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       # taz.de -- Nomaden in der Mongolei: Rentiere, Starlink und zu viel Wodka
       
       > In der Mongolei leben einige der letzten verbliebenen Rentiernomaden.
       > Über Nomadentum zwischen Tradition und Modernisierung.
       
   IMG Bild: Auf Geweih und Erwerb: Rentiere der Nomaden-Herde im Tengis-Shishged National Park
       
       Tsagaannuur taz | Das Camp der Nomaden wirkt wie ein Ort aus einer anderen
       Zeit: Zwischen Tannen stehen und liegen unzählige Rentiere, die immer
       wieder lautstarke Grunzer von sich geben. Der Waldboden ist mit kleinen
       weißen Schneeinseln bedeckt, die in der Herbstsonne glitzern. Zwischen den
       Rentieren sind fünf Tipis zu sehen, aus denen kleine Rauchwolken in den
       Himmel steigen. Vor einem der Tipis sind Otgonjargal Munkhuu und Sansar
       Ganbat gerade dabei, ihr Hab und Gut zu sortieren. Auf dem Boden liegen
       Decken, Gummistiefel, Kochutensilien und andere Taschen. Daneben warten
       zwei gesattelte Pferde darauf, geritten zu werden.
       
       „Die Rentierwanderung ist eines der Dinge, die ich am meisten liebe“, sagt
       Otgonjargal. Sie trägt eine pinke Funktionsjacke und hellblaue
       Gummistiefel, ihre langen braunen Haare sind mit einer silbernen Spange
       festgemacht. Einen Monat lang werden die Nomaden alle paar Tage ihren
       Standort wechseln. Um für den Winter vorzusorgen, müssen die Rentiere im
       Herbst so viel Fressen wie möglich bekommen. Die Nomaden ziehen deshalb von
       einem Camp zum nächsten, auf der Suche nach Wiesen mit ausreichend Moos und
       Flechten für ihre Tiere. Bis zu zehn Mal pro Jahr wechseln die Nomaden
       ihren Standort – es ist ein Leben in Bewegung.
       
       Das Ehepaar Otgonjargal und Sansar sind zwei von etwa 200 verbliebenen
       Tsaatan-Nomaden im Nordwesten der Mongolei, die dort mit circa 1.500
       Rentieren leben. Beide sind hier aufgewachsen, sie haben die Taiga nur
       verlassen, um im nahegelegenen 2.000-Einwohner-Ort Tsagaannuur zur Schule
       zu gehen. Seit Jahrtausenden leben die Nomaden in der Taiga, ihre indigene
       Kultur war immer wieder vom Aussterben bedroht. Dank Unterstützung von
       außen konnte ihre Lebensweise gerettet werden.
       
       Wie leben die Nomaden im 21. Jahrhundert? Und wird ihre Lebensform in
       Zeiten der Modernisierung weiter bestehen können?
       
       „Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen“, erzählt Otgonjargal wenige
       Tage zuvor in Tsagaannuur. In einer kleinen Holzhütte schneidet sie gerade
       einen beigefarbenen Block in kleine Scheiben. Es ist getrockneter
       Rentierkäse. Sonst machen die Nomaden aus der Rentiermilch auch Butter und
       Joghurt. Die 38-Jährige ist für ein paar Tage im Ort, weil diese Woche für
       ihre achtjährige Tochter die Schule angefangen hat. Sie wird aber nicht
       lange bleiben, da sie für die Migration zurück ins Camp will.
       
       Ihre Großmutter übernimmt dann die Betreuung ihrer Tochter. In Tsagaannuur
       weiß Otgonjargal immer nicht so recht, was sie mit sich anfangen soll.
       „Hier mache ich nur klassische Haushaltsaufgaben, das ist nicht so meins“,
       sagt sie. In der Taiga kann sie sich um die Rentiere kümmern, sie melken,
       anbinden, Milchprodukte herstellen. Das erfüllt sie sehr viel mehr, die
       Tage vergehen dort schneller.
       
       ## Herden waren Staatseigentum
       
       Die Tsaatan gehören zu der ethnischen Gruppe der Tuwa, die in Sibirien und
       im Nordwesten der Mongolei leben. Die Mongolei wurde bis 1990 kommunistisch
       regiert. Die Herden der Nomaden waren damals Staatseigentum; die Hirten
       bekamen lediglich finanzielle Unterstützung für ihre Hütung. Viele der
       erwerbsfähigen Männer wurden gezwungen, in der Fischzucht oder in Fabriken
       zu arbeiten, was einen sesshaften Lebensstil beförderte.
       
