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       # taz.de -- Abschluss G20-Gipfel in Brasilien: Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
       
       > Auf dem G20-Gipfel wurde deutlich, wie sehr sich die Gewichte in der Welt
       > verschieben. Der Westen steht mit seiner Kritik am russischen Einmarsch
       > allein da.
       
   IMG Bild: Brasilianische Indigene protestieren am Strand von Botafogo in Rio beim G20-Gipfel, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen
       
       Rio de Janeiro taz | Die Welt ist im Wandel, Machtverhältnisse verschieben
       sich. Das ließ sich nirgendwo so gut beobachten wie auf dem Treffen der 20
       führenden Industrie- und Schwellenländer im brasilianischen Rio de Janeiro,
       das am Dienstag zu Ende ging. Auf dem traditionellen Abschlussfoto [1][der
       G20 fehlt der amerikanische Präsident Joe Biden]. Der kam wenige Sekunden
       zu spät zum Fototermin, weil er sich auf dem Weg dorthin verquatschte.
       Offenbar vermisste ihn aber auch niemand. Dafür säumten auffällig viele
       chinesische Flaggen die Promenade an der Copacabana und den Platz vor dem
       Tagungsgelände.
       
       Chinas Staatschef Xi Jinping wurde vom Gastgeber, Brasiliens Präsident Luiz
       Inácio Lula da Silva, sehr herzlich empfangen und bleibt nach Gipfelende
       zum Staatsbesuch. Was sich im vergangenen Jahr beim G20-Gipfel in Delhi
       beobachten ließ wurde nun noch einmal überdeutlich – niemand wartet mehr
       auf die Ansagen des Westens, die sogenannten Schwellenländer spielen ihr
       politisches Gewicht selbstbewusst aus und schaffen selbst Fakten.
       
       Das zeigt sich auch in der Abschlusserklärung, auf die sich die
       Staatschefs, unter denen Frauen nahezu nicht vertreten sind,
       überraschenderweise bereits am ersten Gipfeltag verständigten. Gastgeber
       Brasilien konnte seine wichtigsten Punkte, nämlich den Kampf gegen Hunger
       und Armut dort prominent unterbringen. Außerdem bekennen sich die G20 zu
       einer effektiven Besteuerung von Superreichen, ohne freilich konkret zu
       werden.
       
       Lula da Silva wuchs selbst in einer armen Landarbeiterfamilie im vom Hunger
       geplagten Nordosten Brasiliens auf. Zu Beginn der G20-Präsidentschaft
       kündigte er die Gründung einer globalen Allianz an, die bis 2030 rund 500
       Millionen Menschen durch Transferprogramme und Sozialschutzsysteme
       erreichen will. Auf dem Gipfel wurde die Allianz nun offiziell gegründet,
       als eines der ersten Mitglieder trat Deutschland bei.
       
       ## Kampf gegen Klimawandel ist abgeschwächt
       
       Der deutsche Bundeskanzler betonte am Montag, Deutschland sei der
       zweitgrößte Unterstützer von Entwicklungszusammenarbeit in der Welt, und
       appellierte: „Wir werden diese Aufgabe auch weiterhin wahrnehmen müssen.“
       Geht es ihm doch auch darum, auf diesem Wege Partner aus dem Globalen Süden
       zu gewinnen und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Freilich hatte seine
       auseinandergebrochene Ampelkoalition gerade noch beschlossen, ein Zehntel
       des Entwicklungshaushalts zu kürzen. Dass eine mögliche unionsgeführte
       Regierung diesen Trend bricht, ist eher nicht zu erwarten.
       
       Ein weiterer, für die Entwicklungsländer eher ungünstiger Punkt ist die
       schleichende rhetorische Verwässerung konkreter Maßnahmen im Kampf gegen
       den Klimawandel. Zwar bekennen sich die G20 zum Ziel, die Erderwärmung auf
       1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen.
       Allerdings fehlen konkrete finanzielle Zusagen, es heißt nur, man sehe die
       Notwendigkeit einer raschen und erheblichen Verbesserung zur Finanzierung
       von Klimaschutzmaßnahmen. Die Rede ist von Milliarden zu Billionen aus
       allen Quellen.
       
       Außerdem wird mehrfach auf nationale Gegebenheiten bei der Reduzierung von
       Treibhausgase hingewiesen – Länder wie Saudi-Arabien wollen ihre
       Ölförderung bitte nicht beeinträchtigt sehen – und an einer Stelle sogar
       klar erklärt, dass Maßnahmen zum Klimaschutz kein Mittel sein sollten, um
       internationalen Handel zu beschränken.
       
       Eigentlich erhoffte sich Brasilien vom Gipfel auch Weichenstellungen für
       die Klimakonferenz im nächsten Jahr, die ebenfalls in Brasilien
       stattfindet, in der Regenwaldmetropole Belém. Zugleich wollte man ein
       Signal für die parallel stattfindenden Verhandlungen der COP29 in Baku,
       Aserbaidschan, senden, wo die Gespräche bislang nur schleppend vorankommen.
       Beides ist nicht wirklich geglückt.
       
