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       # taz.de -- Stellenabbau bei VW und Thyssenkrupp: Das war die BRD
       
       > Stahl aus dem Ruhrgebiet und der VW-Käfer symbolisieren das westdeutsche
       > Wirtschaftswunder. Ist damit jetzt Schluss? Über den Kampf von
       > Beschäftigten.
       
   IMG Bild: Teil der Industrielandschaft im Ruhrgebiet: Betriebsgelände des Stahlwerks von Thyssenkrupp in Duisburg
       
       Duisburg und Wolfsburg Drei menschengroße Stoffpuppen stehen neben der
       Einfahrt von Tor 1 am Duisburger Stahlwerk von Thyssenkrupp. Sie tragen die
       Nummern 1, 2 und 3. „Jeder 3. kann seinen Arbeitsplatz verlieren“, steht
       auf der dritten Figur. Niemand, der auf das Betriebsgelände geht oder
       fährt, kann die Warnung übersehen.
       
       Die drei Stoffpuppen gehören zur Mahnwache, die sich wenige Meter von der
       früheren Thyssen-Hauptverwaltung entfernt befindet. Tor 1 ist einer von 8
       befahrbaren Eingängen des riesigen Industriegeländes von Thyssenkrupp
       Steel im Duisburger Norden. Neben der Einfahrt haben Beschäftigte weiße
       Zelte aufgebaut, direkt angrenzend an das Betriebsratshaus. An diesem Tag
       sind sie bereits seit 134 Tagen hier im Einsatz – und ein Ende ist nicht
       absehbar.
       
       „Wir kämpfen, solange es nötig ist“, sagt Dirk Riedel, der vor den Zelten
       steht. Er trägt eine leuchtend rote Weste mit IG-Metall-Logo auf der Brust.
       Riedel ist Betriebsrat, er eilt von Besprechung zu Besprechung. Überhaupt
       verbringt er viel Zeit hier. Er zeigt auf eine Tonne, die vor dem Zelt
       steht. „Da wohne ich“, sagt er und lacht. Aber es ist ein bitteres Lachen.
       
       Es geht um viel. Riedel und seine Kolleg:innen stemmen sich gegen den
       Abbau Tausender Jobs, den das Management von Thyssenkrupp brachial
       durchsetzen will. [1][Von 27.000 Stellen in der Stahlsparte sollen 11.000
       wegfallen.] 5.000 durch Streichen, 6.000 durch Auslagerung wie den Verkauf
       von Firmenteilen. Außerdem soll das Werk in Kreuztal-Eichen geschlossen
       werden. Die Stahlsparte braucht viel Geld, um zukunftsfähig zu werden.
       
       ## Nicht nur bei Thyssenkrupp
       
       Dafür will der Mutterkonzern Thyssenkrupp kein Kapital aufbringen,
       gleichzeitig schüttet er viel Geld an die Aktionär:innen aus. Besonders
       der Standort Duisburg wäre vom Stellenabbau betroffen, hier arbeiten mehr
       als 13.700 Menschen. Riedel ist überzeugt, dass es nicht nur um die
       Kolleg:innen hier geht, sondern darum, ob hierzulande überhaupt noch
       Stahl produziert wird. Ohne Stahlerzeugung in Deutschland wandern viele
       Unternehmen ab, fürchtet er. „Dann droht die Deindustrialisierung“, sagt
       er.
       
       Nicht nur bei Thyssenkrupp brodelt es. Die Meldungen von Unternehmen, die
       im großen Stil Stellen abbauen wollen, reißen nicht ab. Die deutsche
       Wirtschaft ist das zweite Jahr in Folge in einer Rezession. Eine schwache
       Nachfrage, hohe Energiekosten und versäumte Investitionen machen vielen
       Betrieben zu schaffen. Zur schwachen Konjunktur kommen strukturelle
       Probleme.
       
       „Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“, sagt der ehemalige
       Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Dieses Modell bestand jahrzehntelang
       darin, dass Deutschland sehr viel mehr produzierte, als es brauchte, und
       die Erzeugnisse in die Welt verkaufte. Vor allem Autos, Chemiegüter und
       Maschinen. Jeder vierte Arbeitsplatz hängt an Ausfuhren. In den
       Exportbranchen verdienen die Beschäftigten meistens gut, auch weil hier die
       Gewerkschaften stark sind. Das steht jetzt auf der Kippe.
       
