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       # taz.de -- Nach dem Sturz Assads: Zuversicht kommt nicht von alleine
       
       > Frieden in Syrien erreicht man nicht mit Wahlkampfparolen. Unser
       > Gastautor war viele Jahre für die Region aktiv und plädiert für
       > pragmatisches Anpacken.
       
   IMG Bild: Aleppo, Syrien, 11. Dezember, kurz nach dem Sturz des Assad-Regimes
       
       Jeden Tag um 7.15 Uhr morgens klingelt mein Handy. Es ist der
       Sicherheitsbericht aus Nordsyrien, damit wir in Deutschland wissen, wie
       die aktuelle Lage rund um unsere Hilfsprojekte ist, in Idlib, bei Aleppo
       und in Jerablus. Über tausend kleine Mitteilungen haben sich inzwischen
       angesammelt. Es ist die Chronik der Instabilität.
       
       Ohne fundiertes Wissen um die Abkürzungen bleiben die Nachrichten
       allerdings ein Rätsel: GOS, SDF, GOR, OAG, HTS und etliche andere. Es sind
       die sogenannten Player in der Region, Gruppen, die mit Waffengewalt um die
       Vormacht ringen. Neulinge in unserer Organisation stolpern schon mal über
       NWS, dabei handelt es sich nur um die harmlose Ortsangabe:
       Nord-West-Syrien. Seit letztem Wochenende fehlt die größte Fraktion: GOS
       (Government of Syria) Forces, Assads Kampftruppe gegen Zivilisten, die für
       den Diktator allesamt „Terroristen“ waren. Sogar wenige Stunden [1][nach
       dem Jahrhundertbeben] im Februar 2023 mit über 60.000 Toten bombardierten
       Assads Flieger die Menschen im Epizentrum des Bebens – noch bevor ein
       einziger Hilfs-Lkw dort eintraf.
       
       Das spiegelt die Gesamtsituation der humanitären Hilfe in Syrien wider. Der
       Krieg, das Erdbeben, der Zusammenbruch der Wirtschaft stürzten Millionen
       Menschen ins Elend. Humanitäre Hilfe wurde kaum zugelassen, und wenn, dann
       nur mit massiven Diebstählen durch die Regierung in Damaskus selbst. Die
       für die kostenlose Verteilung gelieferten Decken mit der Aufschrift „UN“
       mussten die Syrer teuer am Markt kaufen. Aber erst, nachdem sich in den
       Lagerhäusern die Limousinen mit den verdunkelten Scheiben den Kofferraum
       gefüllt hatten.
       
       Diese Limousinen mit ihren regierungsnahen Besitzern sind seit wenigen
       Tagen nicht mehr unterwegs. Ist jetzt endlich der Moment gekommen, in dem
       man in Syrien Menschen aus Dreck, Hunger und Armut retten kann? Die neuen
       Machthaber genießen auf dem Gebiet der humanitären Hilfe kein Vertrauen.
       Noch nicht. Immer wieder wurde in der Vergangenheit berichtet, dass das HTS
       die Verteilung von Hilfsgütern „reguliert“, das heißt konfisziert und an
       ihre Begünstigten verteilt. Sogenannte „Steuern“ wurde auf die Hilfsgüter
       erhoben. Im Blockieren von Spendengut waren sich Assad und seine Feinde
       einig.
       
       ## Sachverstand und Schutz
       
       Als wir unsere Lkws aus dem Libanon in das syrische Erdbebengebiet
       schickten, wurden sie von den Grenzposten Assads nicht einfach
       durchgelassen. Einmal wurde eine „Steuer“ von 5.000 US-Dollar verlangt, ein
       paar Tage später kam man nur durch, wenn der Besitzer (!) des Lkws
       persönlich anwesend war. Die Fantasie der Assad-Mafia kannte keine Grenzen.
       Alles diente vorgeblich der Sicherheit. Wenn wir sieben Lkws nach Syrien
       schickten, habe ich sie auf sieben verschiedenen Routen in das Zielgebiet
       fahren lassen. Wenn einer gestoppt und ausgeraubt wird, fällt nicht der
       ganze Konvoi in kriminelle Hände. Es waren viel Ortskenntnis, Geschick und
       unglaubliches Glück nötig, damit unsere Hilfsgüter ohne Verlust ihre Ziele
       erreichten.
       