       ## Scholz forderte klare Sprache
       
       Genauso verschwiemelt kommen auch die Passagen zum Krieg in der Ukraine und
       zum Thema Nahost daher. Immerhin wird der Ukrainekrieg noch erwähnt, doch
       heißt es nur allgemein, dass sich alle Staaten zu den Prinzipien der
       UN-Charta bekennen und „auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zum
       Gebietserwerb“ verzichten sollten. Der Name des Aggressors, also Russland,
       taucht anders als in den Abschlusserklärungen von Bali und Delhi gar nicht
       mehr auf. Scholz hatte noch am Montag eine „klarere Sprache gefordert“. „Zu
       diesen Prinzipien wollen sich alle bekennen, aber man muss dann auch Ross
       und Reiter benennen.“ Doch durchsetzen konnte er sich damit nicht.
       
       Dazu passt, dass Lula da Silva nicht bereit war, auf Drängen der USA und
       Deutschlands, den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskyj nach Rio
       einzuladen oder zuzuschalten. Die Begründung Lulas lautete, er wolle Kriege
       aus den Gesprächen heraushalten, um nicht von anderen wichtigen Themen
       abzulenken. Gleichzeitig wirbt der brasilianische Präsident auch um die
       Gunst Chinas, das den Krieg zwar ärgerlich, aber nicht wirklich schlimm
       findet, weil er Russlands Abhängigkeit von China erhöht.
       
       Die fehlende Präsenz der Ukraine zeigt auch, wie begrenzt der Einfluss der
       größten und der drittgrößten weltweiten Volkswirtschaft gerade ist. Sowohl
       US-Präsident Biden als auch Bundeskanzler Scholz, die in ihren
       Heimatländern als „lame ducks“ gelten, sind politisch stark geschwächt.
       Während Scholz in Rio am Montagabend mit den Staatschefs von Singapur und
       Vietnam sprach und Dienstagmorgen Chinas Staatschef Xi Jinping zum
       25-minütigen Gespräch traf, braute sich in der Heimat ein Putsch gegen ihn
       zusammen, mit dem Ziel, ihn als erneuten Kanzlerkandidaten zu verhindern.
       
       Noch deutlicher lässt sich die Schwäche des Westens in den Passagen zum
       Nahostkonflikt ablesen. Die G20 bringen ihre „tiefe Besorgnis über die
       katastrophale humanitäre Situation im Gazastreifen und die Eskalation im
       Libanon zum Ausdruck“, unterstreichen das palästinensische Recht auf
       Selbstbestimmung und fordern einen Waffenstillstand. An keiner Stelle ist
       aber der Auslöser des gegenwärtigen Krieges erwähnt, das Massaker der Hamas
       am 7. Oktober vergangenen Jahres.
       
       Scholz lobte am Ende des Gipfels, dass es gelungen sei, auf Augenhöhe
       miteinander zu reden. Das Thema Klimaschutz habe am zweiten Tag eine
       größere Rolle gespielt. „Wir müssen und wollen an dieser Stelle
       zusammenarbeiten.“ Mehr als, dass man sich einig sei „dranzubleiben“,
       konnte der Kanzler allerdings nicht vermelden. Und konstatierte: „Der Wind
       in den internationalen Beziehungen wird rauer.“
       
       Seinem Unmut über die laschen Formulierungen in der Abschlusserklärung zu
       den Kriegen in Nahost und der Ukraine macht Scholz ebenfalls Luft. „Ich
       will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hätte, dass wir an dieser
       Stelle noch ein paar weitere Worte finden, zum Beispiel zum
       Selbstverteidigungsrecht Israels und ganz besonders dazu, dass die Hamas
       die Verantwortung für die aktuelle Eskalation trage mit dem furchtbaren und
       menschenverachtenden Angriff auf israelische Bürger.“ Gleiches gelte für
       den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führe.
       
       Scholz bekräftigte dennoch keine Taurus-Raketen zu liefern. Die Ukraine
       könne sich auf Deutschland verlassen. Mit einer Ausnahme. Die Lieferung von
       Taurus wäre eine Fehler. „Ich sage ausdrücklich, ich bleibe bei meiner
       Entscheidung diese Waffe nicht zu liefern.“
       
       ## Die Schwäche des Westens lässt sich deutlich ablesen
       
       [2][Eigentlich hätten weder die USA] noch Deutschland einer solchen
       Abschlusserklärung zustimmen können, gemessen an ihren
       Solidaritätsbekundungen zu Israel. Doch offenbar entschloss man sich, das
       Ganze nicht platzen zu lassen. Ohnehin wurden die Erwartungen im Vorfeld
       tief gehängt. Man solle den Erfolg des Gipfels doch nicht daran messen,
       welche Adjektive in der Abschlusserklärung auftauchten, hieß es vor Scholz’
       Abreise nach Rio aus dem Kanzleramt, und ohnehin sei die Bindewirkung
       solcher Dokumente doch eher eine politische.
       
       Das ist wahr, gleichzeitig sind solche Erklärungen Haltepunkte für
       praktische Politik, sie markieren Festlegungen, hinter die die Staaten dann
       nicht mehr zurückgehen können. Eigentlich.
       
       Wie wenig man sich auf einmal getroffene Vereinbarungen verlassen kann,
       erfährt der deutsche Bundeskanzler gerade am eigenen Leib. [3][Dass Scholz
       beim nächsten G20-Gipfel in Südafrika noch auf dem Familienfoto ist, ist
       derzeit eher unwahrscheinlich].
       
       Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde nachträglich um die Rede von
       Olaf Scholz nach dem G20-Gipfel ergänzt.
       
       19 Nov 2024
       
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