       Mit dem Ende des Kommunismus in den 1990er Jahren konnten die Nomaden ihren
       Lebensstil zwar wieder freier verfolgen, doch das Wegbrechen finanzieller
       Hilfen und eine hohe Arbeitslosigkeit führten dazu, dass viele ihre
       Rentiere schlachten und verkaufen mussten. Erst durch den Tourismus ab den
       90er Jahren, internationaler sowie nationaler finanzieller Unterstützung
       konnte sich der Rentierbestand in den letzten Jahrzehnten erholen.
       
       „Früher hatten wir von allem zu wenig“, sagt auch Otgonjargal. Es fehlte an
       Mehl, Reis und Fleisch, sie erinnert sich an kalte Füße im Winter. Sie weiß
       aber nicht mehr, ob die Winter früher kälter waren oder sie damals noch
       keine richtigen Schuhe hatten, erzählt sie schmunzelnd. Jetzt haben sie von
       allem genug. Seit April haben die Nomaden im Osten der Taiga sogar eine
       Internetverbindung per Starlink, Elon Musks Satellitennetzwerk. Das dafür
       nötige Gerät war ein Geschenk einer Lokalpolitikerin, um die Stimmen der
       Nomaden für sich zu gewinnen.
       
       Mittlerweile besitzen Otgonjargal und ihr Ehemann sogar ein kleines Haus in
       Tsagaannuur. Das konnten sie sich nur leisten, weil die Tsaatan, die in der
       Taiga leben, seit 2013 von der Regierung finanziell unterstützt werden.
       Erwachsene bekommen umgerechnet 130 Euro im Monat, Kinder 70 Euro. Das ist
       nicht besonders viel, das durchschnittliche Einkommen in der Mongolei liegt
       bei circa 530 Euro im Monat. Trotzdem konnte das Paar über den finanziellen
       Zuschuss der Regierung über die Jahre Geld sparen und sich das Haus kaufen.
       Doch der Zuschuss hat seinen Preis, wegen ihm haben die Nomaden auch einen
       Teil ihrer indigenen Kultur verloren.
       
       ## Hunderte Rentiere setzen sich in Bewegung
       
       Zurück im Camp der Tsaatan: Nach ein paar Stunden herrscht
       Aufbruchstimmung. Zwischen den Tannen ist Sansar auf einem Pferd zu sehen.
       In seiner rechten Hand hält er ein Seil, an dem fünf voll bepackte Rentiere
       laufen. Er trabt mit ihnen Richtung Wald. Ein paar weitere Nomaden sind
       parallel damit beschäftigt, die im Wald angebundenen Rentiere von den
       Seilen zu lösen. Hunderte Rentiere setzen sich in Bewegung, ihre Hufe
       machen ein sanftes, gedämpftes Geräusch auf dem Waldboden. Dicht gefolgt
       werden sie von mehreren Reitern, die immer wieder „Tschuu, tschuu“ rufen,
       um die Tiere weiter durch den sumpfigen Wald zu treiben.
       
       Nach einem halbstündigen Ritt erstreckt sich die Weite der Taiga in ihrer
       gesamten Schönheit. Rechts und links ragen steile Hügelketten mit gelben,
       orangenen und grünen Tannen in den blauen Himmel. An ihren Spitzen ist
       erster Schnee zu sehen. Dazwischen ein Tal, eine weitläufige Wiese bedeckt
       mit braunen Sträuchern. Außer den Nomaden, ihren Rentieren und ein paar
       anderen Reitern ist nur die Weite der Taiga zu sehen. Auf der linken Seite
       des Tals traben Hunderte Rentiere, gefolgt von den Reitern, einen steilen
       Hügel entlang. Auf der rechten Seite trotten die bepackten Rentiere in
       etwas gemütlicherem Tempo hinterher.
       
       Die Rentierherde zu hüten ist hauptsächlich Aufgabe der Tsaatan-Männer.
       Sonst besorgen und hacken sie auch das Feuerholz, das zum Kochen und Wärmen
       der Tipis gebraucht wird. Früher waren sie zudem viel mit Jagen
       beschäftigt. Aber seit 2013 wurde der Tengis-Shishged National Park, in dem
       die Nomaden leben, zum Naturschutzgebiet erklärt. Die Nomaden dürfen dort
       nicht mehr jagen und fischen. Dafür bekommen sie jetzt Geld von der
       Regierung. Für die Tsaatan war das ein großer Einschnitt in ihre indigene
       Kultur.
       
