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       # taz.de -- Biografieforscherin Irini Siouti: „Entscheidungen sind immer auch mit Verlust verbunden“
       
       > Irini Siouti wertet Lebensgeschichten aus und erkennt darin Strukturen.
       > Ein Gespräch über „Was wäre wenn“-Fragen und den Begriff
       > Schicksalsschlag.
       
       taz: Frau Siouti, was ist Ihre Aufgabe als Biografieforscherin? 
       
       Irini Siouti: Ganz vereinfacht gesagt, lasse ich mir von Menschen ihre
       Lebensgeschichte erzählen, schreibe diese wortwörtlich auf und werte sie
       anschließend aus. Aus den Erzählungen arbeite ich dann den sogenannten
       Strukturverlauf oder die Strukturlogik einer Biografie heraus. Das
       bedeutet, ich versuche die Interpretationen von Menschen nachzuvollziehen
       und damit zu rekonstruieren, wie sie ihre Lebensgeschichten erzählen,
       erlebt haben und deuten.
       
       taz: Was lässt sich mithilfe von [1][Biografien] herausfinden? 
       
       Siouti: Über Biografien kann ich vor allem einen Zugriff auf die sozialen
       Verhältnisse erlangen. Wenn ich jetzt mal von meinen Forschungsfeldern
       ausgehe – das sind die Migrationsforschung und die Bildungsforschung –,
       kann ich beispielsweise die Frage beantworten, wie Menschen mit Flucht- und
       Migrationserfahrungen politisch partizipieren. Dazu erforsche ich die
       Beweggründe und die Auswirkungen von Migration auf die Lebensgeschichte von
       Menschen, auf die erste Generation, aber auch auf ihre Nachkommen.
       
       taz: Lebensentscheidungen wie die, das Herkunftsland zu verlassen und zu
       migrieren, spielen in der Biografieforschung eine entscheidende Rolle.
       Welche Merkmale haben solche Entscheidungen? 
       
       Siouti: Na ja, wir müssen ja im Grunde ständig Entscheidungen treffen im
       Leben. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen alltäglichen
       Entscheidungen, über die wir uns kaum Gedanken machen – zum Beispiel, wann
       ich mir wie meinen Kaffee am Morgen zubereite –, und ganz wichtigen
       Entscheidungen, die unsere Lebensgeschichte nachhaltig prägen, wie etwa:
       Ich entscheide mich auszuwandern, einen bestimmten Studiengang zu studieren
       oder eine Partnerschaft einzugehen. Auf der Grundlage solcher
       Entscheidungen machen wir bestimmte Erfahrungen. Das Ergebnis dieser
       Erfahrungen ist das sogenannte biografische Wissen, das wir verwenden, um
       Handlungsoptionen zu entwickeln und wieder neue Entscheidungen zu treffen.
       
       taz: Gibt es ein Muster, wann und warum Menschen [2][Lebensentscheidungen
       treffen]? 
       
       Siouti: Es gibt auf jeden Fall bestimmte Muster oder Typen, die wir immer
       wieder in Erzählungen finden. Ein Typ trifft zum Beispiel sehr schnell
       Lebensentscheidungen, während ein anderer nur schwer entscheiden kann oder
       gar nicht und das am liebsten anderen überlässt. Wann und warum Menschen
       Entscheidungen treffen, das ist individuell sehr unterschiedlich. Das hängt
       vor allem von ihren spezifischen biografischen Erfahrungen ab, aber auch
       von psychologischen Dispositionen. Und manchmal ist es auch so, dass die
       Frage nach den individuellen Lebensentscheidungen gar nicht unbedingt an
       den einzelnen Individuen hängt, sondern an den sozialen Verhältnissen und
       den äußeren Umständen.
       
       taz: Können Sie ein Beispiel nennen? 
       
       Siouti: Wenn ich in einer Stadt wohne, in der ein Erdbeben oder eine
       Überschwemmung passiert, und ich von heute auf morgen keine Bleibe mehr
       habe, dann ist das ja nichts, das ich selbst entschieden habe. Es ist
       sozusagen ein von den äußeren Umständen herbeigeführter Leidensprozess.
       
       taz: Viele Menschen ordnen Ereignisse als Schicksalsschläge ein. Was halten
       Sie von dem Begriff? 
       
