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       # taz.de -- Die Wahrheit: Damaskus lässt grüßen
       
       > Endlich Gutes von der Deutschen Bahn: Eine syrische Weihnachtsgeschichte
       > zwischen Leer und Leipzig. Mit einem ganz besonderen Fahrgast.
       
   IMG Bild: Erstaunlich weihnachtlich geht's zu auf den regionalen Strecken der Deutschen Bahn
       
       Der IC Leer–Leipzig ist spärlich besetzt, so kommt auch schon kurz nach der
       Abfahrt der Zugbegleiter und will die Fahrkarten sehen. Im Großraumabteil
       sitzt Osama bin Laden, oder zumindest sieht er so aus: glatter,
       graumelierter Bart, große braune Augen, allerdings eine freundliche, ja
       heilige Aura.
       
       „Die Fahrkarte bitte“, sagt der Schaffner zu Osama, „your Ticket“. Osama
       reicht dem Zugbegleiter etwas. „No!“, entfährt es dem Zugbegleiter.
       „Impossible! Das ist eine Busfahrkarte. Bus! This is a train. You need a
       Zugticket!“ Osama lächelt. „Where do you go?“, versucht es der
       Zugbegleiter und macht Vorschläge: „Berlin? Munich? Köln?“ Osamas Gesicht
       leuchtet auf. „Damaskus“, sagt er.
       
       „Also, das ist …“ Der Zugbegleiter ist fassungslos, hilfesuchend schweift
       sein Blick durch den Waggon, bleibt bei einer südländisch aussehenden Frau
       hängen. „Can you translate, bitte?“, bittet er. „Sehr gern“, erwidert die
       junge Frau in bestem Deutsch, begibt sich zu Osama und unterhält sich mit
       ihm in einer Sprache, die wie Arabisch klingt. „Osnabrück“, sagt sie dann.
       „Der Herr will nach Osnabrück.“
       
       „Osnabrück!“, wiederholt der Zugbegleiter. „Das gibt's nicht. Der will mit
       ’nem Busticket erst nach Damaskus und jetzt nach Osnabrück … wait!“, sagt
       er dann zu Osama, „next station Augustfehn, there you and I leave the train
       and buy you a ticket. Understand?“ Und weil das alles ein bisschen gedauert
       hat und es von Leer nach Augustfehn nicht weit ist, ist der IC auch schon
       in Augustfehn. Der Zugbegleiter und Osama verlassen den Großraumwagen, der
       Zug fährt nach einer Weile wieder an.
       
       ## Zocker mit Ticketnummer
       
       „Was war das denn?“, fragt ein seiner Lektüre zufolge an Poesie
       interessierter Mann seine Begleiterin. „War das ein Zocker, der sehen
       wollte, ob er mit ner Busticket-Nummer durchkommt, oder ein Irrer, der …“ –
       „Weder noch“, sagt die kluge Frau, „das war ein Gott.“ – „Ein Gott?“ –
       „Natürlich. Du kennst doch die Geschichten von den Göttern, die sich unter
       Menschen begeben und gucken, ob es vielleicht noch ein paar Gerechte gibt
       …“ – „Hm“, brummt der Mann.
       
       Dann kommt Oldenburg, dann Bremen, nur der Zugbegleiter kommt nicht mehr.
       Während der IC auf Hannover zurauscht, werden der Zugbegleiter und Osama
       wohl noch immer auf dem Augustfehner Bahnsteig stehen und sich bemühen, dem
       Automaten ein Ticket zu entlocken, was aber nicht funktioniert, weil der
       Automat sie naturgemäß mit Mitteilungen à la „Vorgang abgebrochen“ immer
       wieder nötigt, den Kaufvorgang neu zu starten.
       
       Selbstverständlich gibt es in Augustfehn kein Fahrgastzentrum, in dem eine
       Fahrkarte erworben werden kann. Und der RE 1, der eine Stunde später fährt,
       fällt sowieso aus. Vielleicht aber ist Osama wirklich ein Gott und hat im
       zwar schwer genervten, aber doch hilfswilligen Zugbegleiter einen der
       wenigen Guten unter den Menschen gefunden, und nun feiern beide diese frohe
       Zusammenkunft in Augustfehn bei einem alkoholfreien Glühwein. Denn das hier
       sollte unbedingt eine Weihnachtsgeschichte werden.
       
       11 Dec 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Schaefer
       
       ## TAGS
       
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