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       # taz.de -- Jazzalbum von Tomin Perea-Chamblee: Tomins minimalistische Melancholie
       
       > Aus Verbindung wird Vergänglichkeit – und umgekehrt: Tomin gibt sein
       > Solodebüt mit einem Album voller eigenwilliger Jazz-Miniaturen.
       
   IMG Bild: Im Brotberuf Bioinformatiker: Tomin
       
       Berlin taz | Vergangenen Sommer, an einem schwülen Abend in Wrocław –
       geplättet im Hostelzimmer, schließlich war ich den Tag über unterwegs. Eine
       Mail plingt rein. Bandcamp kündigt eine Listening Session an: „Flores para
       Verene / Cantos para Caramina“ heißt das Album, Tomin der Künstler.
       
       Nie gehört. Doch wenn das US-Label International Anthem neue Musik
       präsentiert, kann man das guten Gewissens als Anlass für eine späte Siesta
       nehmen. [1][2014 gegründet, um die Szene der in Chicago ansässigen, aus dem
       Freejazz hervorgegangenen Association for the Advancement of Creative
       Musicians (AACM) abzubilden, war International Anthem von Anfang an bemüht,
       mehr als nur ein Jazzlabel zu sein.]
       
       Mittlerweile kommen auch etliche der Musiker:innen von anderswo. Wie
       etwa der 27-jährige Tomin Perea-Chamblee aus Brooklyn, der diverse Blech-
       und Holzblasinstrumente spielt. Während der Pandemie hatte er erste Songs
       in Eigeninitiative veröffentlicht, verrät das Internet; bis 2020 war er
       Teil des New Yorker Avantgarde-Kollektivs Standing On the Corner. Höre und
       staune, als welch besonderes Album sich „Flores …“ bald entpuppt! 24
       schlichte und zugleich eigenwillige Miniaturen, die zum
       melancholisch-geschmeidigen Ganzen verschmelzen.
       
       Die erste Hälfte der 37 Minuten hält Interpretationen von Jazzstandards,
       etwa Duke Ellingtons „Come Sunday“ und „Fables of Faubus“ aus der Feder von
       Charles Mingus bereit. Aber auch obskureres Material – gespielt von Tomin
       jeweils nur mit Trompete oder Klarinette. Bisweilen umtänzeln sich beide
       Instrumente an skelettierten Melodien.
       
       Gewidmet hat Tomin diese Interpretationen seiner Großmutter. Wie sehr ihn
       ihr Tod erschütterte, beschreibt er eindrücklich in den Linernotes. Zwei
       Jahrzehnte zuvor war sie in die USA gekommen, um sich um Tomin zu kümmern
       und seine Eltern zu entlasten.
       
       ## Eigenkompositionen voller überraschender Schlenker
       
       Die zweite Hälfte des Albums besteht aus ähnlich reduzierten
       Eigenkompositionen voller überraschender Schlenker. Der warme Bläsersound
       wird bisweilen durch Sinuswellen runtergekühlt, etwa in „Naima“. Tomin, im
       Brotberuf Bioinformatiker, versteht es offenbar, Kompositionen zu sezieren
       und aufs Wesentliche zu reduzieren. Aus Kompliziertem wird Einfaches, aus
       Verbindung Vergänglichkeit – und umgekehrt.
       
       Noch mal kurz zurück nach Wrocław: Der Nachhall der Albumpräsentation setzt
       den Abend in ein neues Licht. Die Atmosphäre der Tracks scheint gemacht
       dafür, zur Blauen Stunde durch eine geschichtsträchtige Stadt zu radeln und
       sich beim Fremdsein irgendwie verloren und beschwingt zugleich zu fühlen.
       
       Geknickt lassen mich die klanggewordenen Haikus allerdings nicht zurück,
       obwohl Tomin anlässlich der Albumveröffentlichung betont, er wolle „mit
       seiner Melancholie niemanden verschrecken“ – die Stimmungen des Albums
       seien jedoch vor allem „Ausdruck tiefer Trauer“.
       
       Kontemplativ und eher introspektiv klingt auch Tomins „A Willed and
       Conscious Balance“, das nun, wenige Wochen später, erschienen ist. Und doch
       ist die Anmutung eine andere, hat der 27-jährige Musiker doch für das Album
       ein Ensemble um sich versammelt. Er selbst spielt hier zudem Flöte und
       Euphonium: Seit Ende der Highschool pflegt er die kleine Tradition, sich
       alle zwei, drei Jahre ein neues Instrument anzuschaffen.
       
       ## Illustres Ensemble
       
       Melancholisch ist die Anmutung des epischen und dabei schlurfend
       schlendernden „Untitled Dirge“. Getragen wird es maßgeblich von zwei Cellos
       und erinnert an einen Trauermarsch. Doch es stecken auch flirrende Grooves,
       ein munteres Vortasten oder psychedelisches Mäandern in dieser Musik, die
       mal orchestral, dann improvisatorisch nachhallt.
       
       Aufgenommen hatte das illustre Ensemble – [2][unter anderem mit einstigen
       Mitmusiker:innen der 2022 verstorbenen US-Jazztrompeterin Jaimie
       Branch] – all das fast komplett an einem Tag vergangenen Februar. Man kann
       den Entstehungsprozess dieser Musik förmlich erlauschen. Und doch klingt
       das selten überfrachtet oder diffus, sondern sortiert sich vielmehr in
       Echtzeit. Fasziniernd!
       
       26 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /US-Musiker-Damon-Locks/!5613256
   DIR [2] /Jaimie-Branch-Album-aus-dem-Nachlass/!5960041
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
       ## TAGS
       
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