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       # taz.de -- Musical-Verfilmung „Wicked“: Gesungene Rassismuskritik mit Bambiaugen
       
       > Dichotomische Wahrheiten und meisterlich erfüllte Rollen. Die
       > Musical-Verfilmung „Wicked“ stellt zu reichlich Tanz und Gesang aktuelle
       > Fragen.
       
   IMG Bild: Unwahrscheinliche Allianz: Die Hexen Galinda und Elphaba
       
       Gut oder böse. Dazwischen gibt es nichts. Von jeher bestimmt diese
       vereinfachende Dichotomie unsere Narrative – erst recht, wenn es um
       Erzählungen für Kinder geht. Bei den Brüdern Grimm, die im 19. Jahrhundert
       die bis heute wichtigste [1][Sammlung von Volksmärchen] vorlegten, sieht
       man den „Guten“ ihre weiße Weste an. Sie sind schön, „rein“ und klug,
       heißen Schneewittchen, Rotkäppchen oder Rapunzel, sind Prinzessinnen oder
       Bauerntöchter, während es sich bei den „Bösen“ um bärtige Giftzwerge,
       Stiefmütter – oder hässliche, alte Hexen handelt.
       
       Im von diesen weiblichen Figuren und deren Pubertätsgeschichten dominierten
       klassischen Märchen ist die Hexe ein „Supervillain“. Die erste Grimm’sche
       Niederschrift von „Hänsel und Gretel“ stammt aus dem Jahr 1812 – 30 Jahre
       nach einer der [2][letzten europäischen Hinrichtungen einer Frau als Hexe:
       Im Jahr 1782 wurde einer Magd in der Schweiz der Prozess gemacht]. Die
       Anklage – die Magd hatte angeblich dafür gesorgt, dass Kinder in ihrer
       Obhut Stecknadeln spucken – presste die sogenannte Teufelsbuhlschaft aus
       ihr heraus, in den misogynen Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit zumeist
       der Grund für den Abfall einer Frau vom „rechten Weg“. Frauen waren eben
       leicht beeinflussbare und unbedarfte Wesen, mit von Natur aus lüsternen
       Leibern.
       
       Dass eine Hexe „gut“ (und damit auch „hübsch“) sein könne, war damals nicht
       vorgesehen. Dennoch erfand der mit einer Suffragette verheiratete
       US-amerikanische Schriftsteller L. Frank Baum im Jahr 1900 und in Kenntnis
       der Grimm’schen Märchen eine Geschichte, in der es „böse“ und „gute“ Hexen
       gab: Mit „The Wonderful Wizard of Oz“ (auf Deutsch: „Der Zauberer von Oz“)
       schuf er ein amerikanisches Märchen, das die Dürrezeiten aus seiner
       Kindheit ebenso spiegelte, wie es klassische Märchenmotive aufgriff. Die
       Geschichte von Dorothy, die in einem magischen Land die bis heute viel
       benutzte Held:innen-Gruppenreise unternimmt, bei der jedes Mitglied der
       Gruppe zum Gelingen der „Mission“ beitragen muss, wurde [3][1939 in dem bis
       dahin teuersten und buntesten Fantasyfilm des Hollywoodkinos adaptiert].
       
       ## Gute Hexe, böse Hexe
       
       In diesem Film tauchen zwei Hexen auf: Die weiße Glinda, gespielt von
       Billie Burke, ist die „Gute Hexe des Nordens“ und Dorothys Beschützern. Sie
       reist standesgemäß in einer Zauberkugel statt auf dem Besen, trägt eine
       rosa glitzernde Robe und eine Krone und hat die blonden Haare zu
       prachtvollen Wellen gekreppt. Sogar ihr Zauberstab schmückt ein Sternchen.
       Der von Margaret Hamilton gespielten „Bösen Hexe des Westens“ dagegen, in
       der Original-Alliteration die „Wicked Witch of the West“, sieht man ihre
       „Wickedness“ an: Sie hat grüne Haut, ist älter, bucklig und hager mit
       prominenter Hakennase, trägt schwarze Kleidung und Hexenhut, reitet auf
       einem Besen und hat eine fiese Lache. Als Dorothy und Glinda sich das erste
       Mal treffen, verleiht Dorothy ihrem vom traditionellen Märchenwissen
       geprägten Erstaunen Ausdruck: „Ich dachte, Hexen sind alt und hässlich
       …„Glinda erklärt daraufhin die einfache, ebenfalls dichotomische Wahrheit:
       „Nur böse Hexen sind hässlich!“
       
       Aber es gibt eben doch einiges zwischen „gut“ und „böse“, zwischen den
       subjektiven Urteilen „schön“ und „hässlich“. „Wicked“, die neue
       Filmadaption des gleichnamigen Musicals, das wiederum auf einem 1995
       erschienene Buch des Schriftstellers Gregory Maguire beruhte, untersucht
       genau dieses Spannungsfeld. Als Prequel zu Dorothys Oz-Abenteuer stellt es
       die Figuren in den Vordergrund, die ihr Schicksal später bestimmen werden:
       die Hexen.
       