       Der größte Teil der Stahlproduktion von Thyssenkrupp in Duisburg geht in
       die Autoindustrie. Doch die leidet unter einer Nachfrageflaute. Die
       Manager:innen haben den Umstieg auf E-Autos falsch angepackt und die
       Digitalisierung verschlafen.
       
       ## Erst ab 2027 billige E-Autos
       
       Sinnbild dieser Krise ist Volkswagen. Mit einem Umsatz von 322 Milliarden
       Euro ist das Wolfsburger Unternehmen nicht nur Deutschlands größter
       Autobauer, sondern auch Europas größter Industriekonzern. Der VW Käfer ist
       das Symbol des westdeutschen Wirtschaftswunders. Über Jahrzehnte fuhren
       Eigentümer:innen hohe Dividenden und Arbeiter:innen gute Löhne
       ein. Doch die Zukunftsaussichten sind schlecht.
       
       Besonders in China ist der Absturz beim Absatz hart. Dort hat der Konzern
       vergangenes Jahr noch rund jedes dritte Auto verkauft. Doch er hat ein
       Problem mit seinen Elektromodellen. Sie sind zu teuer, die chinesische
       Konkurrenz hat den deutschen Autobauer in der Volksrepublik abhängt. VW hat
       zwar extra Werke auf den E-Autobau umgerüstet, aber kein günstiges Modell
       im Programm. Erst ab 2027 soll ein E-Auto in der Preisklasse von 20.000
       Euro vom Band laufen.
       
       Anfang September kündigte der Konzernvorstand ein hartes Kürzungspaket an.
       Die Kundschaft für jährlich 500.000 Fahrzeuge fehlt, hieß es aus der
       Chefetage. Das entspricht der Produktion von zwei Werken. Zehntausende
       sollen entlassen, ganze Werke geschlossen werden. Der Lohn soll pauschal um
       zehn Prozent sinken. Der Konzern will 5 Milliarden Euro zusammenbringen,
       die für Investitionen nötig sind. An die Aktionär:innen hat der Konzern
       aber gerade 4,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. Auch der Dieselskandal um
       manipulierte Abgasvorrichtungen hat Milliarden gekostet, die jetzt fehlen.
       
       Wie die Kolleg:innen in Duisburg nehmen die Beschäftigten von VW die
       Kürzungspläne nicht kampflos hin. Während in Duisburg der 134. Tag der
       Mahnwache läuft, [2][ruft die IG Metall in Wolfsburg zu einem Warnstreik
       auf.] Es ist ein kalter, sonniger Vormittag. Über den 1,7 Kilometer langen
       VW-Parkplatz eilen viele zum Werkstor. „Der Umgang, den der Vorstand jetzt
       an den Tag legt, ist etwas ganz Neues“, sagt Nico Schwarz, Führungskraft in
       der IT. Schwarzer Anorak, grüne Mütze, um den Hals trägt er einen roten
       Schal der IG Metall.
       
       ## Die Manager:innen pfeifen auf die Sozialpartnerschaft
       
       „Das ist nicht die Volkswagen-Kultur, die hier seit Jahren gelebt wurde“,
       sagt er. Der Vorstand hat den bestehenden Tarifvertrag für die
       Beschäftigungssicherung gekündigt, der bis 2029 ging. So etwas hat es in
       Wolfsburg noch nicht gegeben. Hier haben sich bislang Unternehmen und
       Betriebsrat immer geeinigt. Das ist neu an dieser Krise bei VW und auch bei
       Thyssenkrupp: Die Manager:innen brüskieren die Gewerkschaften, sie
       pfeifen auf das alte Modell der Sozialpartnerschaft.
       
       Schwarz will schnell weiter, er möchte zur Streikkundgebung. Die IG Metall
       hat auf dem Betriebsgelände eine Bühne aufgebaut, gleich hinter dem
       sogenannten Markenhochhaus, an dem das VW-Logo prangt. Im 13. Stock hat der
       Konzernvorstand seine Büros. Auf dem Platz sammeln sich die Beschäftigten,
       einige in Werks-, andere in Straßenkleidung. Viele IG-Metall-Fahnen wehen,
       auch einige Regenbogenflaggen. „Bundesweit kampfbereit“, ruft ein Vertreter
       der IG Metall von der Bühne.
       