       „Mit dem Verbot wurde uns ein Stück Freiheit genommen“, sagt Sansar. Zwar
       versteht er, dass gefährdete Arten geschützt werden müssen. Aber für ihn
       ist das Gesetz zu streng ausgelegt. Erst dieses Jahr mussten sie vor dem
       Gericht erscheinen, weil sie erwischt wurden, wie sie illegal einen Elch
       jagten. Die Anklage wurde zwar fallen gelassen, aber da die Nomaden vor Ort
       erscheinen mussten, bedeuten Prozesse wie diese unnötige Kosten, so Sansar.
       
       Für Frustration sorgte auch, dass sie bei dem Verbot wenig in den
       Entscheidungsprozess einbezogen wurden. „Wir wussten erst, dass ein
       Jagdverbot existiert, als ein Ranger vor uns stand“, sagt der 39-Jährige.
       Er würde sich wünschen, dass es ihm wenigstens erlaubt wäre, ein
       Wildschwein für den Winter zu jagen.
       
       ## Umweltschutz verdrängt indigene Kulturen
       
       Dass indigene Kulturen im Sinne des Umweltschutzes verdrängt werden, ist
       ein Phänomen, das sich in der Vergangenheit auch in anderen Teilen der Welt
       beobachten ließ. Zum Beispiel im Yosemite Nationalpark in Kalifornien: Dort
       wurden im 19. Jahrhundert, unter dem Vorwand des Naturschutzes, Indigene
       von weißen Siedlern aus dem Gebiet vertrieben und in ein Reservat
       zwangsumgesiedelt. In der Mongolei können die Tsaatan zwar weiter in dem
       Gebiet leben, doch sie haben das Gefühl, dass durch das Jagdverbot etwas in
       der Natur ins Wanken geraten ist. So beobachten sie in den vergangenen
       Jahren immer mehr Wölfe, die ihren Rentierbestand gefährden, weil sie die
       Tiere nachts angreifen.
       
       Die Parkwächter des Nationalparks berichten, dass seit dem Verbot mehr
       Elche, Luchse und Braunbären beobachtet werden. Und laut einer Studie ist
       die Anzahl von gefährdeten Arten wie dem Sibirischen Steinbock gestiegen.
       Aber wie sich nicht gefährdete Arten wie etwa der Wolf entwickelt haben,
       wird nicht erfasst.
       
       Mit dem Jagdverbot wurde zudem eine neue Abhängigkeit geschaffen. Denn um
       zu überleben, brauchen die Nomaden jetzt auch verarbeitete Lebensmittel wie
       Mehl, getrocknetes Rindfleisch oder Reis. Viele Tsaatan kritisieren, dass
       ihre Ernährung durch das Jagdverbot einseitiger wurde, da ihnen wichtige
       Nährstoffe aus dem Wildfleisch fehlten.
       
       Nach einem dreistündigen Ritt erreichen die Nomaden ihr neues Camp. Dieses
       ist direkt an einem Fluss gelegen, an dessen linkem Ufer sich eine hügelige
       Wiese mit unzähligen Sträuchern erstreckt. Otgonjargal und Sansar haben
       sich bereits in einem neuen Tipi eingerichtet. Die Tipis sind
       Holzkonstruktionen aus mehreren Baumstämmen. Wenn die Nomaden weiterziehen,
       lassen sie die Baumstämme stehen, so müssen sie lediglich Planen auf die
       Tipis spannen, wenn sie ein neues Camp erreichen.
       
       Vor dem Tipi ist Sansar gerade dabei, Holz zu hacken. Otgonjargal treibt
       die Rentiere die hügelige Wiese hinauf. Die herbstliche Abendsonne färbt
       das gesamte Camp in ein goldschimmerndes Licht, dahinter erstrecken sich
       die beruhigenden, weiten Hügelketten der Taiga. Je länger man das Paar in
       ihrem Alltag beobachtet, desto mehr versteht man, warum sie nur dieses
       Leben leben wollen.
       