       Inszeniert vom Regisseur Jon M. Chu, konzentriert sich die Geschichte um
       Glinda, damals noch „Galinda“ (Ariana Grande) und der von Maguire „Elphaba“
       genannten West-Hexe (Cynthia Erivo) auf die Vergangenheit der Magierinnen.
       Denn Galinda und Elphaba kennen sich aus der Schule, waren gar Freundinnen.
       
       Der Erzählrahmen beginnt in „Wicked“ auf einem zentralen Platz im
       Munchkinland, wo Galinda sich bemüßigt fühlt, den neugierigen Munchkins von
       früher zu erzählen. Einst lernten sich die blonde, eitle und beliebte
       Galinda und die von ihren Eltern aufgrund ihrer grünen Hautfarbe
       verachtete, aus „prekärer“ Oz-Umgebung stammende Außenseiterin Elphaba
       nämlich in der „Shiz-Universität“ kennen, einer Art Oz-Hogwarts. Hier trägt
       man fröhliche Farben, verehrt highschoolmäßig die „coolen“ Kids – und
       erschreckt sich kollektiv über die schwarz gekleidete neue Mitschülerin mit
       ihrer missmutig-grünen Miene, die eher zufällig einen Platz am
       Prestige-Institut ergattert – jemand bemerkt ihre Zauberkräfte. Dass
       Elphaba und Galinda sich ein Zimmer teilen müssen, wird der Hintergrund
       vieler gelungener Gags, in denen Galindas rosa Überseekoffer und ihr
       überbordendes Selbstbewusstsein eine große Rolle spielen: Allein, wie
       Grande als Galinda wimpernklimpernd die glänzenden Haare im „hairflip“
       zurückwirft, ist großartig.
       
       Natürlich nähern sich die beiden ungleichen Eleven dennoch langsam, sehr
       langsam an – und das trotz des Auftauchens eines attraktiven, zunächst
       oberflächlich scheinenden Love Interest, des Prinzen Fiyero (Jonathan
       Bailey), der seine Ignoranz gegenüber den Ungerechtigkeiten der Welt bei
       seinem Entree-Song mit dem hübschen Reim „Life’s more painless / for the
       brainless“ ausdrückt, und sich auch sonst um jede Ambivalenz herumlächelt.
       Nach verschiedenen Animositäten, Annäherungen und Elphabas Entdeckung, dass
       die sprechenden, weisen, teils als Dozenten eingesetzten Tiere von Oz
       anscheinend durch ein Komplott zu stummen Untertanen gemacht werden sollen,
       reisen Elphaba und Galinda schließlich gemeinsam nach „Emerald City“
       (bekannt aus dem 1939er Film), um beim Zauberer von Oz (Jeff Goldblum)
       vorzusprechen.
       
       Es passiert noch viel mehr in diesem ersten von zwei Filmteilen, der
       folgerichtig ein offenes Ende anbietet. Das opulente „world-building“ der
       Produktion, die der Technik der 30er Jahre natürlich überlegen ist,
       funktioniert hervorragend, die von Stephen Schwartz geschriebenen
       Musical-Songs sind lustig und angemessen überkandidelt. Und die
       Darsteller:innen, allen voran der Popstar Grande mit den Bambiaugen und die
       im wahren Leben passenderweise tatsächlich recht ernst wirkende britische
       Sängerin und Schauspielerin Erivo, die während der Werbekampagne mit einem
       entrüsteten Kommentar zu einem angeblich unverschämten Plakatmotiv einen
       Shitstorm auslöste, erfüllen ihre Rollen meisterlich.
       
       Die enthaltenen Konnotationen zum Hautfarbenrassismus, die Überwindung von
       Diskriminierung durch solidarische Frauenfreundschaft und die wichtige
       Grunderkenntnis, dass – anders als es Märchen erzählen – niemand „böse“
       geboren wird, sondern dass verletzte, traumatisierte, schlecht behandelte
       Menschen „böse“ Dinge tun, „hurt people, hurt people“, macht den Film trotz
       fett arrangierten Dauergesinges und der Farben-, Tanz-und Kostümüberdosis
       zu einem höchst unterhaltsamen Plädoyer für Toleranz, Differenzierung und
       Humanismus.
       
       Zudem ist er rein motivisch erschreckend aktuell. Es kann kein Zufall sein,
       dass die Figur der Hexe für zwei der momentan wichtigsten politischen
       Diskurse steht: den menschengemachten Klimawandel (die Hexe ist schließlich
       die originäre Wetterzauberin) und das Recht von Frauen auf den eigenen
       Körper (die Hexe als Hebamme und Heilerin). Für wen der große Scharlatan
       und Lügner, der Wizard of Oz selbst, stehen könnte, erklärt dann
       hoffentlich der zweite Teil.
       
       „Wicked“. Regie: John M. Chu. Mit Cynthia Erivo, Ariana Grande-Butera u. a.
       USA 2024, 160 Min. (Teil 1)
       
       11 Dec 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jenni Zylka
       
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