       Die Gewerkschaft hat für diesen Montagvormittag in fast allen deutschen
       Werken zu Warnstreiks aufgerufen. Insgesamt zählt sie bei der Aktion knapp
       100.000 Leute. Damit streikt rund jeder dritte Beschäftigte des Konzerns in
       Deutschland, zu dem auch Automarken wie Porsche, Audi und Škoda gehören.
       Nur in Osnabrück wird gearbeitet. Dort gilt nicht der VW-Haustarifvertrag,
       sondern der Abschluss für die Elektro- und Metallindustrie. Die
       Beschäftigten dürfen deshalb nicht in den Ausstand.
       
       „Die Lage ist schwieriger als vor 30 Jahren“, sagt ein Wolfsburger
       Arbeiter, der schon lange bei VW ist. Er trägt eine leichte schwarze
       Daunenjacke und eine rote Mütze mit IG-Metall-Logo. Wie viele hier will er
       seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Damals, Anfang der 1990er Jahre,
       steckte VW schon mal in einer Krise, Arbeitsplätze sollten gestrichen
       werden. Dann machte die IG Metall einen Vorschlag: Statt einen Teil der
       Belegschaft zu entlassen, sollten alle etwas weniger arbeiten. Gewerkschaft
       und Vorstand einigten sich auf die Einführung einer 4-Tage-Woche. 30.000
       Stellen wurden gerettet. Seitdem galt eine Jobgarantie – bis das Management
       sie im September aufkündigte.
       
       ## Wurzeln im VW-Land
       
       Die Krise ist auch eine Bewährungsprobe für Daniela Cavallo. Ihr Vater kam
       einst aus Italien in die Autostadt, um bei VW zu arbeiten. Seit Mai 2021
       ist sie Konzernbetriebsratschefin, die oberste Arbeitnehmervertreterin bei
       VW. Sie muss nun mit den Arbeitgebern über Sozialplan und
       Interessenausgleich, über Massenentlassungen und Werksschließungen
       verhandeln. „Wir haben unsere Wurzeln hier im VW-Land. Viele schon seit
       Generationen“, ruft Cavallo von der Bühne. „Wir geben unser Geld hier aus.
       Werktags und am Wochenende. Wir geben es dem Bäcker, dem Schlachter, dem
       Handwerker um die Ecke.“ Ihre Botschaft: Geht es VW schlecht, leidet die
       ganze Region.
       
       Die Stahlarbeiter:innen bei Thyssenkrupp in Duisburg verfolgen genau,
       was in Wolfsburg passiert. Kurz vor dem Warnstreik war eine Delegation bei
       den VW-Kolleg:innen, um Solidarität zu zeigen. Wie VW steht der Stahl aus
       dem Ruhrgebiet für das westdeutsche Wirtschaftswunder. Das Areal von
       Thyssenkrupp im Duisburger Norden gilt immer noch als größtes
       zusammenhängendes Industriegebiet Europas, inklusive 300 Kilometer
       Schienennetz.
       
       Vier Hochöfen stehen hier, rund um die Uhr wird Stahl produziert, für die
       Autoherstellung, für Haushaltsgeräte, für das Blech von Konservendosen.
       „420 Kilo Stahl verbraucht jeder Bürger pro Jahr, und das wird nicht
       weniger“, sagt Tekin Nasikkol, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von
       Thyssenkrupp Steel. „Wir stellen kein auslaufendes Produkt her, was keiner
       braucht.“ Er ist zudem als Konzernbetriebsratsvorsitzender für das gesamte
       Unternehmen Thyssenkrupp AG zuständig.
       
       Neben seinem Büro in der Konzernzentrale in Essen hat er eines in Duisburg
       im Betriebsratshaus. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen Papiere
       und Flugblätter. „Vorwärts erinnern – 25 Jahre Rheinhausen“, steht auf
       einem. Der Name des Duisburger Stadtviertels steht für den legendären
       Arbeitskampf in den 1980ern. Die ganze Stadt kämpfte für den Erhalt des
       Stahlwerks, Arbeiter:innen und Bürger:innen besetzten Brücken und
       Autobahnen – vergebens. „Die Geschichte von Rheinhausen hat sich wie eine
       Narbe in Duisburg eingeprägt“, sagt er. „Aber die Situation jetzt ist nicht
       mit Rheinhausen zu vergleichen.“ Denn Rheinhausen war ein kleiner Standort.
       Hier im Duisburger Norden geht es nicht um einen Teil. Hier geht es ums
       Ganze.
       