       „Ich möchte in der Taiga alt werden“, sagt Otgonjargal, wenn man sie fragt,
       wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Sansar gibt die gleiche Antwort. Die
       beiden haben sich in der Taiga kennengelernt, sind gemeinsam dort
       aufgewachsen. Als Sansar 17 Jahre alt war, hat er Otgonjargal einen Brief
       geschrieben. Ein Freund von ihm hat ihn ihr damals überreicht. Darin hat er
       sie gefragt, ob sie mit ihm zusammen sein wolle. Ein Jahr lang hat sie
       nicht geantwortet. Sie wollte sich Zeit lassen. Dann hat er sie noch mal
       gefragt. Diesmal sagte sie Ja. Jetzt sind sie fast 20 Jahre zusammen.
       
       ## Junge Menschen ziehen in die Hauptstadt
       
       Wünschen sich die beiden, dass auch ihre Tochter in der Taiga bleibt? „Ich
       möchte ihr nichts vorschreiben“, sagt Otgonjargal. Sie selbst hatte nie die
       Möglichkeit, zu studieren, deshalb will sie ihrer Tochter eine gute
       Ausbildung ermöglichen. Sie hat zudem das Gefühl, dass sich die mongolische
       Gesellschaft gerade verändert. Dass immer mehr junge Menschen in die
       Hauptstadt ziehen, um dort zu studieren und zu arbeiten. Eine halbe Stunde
       später kommt ihre Tochter zum Gespräch hinzu. Auf die Frage, was sie mal
       werden will, sagt sie prompt: „Mathelehrerin.“ Und warum? „Weil ich gut
       drin bin.“
       
       Dass sich Eltern eine gute Ausbildung eher für ihre Töchter als für ihre
       Söhne wünschen, ist typisch für die Mongolei. Die Söhne hingegen bleiben
       oftmals auf dem Land, um die körperliche Arbeit zu verrichten. So leben
       laut dem mongolischen Statistikamt mehr Männer auf dem Land als in der
       Stadt und Frauen haben insgesamt höhere Bildungsabschlüsse. Das führt
       mitunter dazu, dass viele Männer auf dem Land keine Ehefrauen finden. Und
       ist das bei den Tsaatan nicht auch ein Problem? Nein, sagen Otgonjargal und
       Sansar, es gibt immer noch genug junge Paare in ihrem Stamm, die sich für
       ein Leben in der Taiga entscheiden.
       
       ## Drei Männer schlafen ihren Rausch aus
       
       Am nächsten Tag bereitet Otgonjargal das mongolische Gericht Khoshor in
       einem der Tipis zu. Das frittierte Brot wird mit Fleisch und Zwiebeln
       gefüllt. Auf dem Holzofen in der Mitte des Tipis ist eine kleine runde
       Pfanne, in der heißes Öl brutzelt. Daneben formt eine junge Frau mit
       flinken Bewegungen die kleinen Teigtaschen, bevor sie nach und nach in die
       Pfanne geworfen werden. Neben dem Brutzeln ist auch immer wieder ein lautes
       Schnarchen zu hören. Auf dem Boden des Tipis liegen drei Männer, sie
       schlafen gerade ihren Rausch aus. Die Migration ist ein besonderes Ereignis
       für die Familien. Traditionell bringt jede Familie eine Flasche
       selbstgemachten Schnaps mit zu dem neuen Camp. Und diese muss geleert
       werden, bevor die Nomaden weiterziehen.
       
       Eine Nomadin, die im mittlerweile leeren Camp im Wald Stellung hält, ist
       die 64-jährige Purvee Jambadorj. Sie sitzt gerade in ihrem Tipi, statt dem
       Grunzen der Rentiere ist nur das Knarzen des Feuerholzes aus ihrem Ofen zu
       hören. „Ich vermisse meine Rentiere, ich sehe ihnen so gerne beim Grasen
       zu“, sagt sie. Ihre Kinder haben Sorge, dass sie gesundheitlich nicht fit
       genug ist, um auf die Migration mitzukommen. Sie haben sie deshalb mit der
       Betreuung ihrer Enkel beauftragt. Purvee hat ihr gesamtes Leben in der
       Taiga verbracht. „Unser Alltag ist in den letzten Jahren sehr viel
       einfacher geworden“, sagt sie. Aber diese Entwicklung hat auch ihre
       Schattenseiten.
       
