Wir sind mitten in Aleppo“
       und die Männer singen: „Arabische Muslime haben unter dem iranischen Modell
       gelitten.“
       
       Mit Giftgas, Fassbomben und Folter kämpft Syriens Machthaber Baschar
       al-Assad seit 2011 gegen jegliche Opposition, unterstützt von Russland über
       Iran bis zur libanesischen Hisbollah-Miliz. Über die Hälfte der Bevölkerung
       des Landes ist geflohen, Hunderttausende wurden getötet, Zehntausende sind
       verschwunden. Jahrelang wurde Ost-Aleppo vom Regime bombardiert und
       ausgehungert. Die Oppositionellen wurden einst nach Idlib vertrieben. Nun
       können sie wieder zurück. Häftlinge sind frei, Familien sehen sich nach
       Jahren der Trennung wieder.
       
       „In den Reihen der kriminellen Regimekräfte hat es einen weitgehenden
       Zusammenbruch gegeben“ [1][erklärte die Kommandozentrale der Rebellen].
       „Unsere Kräfte haben Mut und Überlegenheit im Feld bewiesen.“ In einer
       [2][politischen Erklärung] betonten sie, sie hätten nach „jahrelangen
       Gräueltaten Assads und seiner verbündeten Milizen“ die Operation
       „Aggression Zurückschlagen“ gestartet, „um Zivilisten zu schützen“.
       
       ## Jahre des Exils sind vorbei
       
       Die Offensive, geführt von der in Idlib herrschenden Miliz HTS (Hayat
       Tahrir al-Sham), wurde seit langem erwartet, aber Ausmaß und Wucht ihres
       Erfolges hat alle überrascht. Sie begann am Mittwoch, 27. November,
       [3][lokalen Berichten zufolge] als Reaktion auf einen Luftangriff auf eine
       Schule im Dorf Ariha, bei dem 15 Kinder getötet oder verletzt wurden. Schon
       nach wenigen Stunden meldeten die Rebellen die Einnahme einer der
       wichtigsten Militärbasen der Regierungsarmee westlich von Aleppo, das
       Hauptquartier der 46. Armeedivision, und die Tötung des höchstrangigen
       iranischen Revolutionsgardekommandeurs in Syrien, General Kiyomarth
       Porhashmi.
       
       Danach gab es offenbar kaum noch Widerstand gegen den Vormarsch der
       Rebellen. Sie eroberten immer mehr Dörfer und sollen am Donnerstagabend
       bereits vor der Stadt Aleppo gestanden haben. Zugleich schnitten sie die
       wichtige Autobahnverbindung ab, die Aleppo mit dem Rest des syrischen
       Regimegebietes verbindet, und eroberten die strategisch wichtige Stadt
       Sarakeb weiter südlich. In der Folge brachten Rebellenkolonnen ein
       Stadtviertel nach dem anderen kampflos unter ihre Kontrolle.
       
       Am Samstag ging der Vormarsch Richtung Osten und Süden weiter.
       Rebellenkämpfer fuhren sogar kurz durch die Straßen der Stadt Hama auf dem
       Weg Richtung Damaskus, bevor sie sich wieder zurückzogen und Stellung
       nördlich der Stadt bezogen.
       
       Südlich von Idlib, in Kafrnabel, filmten sich am Samstag zwei Männer, wie
       sie schniefend auf den Boden fallen und die Erde küssen. „Gott ist groß,
       Gott sei Dank!“, rufen sie. [4][Ein Video] zeigt einen Mann, der bei
       Sonnenuntergang in sein zerstörtes Zuhause zurückkehrt – „Jahre nach dem
       Exil“, wie es heißt. „Wir haben für diese Freude mit Jahren des Schmerzes
       bezahlt“, schreibt der angehende Ingenieur dazu.
       
       ## Angst vor Beschuss – und den Rebellen
       
       Dieser Syrer arbeitet bei der Initiative Molham, die zu Beginn des Krieges
       von syrischen Studierenden gegründet wurde. Die Freiwilligen kümmern sich
       um Essen, Unterkünfte und Medikamente für Bedürftige. Denn für die
       Zivilisten bedeuten die Kämpfe erneutes Leid.
       
       „Viele sind glücklich, weil sie ihre Mütter oder Brüder wiedersehen, die
       sie dreizehn Jahre lang nicht gesehen haben“, sagt ein Zivilist aus der
       Provinz Aleppo der taz am Telefon. „Die Mehrheit der Menschen ist
       gestresst. Es gibt Menschen, die Angst haben, weil sie nicht wissen, was
       die Zukunft bringen wird und wie sie aussehen wird. Die Angst ist groß,
       dass Russland wieder voll in den Krieg eintritt und weiter Raketenangriffe
       fliegt.“ Aleppo sei voller Menschen, „es gibt kaum Trinkwasser oder Brot
       und es mangelt an Lebensmitteln“. Er hat sich auf den Weg nach Aleppo
       gemacht, um Essen und Trinken zu verteilen.
       