       ## Die Transformation ist teuer
       
       Die gigantische Industrieanlage ist mit den umliegenden Stadtteilen fest
       verwachsen. Schornsteine, runde und rechteckige Zweckbauten ragen hinter
       Häusern hervor. Riesige Rohre laufen an Überführungen und Straßen vorbei.
       „Hochofengas“ oder „Kokereigas“ steht darauf – sehr klimaschädliche Stoffe.
       Wie die gesamte Branche steht Thyssenkrupp vor einer enormen
       Herausforderung: Die Produktion des Unternehmens soll klimaneutral werden.
       
       Diese Transformation ist teuer. Stahl wird heute mit Kohle hergestellt,
       dabei werden große Mengen CO2 freigesetzt. Thyssenkrupp gehört zu den
       Unternehmen, die vormachen sollen, wie es geht: [3][Statt Kohle soll
       Wasserstoff bei der Stahlerzeugung benutzt werden.] Die Bundesregierung und
       die NRW-Landesregierung fördern die erste Direktreduktionsanlage mit zwei
       Milliarden Euro, daran hält das Unternehmen trotz der angedrohten
       Stellenstreichungen fest. „Das ist politisch gut investiertes Geld in den
       Strukturwandel, in die grüne Transformation und in den Wirtschaftsstandort
       Deutschland“, sagt Nasikkol. „Man lernt bei der Transformation im
       Vorwärtsgehen. Wenn die erste Anlage steht, wird es einfacher.“
       
       Nasikkol sieht in klimaneutralem Stahl einen Hebel für die ganze Industrie.
       Alle aus grünem Stahl hergestellten Produkte vom Auto bis zur Waschmaschine
       werden klimafreundlicher, das könnte ein enormer Wachstumsmarkt werden.
       „Deutschland kann eine Vorreiterrolle spielen beim grünen Stahl“, sagt
       Nasikkol. Aber vieles ist unklar: Was wird der Wasserstoff kosten, wird es
       überhaupt genug davon geben? Welchen Preis können Hersteller für grünen
       Stahl abrufen? Manager:innen könnten wegen der nötigen hohen
       Investitionen und der Risiken beschließen, ganz auf die Produktion in
       Deutschland zu verzichten. „Eine Reduzierung der Rohstoffkapazitäten oder
       eine Verlagerung der Wertschöpfungsketten ins Ausland hat Konsequenzen für
       den Wirtschaftsstandort Deutschland“, warnt der Gesamtbetriebsrat.
       
       Das wäre der erste Schritt zur Deindustrialisierung. Dann müsste Stahl
       importiert werden. Die Abhängigkeit von anderen Staaten würde Deutschland
       erpressbar machen, sagt Nasikkol. „Die Welt wird ja nicht friedlicher, die
       geopolitischen Risiken wachsen.“ Lieferketten würden fragiler.
       
       ## Mahnungen ohne Erfolg
       
       Bund und Land wollen am Stahl festhalten, aber was Thyssenkrupp will, ist
       unklar. „Stahl ist system- und sicherheitsrelevant. Die Politik hat ein
       klares Bekenntnis zur Stahlproduktion in Deutschland abgelegt“, sagt
       Nasikkol mit Blick auf die Förderung für das Transformationsprojekt. „Das
       verpflichtet auch das Unternehmen.“ Doch das Management hadert seit Langem
       mit der Stahlsparte. Mehr, als sie auszulagern, fällt den Managern nicht
       ein. Im Frühjahr holten sie dafür den umstrittenen [4][tschechischen
       Milliardär Daniel Křetínský als Investor an Bord.] Im August schmiss der
       frühere SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel seinen Aufsichtsratsvorsitz
       im Streit um die künftige Ausrichtung des Unternehmens hin.
       
       Die Hersteller leiden nicht nur unter billigen Importen aus Asien und dem
       Konjunkturtief. Für Thyssenkrupp sind die hohen Energiepreise ein Problem.
       Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wollte deshalb einen günstigen
       Industriestrompreis für energieintensive Betriebe einführen. Doch daraus
       ist nichts geworden. Nasikkol blickt mit gemischten Gefühlen auf den
       beginnenden Wahlkampf. „Wir bekommen jetzt jede Menge Bekenntnisse zum
       Stahlstandort“, sagt er. Nasikkol will mehr, etwa wettbewerbsfähige
       Energiepreise. Doch bis zum kommenden Sommer wird sich auf Bundesebene
       industriepolitisch nicht viel bewegen.
       