       „In den letzten Jahren hat der Alkoholkonsum unter den jungen Leuten sehr
       stark zugenommen“, sagt die 64-jährige. Da die Nomaden mehr Lebensmittel im
       Ort kaufen müssen, ist die Versuchung größer, auch bei Alkohol ins Regal zu
       greifen. Durch das Geld der Regierung und die Einnahmen aus dem Tourismus
       können sie sich diesen auch mehr leisten. Und Alkohol ist billig und
       überall verfügbar. In keinem anderen Land gibt es so viele Läden, die
       Alkohol verkaufen wie in der Mongolei. Und dann sind da noch die
       Tourist:innen, die gerne mal als Geschenk eine Flasche Wodka mitbringen.
       
       Alkoholismus ist im ganzen Land ein Problem. Laut WHO leiden etwa 8 Prozent
       der Bevölkerung unter Alkoholsucht. In der Mongolei sterben zudem die
       meisten Menschen an Leberkrebs weltweit, was auch auf den hohen
       Alkoholkonsum zurückzuführen ist. Die Gesundheitsprobleme werden von der
       Regierung weitestgehend ignoriert. Denn diese verdient durch Steuern und
       Lizenzen viel Geld mit dem Verkauf.
       
       Die Alkoholindustrie hat eine große Lobby im Land. Alkohol hat zudem einen
       hohen kulturellen Stellenwert, fast jede heimische Marke schmückt ihre
       Flaschen mit einem nationalen Helden aus Zeiten des Mongolischen Reichs.
       Schon damals war Alkohol Teil der Alltagskultur. Die Nomaden mussten durch
       das Jagdverbot einen Teil ihrer traditionellen Lebensweise aufgeben, sie
       sind damit mehr Teil der modernen mongolischen Gesellschaft geworden. Damit
       haben womöglich auch die Kehrseiten wie Alkoholmissbrauch Einzug erhalten.
       
       „Es ist gefährlich, wenn sich die jungen Leute daran gewöhnen“, sagt
       Purvee. Sie versucht, die Kinder über das Thema aufzuklären und mit den
       anderen Familien über die Gefahren ins Gespräch zu kommen. Die Stimme der
       64-Jährigen findet in der Tsaatan-Community mehr Gehör. Zwar bilden die
       Familien die Kerngemeinschaft bei den Nomaden, es gibt keinen Anführer oder
       Anführerin. Doch wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen werden, dann
       wiegt die Meinung der Älteren oftmals mehr. Ihre Erfahrung wird vor allem
       bei der Frage, wann sie weiterziehen, wertgeschätzt.
       
       Was die Aufgabenverteilung angeht, herrscht bei den Tsaatan-Nomaden eine
       relativ klare Geschlechtertrennung. „Es ist wie eine ungeschriebene Regel,
       die von allen akzeptiert wird“, sagt Otgonjargal. Gleichzeitig gibt es aber
       auch immer mehr Frauen, die die Migration begleiten, was traditionell eher
       eine Männeraufgabe ist.
       
       Seit einigen Jahren stellen die Männer aus den Geweihen der Rentiere auch
       kleine Figuren her, die sie im Sommer an Tourist:innen verkaufen. Der
       Tourismus ist eine weitere Einnahmequelle für die Nomaden, ausländische
       Gäste kommen in die Camps und zahlen eine kleine Übernachtungsgebühr, um in
       den Tipis schlafen zu können. Sie kommen vor allem, um den Alltag der
       Nomaden mitzuerleben.
       
       Eine, die die Tourist:innen zu den Nomaden bringt, ist die 33-jährige
       Azjargal Amarsanaa, die alle bei ihrem Spitznamen Azaa kennen. Sie sitzt
       gerade in einer kleinen Hütte in Tsagaannuur. Die junge Frau trägt eine
       Bomberjacke und eine Outdoorhose. Die Hütte gehört ihrer Kollegin, die ab
       und zu für die Gruppen von Tourist:innen kocht. Sie hat nur einen Raum
       mit einem Bett, einer großen Couch und bunt bemalten Regalen. Auf dem
       Holzofen in der Mitte ist eine große metallene Schüssel mit kochendem
       Wasser. Die beiden sind gerade dabei, Dumplings für ausländische Gäste
       zuzubereiten, die heute von einer Tour zurückkommen.
       