       Siouti: Ich selbst verwende den Begriff nicht in meiner Forschung. Es gibt
       aber durchaus viele Menschen, die das in ihren Erzählungen tun. Damit
       wollen sie beschreiben, dass sie bestimmte Ereignisse in ihrem Leben als
       von höheren Mächten vorherbestimmt oder von Zufällen bewirkt empfinden.
       Also dass die eigentlich ihrer individuellen Entscheidungsfreiheit entzogen
       waren. Nehmen wir mal ein Beispiel: Ich entscheide mich, in eine andere
       Stadt zu ziehen, und lerne dort meine beste Freundin kennen. Ob ich das
       jetzt als Schicksal empfinde oder nicht, hat auch mit meiner Haltung zu
       tun: Liegt der Verlauf meines Lebens eher in meinen eigenen Händen oder ist
       alles vorherbestimmt durch irgendeine Macht, die unsere Lebenswege lenkt?
       Von Schicksal sprechen Menschen auch oft im Zusammenhang mit Krankheiten
       und Todesfällen. Da kann das schon auch was Tröstliches haben.
       
       taz: Wenn Menschen auf bestimmte Ereignisse in ihrer Vergangenheit
       zurückblicken, stellen sie sich oft Fragen wie: „Was wäre gewesen, wenn ich
       anders entschieden hätte? Wäre ich jetzt ein anderer Mensch, hätte ich das
       nicht gemacht?“ Gibt es dafür bestimmte Auslöser? 
       
       Siouti: Das ist ein sehr spannender Punkt. In der Biografieforschung
       sprechen wir in solchen Fällen von einer Dimension des ungelebten Lebens.
       Das wird oft in lebensgeschichtlichen Erzählungen sichtbar, wenn Menschen
       Bilanz ziehen und sich fragen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie
       so und nicht anders entschieden hätten. Dabei würde ich nicht sagen, dass
       es dafür einen bestimmten Auslöser gibt. Denn es ist ja grundsätzlich so,
       dass eine verbindliche Entscheidung für eine Möglichkeit mit dem Verlust
       aller alternativen Optionen verbunden ist. Das ist eben das unvermeidliche
       Dilemma, wenn ich mich entscheide. Das heißt, wenn ich den Studiengang
       Soziologie wähle, dann entscheide ich mich zugleich auch gegen ganz viele
       andere Studiengänge, die ich hätte anfangen können.
       
       taz: Kann ich in dem Sinne also gar keine richtige Wahl treffen? 
       
       Siouti: Das kommt wieder ganz auf die individuelle Sichtweise an. Wenn ich
       ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben und den Entscheidungen bin, die ich
       in der Vergangenheit getroffen habe, dann stelle ich mir vielleicht weniger
       die Frage, was gewesen wäre. Prinzipiell würde ich aber sagen, dass es
       total verbreitet ist, sich solche Fragen zu stellen, und ein logisches
       Ergebnis biografischer Reflexionsprozesse.
       
       taz: Ein Sprichwort besagt, wir würden nur die Dinge bereuen, die wir nicht
       getan haben. Stimmen Sie zu? 
       
       Siouti: Tendenziell schon, ja, aber das hängt wirklich sehr stark vom
       Kontext ab. Bei einigen Entscheidungen, die man hinterfragt, ist es am Ende
       ja doch so, dass man aus den Erfahrungen lernt und sie deshalb wichtig
       waren. Deshalb regt man bei Kindern auch immer mal an: Du musst deine
       eigenen Erfahrungen machen, das Leben ist ein Lernprozess.
       
       taz: Gibt es also auch keine falschen Entscheidungen? 
       
       Siouti: Ob eine Lebensentscheidung einer Person richtig oder falsch war,
       das muss die jeweilige Person schon selbst entscheiden. Oft ist es ja so,
       dass Menschen im Leben Erfahrungen machen, die für sie ganz schwierig sind
       zu verarbeiten oder die nachhaltig schwerwiegende Folgen haben. Und da ist
       es durchaus nachvollziehbar, dass Menschen bei einer biografischen
       Bilanzierung sagen, sie hätten sich für sich gewünscht, diese Erfahrung
       nicht gemacht zu haben. Das muss man dann auch so annehmen, je nachdem wie
       das subjektiv von den Menschen erlebt und gedeutet wird. Wenn es jetzt um
       grundsätzliche gesellschaftliche Fragen geht oder um politische
       Entscheidungen, ist das aber noch mal eine ganz andere Frage, die ich auch
       anders beantworten würde.
       
       31 Dec 2024
       
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