       Eine weitere Option zur Stabilisierung von Thyssenkrupp Steel könnte ein
       größeres Engagement des Staates sein. „Wenn das Land und der Bund
       mitinvestieren, müssen sie auch dafür sorgen, dass das Geld gut angelegt
       ist“, sagt Nasikkol. Die Hoffnung: Die Politiker:innen sorgen dafür,
       dass die Rahmenbedingungen für die Stahlproduktion in Deutschland so gut
       sind, dass die Unternehmen sie nicht verkleinern oder ins Ausland
       verlagern.
       
       Bei VW ist das Land Niedersachsen mit einem Anteil von 20 Prozent beteiligt
       und der zweitgrößte Einzelaktionär. Mehr als die Hälfte der Aktien sind im
       Besitz der Familien Porsche und Piëch. Auch Katar hält Anteile. So ist der
       Arbeitsplatzerhalt bei Volkswagen auch ein Politikum. Bei der
       Betriebsversammlung zwei Tage nach dem Warnstreik ist neben Konzernchef
       Oliver Blume auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. „Der langfristige
       wirtschaftliche Erfolg dieses Unternehmens geht nur mit den Beschäftigten
       dieses Unternehmens – und nicht gegen sie“, sagt der SPD-Politiker. Eine
       solche Ermahnung hat der Minister in der Vergangenheit auch gen
       Thyssenkrupp gerichtet. Ohne Erfolg.
       
       ## „Unsere Arche Noah war Thyssenkrupp“
       
       In Duisburg kann die Gewerkschaft nicht zu einem Streik aufrufen. Es
       herrscht die sogenannte Friedenspflicht, solange der geltende Tarifvertrag
       läuft, das ist bis 2026. Betriebsräte und IG Metall müssen sich auf
       Aktionen und die Mahnwache beschränken. Im Eingangszelt der Mahnwache
       stehen Bänke. An der Rückwand ist das Fenster zum Betriebsratshaus
       geöffnet. Durch eine Zeltplane geht es in einen zweiten Raum. 39
       freigestellte Betriebsräte gibt es bei Thyssenkrupp. Sie wechseln sich mit
       ihren Schichten bei der Mahnwache ab, zusätzlich zur Betriebsratsarbeit.
       Das Zelt hat einen Holzboden, Bänke, Tische, an der Wand stehen lila
       Sessel. Ein Heizlüfter sorgt für Wärme.
       
       Es herrscht ein Kommen und Gehen. Viele waren früher auf anderen „Hütten“,
       wie sie die Stahlbetriebe hier nennen. Davon gab es einst eine ganze Menge.
       Hoesch, Mannesmann, Thyssen, Krupp. Fusion für Fusion wurden es weniger
       Unternehmen und weniger Arbeitsplätze. Die Betriebsräte im Zelt wünschen
       sich mehr Engagement von den Kolleg:innen im Werk. Sie glauben, dass
       viele noch nicht realisiert haben, was ihnen droht – oder davon ausgehen,
       dass es sie nicht trifft. „Es ist schon menschlich, zu hoffen, verschont zu
       werden“, sagt einer.
       
       Ihr Kollege Peter Ludwig kommt nach der Schicht im Zelt vorbei, er trägt
       noch die graue Arbeitskleidung. Er arbeitet im Bereich der Gasversorgung.
       Bei den sauberen Gasen, betont er. Das sind die, die wie Stickstoff für die
       Reinigung von Ventilen benutzt werden – nicht die klimaschädlichen. Ludwig,
       Jahrgang 1966, arbeitet seit 1982 in der Stahlindustrie. Machte früher ein
       Stahlhersteller zu, gingen die einen Kolleg:innen in Frührente, die
       anderen zu einem anderen Unternehmen. „Unsere Arche Noah war Thyssenkrupp“,
       sagt Ludwig. „Wenn es das nicht mehr gibt, wissen wir nicht, wohin.“
       
       Ludwig hat denselben Beruf wie sein Vater, sein Sohn hat das Gleiche
       gelernt: Betriebsschlosser, heute heißt es Industriemechaniker. Solche
       Familientraditionen gibt es hier oft. „Mein Vater hat zu mir gesagt: Geh
       auf die Hütte, das ist krisensicher und es gibt ein gutes soziales Netz“,
       sagt Ludwig. Der Vater wurde vor 30 Jahren mit 54 in die Frührente
       geschickt, am Morgen war er noch bei der Mahnwache. „Er ist mit 110 Prozent
       in den Ruhestand gegangen“, berichtet Ludwig. Der Vater hat als Rentner
       also zehn Prozent mehr Geld bekommen als vorher.
       