       „Ich mache mir Sorgen um eine Niederländerin“, erzählt Azaa. Die Touristin
       sollte schon längst zurück sein, sie habe mehrmals versucht, ihren
       Pferdeführer zu erreichen – doch ohne Erfolg. „Ich hoffe, sie ist nicht vom
       Pferd gefallen“, sagt sie. Gegen 17 Uhr kommt die Niederländerin dann doch
       in der Hütte an. Sie wirkt etwas angestrengt, es gab eine Misskommunikation
       zwischen dem Pferdeführer und ihr, sie wollte noch länger reiten als er.
       Ihr Aufenthalt bei den Nomaden sei schön gewesen, nur hatte sie es sich
       etwas anders vorgestellt, erzählt sie. „Ich wollte noch mehr mit ihnen über
       ihren Alltag ins Gespräch kommen. Aber es wirkte, als wären sie alle etwas
       angestrengt von der Saison“, sagt sie.
       
       Tourist:innen kommen vor allem in den Sommermonaten. Und dann sind es
       ziemlich viele. Allein Azaa organisiert zwölf Touren pro Saison. Stört die
       Nomaden der ständige Besuch? Otgonjargal verneint. Ihr machen die
       ausländischen Gäste nichts aus, da sie ja nur zwei Monate im Jahr kommen.
       Mit dem zusätzlichen Geld kann sie sich Dinge wie ein neues Bett leisten.
       Und Purvee freut sich auf die Tourist:innen. „Ich finde es schön, neue
       Gesichter zu sehen und mehr über andere Lebenswelten zu erfahren“, sagt
       sie.
       
       ## Die Tsaatan erreicht man nur mit dem Pferd
       
       Auch Azaa ist der Meinung, dass die Touren noch immer eine nachhaltige Form
       des Tourismus seien. Die Tsaatan erreicht man nur mit dem Pferd. Je
       nachdem, wo sie sich aufhalten, kann es ein oder mehrere Tage dauern, um
       sie zu finden. Allein das verhindert, dass sich eine Form von
       Massentourismus entwickelt. Die Mutter von zwei Kindern hat zuvor Englisch
       in Murun unterrichtet. Als Lehrerin waren ihr Beruf und die Kinderbetreuung
       um einiges einfacher miteinander zu arrangieren. Doch sie liebt es, mit den
       Pferden in der Natur zu sein. Wenn sie in der Taiga unterwegs ist, passen
       ihre Mutter oder ihr Vater auf ihre Kinder auf. „Ohne sie könnte ich diesen
       Job nicht machen“, sagt die junge Frau.
       
       Dass die Großeltern auf die Enkel aufpassen, während die Kinder einem Job
       in einem anderen Ort nachgehen, ist ganz normal in der Mongolei. Was auch
       damit zusammenhängt, dass immer mehr junge Menschen in der Hoffnung auf
       besser bezahlte Arbeit in die Städte abwandern. „Ich habe das Gefühl, dass
       meine Generation sehr viel materialistischer geworden ist“, sagt Azaa.
       
       Es gehe viel darum, mehr Geld zu verdienen. Auch sie möchte ihren Kindern
       eine gute Ausbildung bieten. Es war auch eine finanzielle Motivation, ein
       Business als Tourguide aufzubauen, um ihren Kindern mal ein Studium im
       Ausland zu ermöglichen. Die Tsaatan würden ihr jedoch helfen, nicht zu viel
       in die Zukunft zu schauen, sondern das Leben im Moment und in der Natur zu
       genießen.
       
       Gleichzeitig ist das moderne Leben auch in der Taiga längst angekommen.
       Dinge wie der Internetzugang und die finanzielle Unterstützung machen den
       Alltag der Nomaden einfacher, haben aber auch neue Abhängigkeiten
       geschaffen. Für welches Leben sich die Kinder der Tsaatan entscheiden, ob
       sie das moderne Leben weiter in ihren Alltag integrieren können oder ganz
       in die Städte abwandern, wird wohl darüber entscheiden, ob die Lebensweise
       der Tsaatan erhalten bleibt.
       
       Im Camp am Fluss sind nach zwei Tagen die umliegenden Sträucher von den
       Rentieren abgegrast. Für Otgonjargal und Sansar bedeutet das: weiterziehen.
       Der Tipi ist so schnell abgebaut, wie er aufgebaut wurde, die Rentiere
       werden wieder mit ihren Habseligkeiten bepackt. Sansar reitet voran,
       Otgonjargal folgt auf einem weißen Pferd, hinter ihr trotten vier voll
       bepackte Rentiere. Dann verschwindet sie in den gelb leuchtenden
       Hügelketten der Taiga.
       
       Diese Recherche wurde mithilfe der Karl-Gerold-Stiftung finanziert.
       
       26 Nov 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabina Zollner
       
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