       Jeder weiß, dass in Syrien humanitäre Hilfe in großem Ausmaß jetzt SOFORT
       geleistet werden muss. Demokratie, Wahlen, Rechtssicherheit sind dringend
       nötig, aber brauchen ihre Zeit. Wasser und Brot müssen heute geliefert
       werden. Ohne „Steuern“ und kriminellen Schnickschnack. Jeder Lkw darf und
       muss durchsucht werden, damit Hilfsleistungen nicht für Waffentransporte
       missbraucht werden. Aber dann bitte schnell Türen zu und mit Vollgas zu den
       Bedürftigen.
       
       Es gibt Anzeichen dafür, dass die neuen Machthaber die Zeichen verstanden
       haben: Unsere Projekte in Syrien laufen weiter, ohne Belästigung, ohne
       Erpressungsversuche. Das ist ein kleines Bildungsprojekt südlich von
       Damaskus, das ist Berufsausbildung in Nordsyrien, das ist Essensverteilung
       in Aleppo. Alles läuft und soll noch weiter ausgebaut werden.
       Traumabehandlungen stehen weit oben auf der Liste, Waisenhäuser, neue
       Schulbücher, sauberes Wasser und technische Hilfe für die Landwirtschaft,
       da die Kampfstoffe die Erde kontaminiert haben. Und das ist nur ein kleiner
       Teil der endlosen Liste, um die Syrer aus der Not zu holen.
       
       Die Kämpfe in Syrien haben die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten
       Weltkrieg ausgelöst. Das muss endlich Vergangenheit werden. Da helfen aber
       keine Wahlkampfparolen à la „alle Syrer zurück“. Sondern Sachverstand und
       Schutz von all denen, die Hilfe leisten. Es ist die Stunde null Syriens.
       [2][Türkei, Kurden, HTS] stehen sich an vielen Stellen waffenstarrend
       gegenüber.
       
       ## Grund für Optimismus
       
       Es ist noch lange keine Ruhe eingekehrt. Aber eine halbfaschistische
       Diktatur ist Geschichte geworden. Das ist Grund für Optimismus und um
       anzupacken. Die gebrauchten Feuerwehrfahrzeuge, die unsere Organisation
       nach Aleppo geschickt hat, waren jahrelang im Kriegseinsatz. Sie retteten
       Menschen aus den Trümmern, die Assads illegale Fassbomben hinterließen.
       Manche Fahrzeuge wurden von russischen Piloten gezielt bombardiert, die
       Helfer getötet. Kriegsverbrechen.
       
       Doch dann erreichte mich am Handy ein Foto aus Aleppo. Zwei Feuerwehrleute
       knien neben dem Feuerwehrauto aus einer kleinen bayerischen Gemeinde am
       Mittelstreifen einer reparierten Straße. Mit dem Schlauch gießen sie kleine
       Pflänzchen, die einmal zu hübschen Büschen werden sollen. Dafür braucht es
       aber so etwas wie Frieden und Zuversicht. Das kommt nicht von alleine. Für
       uns stehen Telefonate an mit dem HTS. Unsere Forderung lautet: Lasst uns
       helfen. Ja, ich bin optimistisch.
       
       Der Autor arbeitet als Journalist und Kabarettist in München und ist
       Vorsitzender von [3][Orienthelfer e. V.]
       
       13 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Syrien-nach-dem-Erdbeben/!5920061
   DIR [2] /Tuerkei-und-Israel-nach-Assad-Sturz/!6051754
   DIR [3] https://www.orienthelfer.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Springer
       
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