       ## Duisburg ist jetzt schon arm
       
       Die Betriebsräte nicken, solche Geschichten kennt hier jeder. Aber keiner
       glaubt, dass ihnen der vorzeitige Ruhestand so schmackhaft gemacht wird. Im
       Gegenteil, sie müssen heftige Abstriche fürchten. Für die jungen wie
       Ludwigs Sohn kommt das sowieso nicht in Frage. Er ist 23. „Er bildet sich
       weiter“, sagt Ludwig. Das wird den Sohn vor Arbeitslosigkeit bewahren,
       hofft er.
       
       Duisburg ist schon jetzt eine Stadt mit überdurchschnittlicher Armut und
       Arbeitslosigkeit. Massenentlassungen bei Thyssenkrupp würde die Lage weiter
       verschlimmern.
       
       Auch für Wolfsburg wäre ein Stellenabbau bei VW bitter. „Es ist in
       Wolfsburg immer zu spüren, wenn es Volkswagen nicht gut geht“, sagt eine
       Lebkuchenverkäuferin in der Fußgängerzone. Auch im Outlet-Center unweit des
       Bahnhofs ist die VW-Krise angekommen. „Ja, das merkt man schon“, sagt Robin
       Paar, der im Center den Laden eines Grill-Herstellers leitet.
       
       Das Weihnachtsgeschäft läuft auf „nicht ganz so hohem Niveau“ wie sonst,
       erzählt der Wolfsburger, dessen Vater bis vor einem Jahr bei VW gearbeitet
       hat. Die Stammkundschaft, die nach Schichtende vorbeischaut, kauft jetzt
       eher Kleinigkeiten. Dennoch bleibt Paar optimistisch: „Krisen gab es schon
       öfter mal da drüben“, sagt er Richtung VW-Werk. „Dieses Mal sind die Sorgen
       etwas größer. Aber auch das wird sich wieder legen.“
       
       6 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Stellenstreichungen-bei-Thyssenkrupp/!6048527
   DIR [2] /Warnstreiks-bei-VW/!6049853
   DIR [3] /Transformation-der-Industrie/!6047210
   DIR [4] /Stellenabbau-bei-Thyssenkrupp/!6049670
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Krüger
   DIR Simon Poelchau
       
       ## TAGS
       
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       Die Ampelkoalition wollte Deutschland zum internationalen Leitmarkt für
       E-Autos machen. Doch wird das Land die gesteckten Ziele weit verfehlen.
       
   DIR Scholz zu Besuch bei Ford: Gas geben für den Wahlkampf
       
       Statt der Autoindustrie aus der Krise zu helfen, nutzt Kanzler Scholz den
       Besuch bei Ford als Wahlkampftermin. Mehr Kaufanreize werden Jobs nicht
       sichern.
       
   DIR Krise der Stahlindustrie: Scholz will europäischen Stahlgipfel
       
       Der Bundeskanzler hat sich mit Vertreter:innen der Stahlindustrie
       getroffen. Ob er die in Aussicht gestellte Hilfe liefern kann, ist
       ungewiss.
       
   DIR Krise bei Autobauern: IG Metall kündigt bei VW flächendeckende Warnstreiks an
       
       Im Tarifkonflikt bei VW stehen die Zeichen auf Arbeitskampf. Mit
       demonstrativen Aktionen begeht die IG Metall das Ende der Friedenspflicht.
       
   DIR Lorenzo Annese über Integration: „VW ist für mich eine Familie“
       
       Als erster ausländischer Betriebsrat in Deutschland half Lorenzo Annese bei
       VW in Wolfsburg auch anderen Gastarbeitern. Das wurde nun gewürdigt.
       
   DIR Kommentar: Zweifelhaftes Wirtschaftswunder
       
       Wachstum, das sich allein auf den Export stützt, kann nicht von Dauer sein.
       Die Löhne müssen steigen.