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       # taz.de -- Zieht sich der Künstler-Macher zurück?
       
       > Ein Wahlrecht für Erdbeeren forderte einst die Kuratorin Carolyn
       > Christov-Bakargiev, ihr Nachfolger am Turiner Kunstmuseum Castello di
       > Rivoli will in seiner Antrittsausstellung der Natur eine Stimme geben
       
   IMG Bild: Von Schnecken gemalt: Michel Blazys „Le lâcher d’escargots“ entstand 2009
       
       Von Bernhard Schulz
       
       Wenn der Mensch gestaltet, dann nicht unbedingt zu seinem oder gar der
       Natur Besten. Das bezeugen auch die zahllosen Umweltkatastrophen, die den
       Fortgang menschlicher Eingriffe begleiten. Im Bereich der Kunst aber möchte
       man sich doch gerne als Schöpfer, als Homo Faber, fühlen. Obwohl auch das
       eine Schimäre ist. Denn Kunstwerke verändern sich unter dem Einfluss von
       Natur und Umweltbedingungen. Und sie können mithilfe der Natur geschaffen
       werden. „Gegenseitige Hilfe“ ist die Ausstellung zu diesem Thema der „Kunst
       in Zusammenarbeit mit der Natur“ überschrieben, die der neue Direktor des
       Castello di Rivoli, Francesco Manacorda, zusammentragen ließ.
       
       Die Bauruine eines Residenzschlosses des Savoyer Königshauses in der Nähe
       von Turin wurde vor vierzig Jahren als Sitz eines Museums zeitgenössischer
       Kunst hergerichtet. Der aus zwei gewaltigen, nahezu unverbundenen Bauteilen
       bestehende Komplex birgt eine 170 Meter lange eindrucksvolle, aber
       schwierig zu bespielende Galerie. In diese hinein haben Manacorda und sein
       Team künstlerische Arbeiten gestellt, insbesondere Skulpturen und
       Environments, die teils von Menschenhand, teils von Lebewesen geschaffen
       oder zumindest verändert wurden.
       
       Der Unterschied, versteht sich, liegt darin, dass der Homo Faber ein
       Kunstwerk schaffen will, seine natürlichen Partner hingegen allein ihren
       ererbten Instinkten nachgehen. Es ist der Mensch, der das Ergebnis in den
       Rang eines Kunstwerks hebt.
       
       Solche Arbeitsteilung führt die mittlerweile 93-jährige Agnes Denes vor,
       die 1982 mit dem legendären, von ihr auf dem Aushub einer Baugrube
       ausgesäten [1][Weizenfeld an der Südspitze Manhattans] den Gegensatz von
       Natur und Menschenwerk zuspitzte. Die in Turin gezeigten Fotografien eines
       anderen großen Projekts von Denes, des „Baumberges“ in Finnland,
       unterstreichen nochmals die Autorschaft des Künstlers. Die Natur führt nur
       aus.
       
       Doch der Künstler-Macher hat sich mehr und mehr zurückgezogen. Etwa für die
       Spinnweben, die Tomás Saraceno in Glaskästen aufspannt, oder die
       Schleimspuren von Schnecken, die Michel Blazy 2009 über einen blauen
       Teppichboden hat kriechen lassen.
       
       Den Ausstellungstitel der „Gegenseitigen Hilfe“ haben die Rivoli-Macher bei
       dem russischen Anarchisten und Geografen, [2][Pjotr Kropotkin] und dessen
       wissenschaftlichem Hauptwerk, „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und
       Menschenwelt“, von 1902 ausgeborgt. Kropotkin stellte sich damit gegen
       Charles Darwin und dessen zum Sozialdarwinismus vergröberte Annahme des
       ewigen Konkurrenzkampfes als Motor der Evolution. Unter der Bedingung
       knapper Ressourcen, so Kropotkin, erweise sich gegenseitige Unterstützung
       als wirksamer.
       
       Dass solche Gegenseitigkeit in der Kunst doch eher eine einseitige, vom
       Menschen vorgegebene Unterstützung darstellt, wird im Rivoli deutlich. So
       das Einwuchern einer bronzenen Hand-Skulptur in einen Baumstamm, dessen
       Wachstum Giuseppe Penone über die Jahre hinweg dokumentiert und in seinen
       bekannten Bronze-Abformungen als dauerhaftes Monument zelebriert. Oder die
       von Bibern benagten Baumstämme, die die Japanerin Natsuko Uchino von
       lasergesteuerten Fräsmaschinen in größerem Format reproduzieren lässt.
       
       Zur Feier der Schönheit der Natur werden die großformatigen Aquarelle von
       Schmetterlingen, die Maria Thereza Alves in ihrer brasilianischen Heimat
       gesehen hat und denen sie, wie die Kuratoren es in gängiger Diktion
       formulieren, „eine Stimme geben“ will. All jenen Lebewesen, die bei den
       Entscheidungen des Menschen nicht gefragt werden. So hatte vor Jahren schon
       Manacordas [3][prominente Vorgängerin Carolyn Christov-Bakargiev, Chefin
       der documenta 2012], mit ihrer Forderung nach Wahlrecht für Bienen und
       Erdbeeren argumentiert.
       
       Und Bakterien? Sie machen, was ihnen per Erbgut mitgegeben ist, im Falle
       des Environments von Bianca Bondi und Guillaume Bouisset das Zersetzen von
       Metallen in Wasser. Das Künstlerduo hat die Einzeller in der Camargue
       aufgelesen und lässt sie in den Vertiefungen von Steinen unter
       LED-Wachstumslampen ihre Arbeit tun. Wunderschön das Arrangement aus hellem
       Kalkstein, aufgehäuftem Salz und rötlich sich färbendem Wasser. Am Ende ist
       die Natur der bessere Schöpfer. Kunst wiederum ist der Versuch, es ihr
       gleichzutun: So jedenfalls hatte schon der Fotograf [4][Karl Blossfeldt
       anhand von Pflanzenfotos die „Urformen] der Kunst“, Titel seines
       bahnbrechenden Buches von 1928, aufgespürt. Seine Fotos wären für die
       Ausstellung des Rivoli der passende Auftakt.
       
       „Mutual Aid. Kunst in Zusammenarbeit mit der Natur“. Castello di Rivoli,
       Turin, bis 23. März 2025
       
       20 Nov 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Schulz
       
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