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       # taz.de -- Ausstellung in Berlin Scharf-Gerstenberg: „Ein bisschen obszöner Sex“
       
       > Charles Baudelaire suchte nach der Schönheit im Hässlichen. Wie er damit
       > die Kunst anregte, untersucht die Berliner Ausstellung „Böse Blumen“.
       
   IMG Bild: Schön im Verfall: Moritz Wehrmann (* 1980): „Les Fleurs du Mal (I)“, 2012
       
       In üppigen Rosa- und Pinktönen prangt die geöffnet poppige Blüte auf den
       Flaggen vor der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Charlottenburg, wie eine
       feiste Vulva aus einer Sechziger-Jahre-Sci-Fi-Porno-Fantasie. Das aus der
       Arbeit „Pflanze Nr. VIII–1968“ des Künstlers und experimentellen
       Druckgrafikers Gernot Bubenik entnommene florale Symbol ist das
       Schlüsselmotiv der Ausstellung „Böse Blumen“, die in der vergangenen Woche
       eröffnete. Ausgeschnitten und auf tiefes Schwarz gesetzt wird das
       Bilddetail so verfremdet, dass es schwerfällt, es im Museum unter den
       ausgestellten Werken wiederzuerkennen.
       
       Doch ist das Motiv treffend ausgesucht, um die Ausstellung nach außen zu
       kommunizieren: ein bisschen obszöner Sex, viel Weiblichkeit, ein bisschen
       Skandal, ein bisschen Kitsch, ein bisschen Aus-dem-Kontext-Genommenes.
       Damit erwartet die Besucher in den schummrig beleuchteten
       Ausstellungsräumen eine recht wortwörtliche Interpretation des
       Ausstellungstitels – der deutschen Übersetzung des Gedichtbandes „Les
       Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire aus dem Jahr 1857.
       
       Das literarische Werk Baudelaires, welches direkt nach Veröffentlichung
       zuerst aufgrund Verletzung öffentlicher Moral verboten wurde, gilt mit
       seiner damals neuen, provokanten Hinwendung zum Elend des Großstadtmenschen
       des 19. Jahrhunderts, zu [1][Hässlichkeit], Melancholie, Überfluss und
       Verfall als Ausgangspunkt der modernen, europäischen Lyrik. Damit ist Ton
       und Grundstein gesetzt für die Kuration der Sammlungsleiterin Kyllikki
       Zacharias.
       
       Menschliche Abgründe 
       
       „Die Ausstellung ‚Böse Blumen‘ ist eine Gratwanderung. Sie wirft einen
       Blick in menschliche Abgründe und gerät an die Grenzen des guten
       Geschmacks“, heißt es im von Zacharias verfassten Katalogvorwort. Die
       Ankündigung hält, was sie verspricht. In thematisch geordneten Blöcken rund
       um die Auswüchse des Schlechten und Bösen, Negativen, des Kranken und
       Verfallenden und all seinen ästhetischen Verlockungen finden sich Werke aus
       fast zweihundert Jahren.
       
       Da sind die von Félix Bracquemonds angefertigten, abgelehnten
       Frontispiz-Entwürfe für die erste Ausgabe des Gedichtbands und natürlich
       die bekannten Stiche Odilion Redons, dessen Werk immer wieder direkten
       Bezug zu Baudelaire nahm, Arbeiten von [2][Hannah Höch], Paul Klee und Hans
       Bellmer.
       
       Auch zeitgenössische Werke lassen sich finden, etwa ein gepresster Kaktus
       von Julius von Bismarck, eine sich in Mohnkapseln auflösende Keramikbüste
       Oliver Baks und eine berührende Installation von [3][Fatoş İrwen] aus
       vertrockneten Pflanzen und den Haaren ihrer Mitgefangenen, die die
       kurdische İrwen bei einem ihrer Gefängnisaufenthalte in der repressiven
       Türkei sammelte.
       
       Ergänzt wird die Schau durch Ephemera und Objekte wie die überaus schönen
       und zuweilen recht humorvollen Oblatenbögen (insbesondere ein mit ihnen
       collagierter Paravent anonymer Herkunft aus dem 19. Jahrhundert lohnt jeden
       zweiten Blick), floral geformte Vasen aus der Sammlung des Bröhan-Museums
       und medizinische Modelle wie die Maske „Diagnose Lues II Papulöses
       Syphilid“.
       
       Blumen des Grauens 
       
       Doch nicht nur thematisch naheliegende Objekte aus den staatlichen
       Sammlungen haben ihren Weg in die Ausstellung gefunden. Vielleicht um der
       provozierenden Skandalträchtigkeit von Baudelaires Lyrik Rechnung zu
       tragen, fasst das Kapitel „Blumen des Grauens“ (bewegte) Bilder des
       menschlichen Horrors: Propagandafilme Leni Riefenstahls, Atombombentests,
       der Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center inklusive
       prominentem Stockhausen-Zitat („das größte Kunstwerk, das man sich
       vorstellen kann“). Dazu gehören auch Coronaviren, leider spektakulär durch
       KI bearbeitete und nicht die kleinen, zarten Originalbilder, die wohl das
       RKI zur Verfügung stellte.
       
       Während die Intention der Kuration intuitiv nachvollziehbar ist, bleibt die
       ängstliche Ausführung hier leider an der Grenze des guten Geschmacks
       stehen. Die Bilder laufen auf Flachbildschirmen, wie sie auch in
       Sportwettbüros hängen könnten, montiert auf einer merkwürdig ornamentierten
       Tapete, wodurch sowohl der Schrecken als auch die Schönheit verschwinden.
       
       Während im Ausstellungstext das Hässliche und Böse für die Surrealisten als
       „magischer Zauberschlüssel einer gänzlich neuen Ästhetik“ herangeführt
       wird, windet sich die Ausstellung hier doch unentschlossen um ihre eigene
       Aussage herum, so als hätte man sich dann doch vor dem eigenen Mut zur
       Provokation erschrocken. Das zeigt, wie schade es sein kann, die
       Radikalität kuratorischer Fokussierung zu fürchten.
       
       19 Dec 2024
       
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