       „Die meisten Bäckereien sind geschlossen, Bürgerinitiativen und
       Hilfsverbände aus Idlib und dem Umland versuchen, Brot für Aleppo zu
       sichern“, beschreibt der Kanal [5][Aleppo Community] auf Instagram. Der
       Bedarf an Brot für mehrere Millionen Menschen könne nur gedeckt werden,
       wenn die Bäcker wieder arbeiten könnten. Weite Teile Aleppos seien aber von
       Wasser abgeschnitten, weil es keinen Diesel für den Betrieb der
       Wasserverteilstationen gebe. „In vielen Stadtvierteln ist der Strom
       abgestellt, das Elektrizitätswerk liefert nicht genügend Strom, wegen
       Betriebsstörungen und weil die Stromnetze unter Druck stehen und es an
       Wartungspersonal fehlt.“
       
       „In der ganzen Stadt waren die im Krieg erstarkten Mafia-Strukturen und die
       schlechte Versorgungslage seither ein Problem“, sagt zur Lage in Aleppo
       Bente Scheller, Nahost-Referatsleiterin der Heinrich-Böll Stiftung.
       „Gleichzeitig fürchten sich viele, gerade unter den Christen oder anderen
       Minderheiten wie den Kurden, vor HTS als einer islamistischen Miliz. Ich
       höre von einigen, die die Stadt entweder in Angst vor den Rebellen oder
       schlicht einer weiteren militärischen Eskalation verlassen haben –
       gleichzeitig aber auch eine Erleichterung von Menschen, die es als eine
       Befreiung empfinden, die erstmals seit vielen Jahren wieder ihre
       Familienangehörigen in die Arme schließen können.“
       
       ## Russland macht sich rar
       
       Syriens Regierung hat dem HTS-Vorstoß bisher kaum etwas entgegenzusetzen.
       Armeeeinheiten zogen sich schnell weiträumig zurück, hinterließen dabei oft
       gigantische Mengen von Militärgerät. Iran hält still. Auch die russische
       Luftwaffe hat die Rebellenkolonnen nicht mit großflächigen Angriffen
       aufgehalten; befürchtete massive Gegenschläge Russlands aus der Luft
       beschränken sich auf zivile Ziele in Idlib und Aleppo.
       
       In Moskau sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag, man habe die
       syrische Regierung aufgefordert, die Ordnung wiederherzustellen – eine
       elegante Art, auszudrücken, dass man selbst dafür nichts zu tun gedenkt.
       Die russische Regierung zog ihre Soldaten auch aus der nordsyrischen
       Luftwaffenbasis Tell Rifaat ab. Wer in Syriens Hauptstadt Damaskus
       überhaupt noch die Macht hat, war am Wochenende zunehmend unklar. Syriens
       Diktator Baschar al-Assad flog bereits am Mittwoch nach Moskau.
       
       Das Machtvakuum ruft weitere Akteure auf den Plan. Am Freitag verkündeten
       die pro-türkischen syrischen SNA-Rebellen im Norden des Landes, auch sie
       würden jetzt zu den Waffen greifen. Ihr Hauptfeind ist bisher die syrische
       Kurdenguerilla YPG, die Syriens Nordosten beherrscht, und die SNA soll im
       Begriff sein, durch eigene Vorstöße nördlich von Aleppo eine Ausdehnung des
       Kurdengebiets vereiteln zu wollen. Denn am Samstagmittag wurde gemeldet,
       kurdische Einheiten seien nun ebenfalls Richtung Aleppo vorgerückt und
       hätten den internationalen Flughafen besetzt.
       
       Wie genau sich die Machtverhältnisse zwischen YPG, SNA und HTS rund um
       Aleppo sortieren, dürfte in den nächsten Tagen die entscheidende Frage
       werden. „Meine Leute haben Angst“, erklärte ein christlicher Pater aus
       Aleppo dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN) am Freitag. „Die
       Kriegsgeräusche haben unsere Seelen wieder in Panik versetzt. Wann werden
       wir in der Gewissheit schlafen können, dass morgen ein normaler Tag ist, an
       dem unsere Kinder zur Schule gehen und unsere Älteren arbeiten?“
       
       1 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://x.com/Levant_24_/status/1862752401586868509
   DIR [2] https://x.com/Levant_24_/status/1862509858496335889
   DIR [3] https://x.com/KareemRifai/status/1862536804303249424
   DIR [4] https://www.instagram.com/stories/ammar.antar/3512886431972885349/?utm_source=ig_story_item_share&igsh=MTlqdjZvcXhmcXpxbg%3D%3D
   DIR [5] https://www.instagram.com/p/DDCHBWZsU2d/?igsh=MWc0N3hzZ2d4dzFmZQ%3D%3D&img_index=1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
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