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       # taz.de -- Elke Schmitter über Liebe: Der Sternenstaub ist abgerieselt
       
       > Wunder, Narzissmus, Seelenqual: Elke Schmitter erkundet in ihrem neuen
       > Roman die Liebe und ihre Abgründe.
       
   IMG Bild: Welche Rolle spielen all die ausgeschütteten Endorphine und Dopamine – und wie wird zwei verliebten Menschen ein Paar?
       
       Wie lässt sich von der Liebe erzählen? In ihrem neuen Roman nähert sich die
       Berliner Autorin Elke Schmitter (die taz-Leser*innen [1][nicht unbekannt
       sein dürfte)] diesem großen Thema zunächst mit dem Blick einer Forschenden.
       Sie fragt: Welche Typen von Verliebten gibt es (die strahlenden
       Scheinwerfer, die brodelnden Glückstöpfe, die unentwegt Redenden – und
       Freundin F, die sich als vollkommen leidenschaftslos entpuppt).
       
       Welche Rolle spielt die „innere Chemiefabrik“, all die ausgeschütteten
       Endorphine und Dopamine – und was braucht es, damit aus zwei verliebten
       Menschen ein Paar wird, ein Ereignis, das Schmitter als „ontologisches
       Wunder“ ansieht.
       
       Verschiedene Liebesanfänge spielt die Erzählerin durch, präsentiert wie
       soziologische Fallgeschichten: Da ist der Mann, mit dem sie beim
       Wildwasserkanufahren in Kalifornien in Seenot gerät und, zu zweit nackt in
       einen Schlafsackkokon gepresst, die drohende Lungenentzündung abwendet …
       doch bevor bei der Leserin der innere Liebesfilm ablaufen kann, schwenkt
       Schmitter zum nächsten „Fall“: eine Urlaubsbegegnung auf Madeira.
       Vietnamveteran John ist „ein freier, beinahe schwereloser Mann“, der in
       Alaska Häuser repariert und nachts manchmal schreiend aufwacht. Auch dieser
       Anfang wird nicht weitererzählt, statt dessen philosophische Exkurse.
       
       ## Die „Typologie“ wird zur Liebesgeschichte
       
       Gerade als man sich fragt, wohin Schmitter will mit ihrer Typologie, die
       eher ein fußnotengesättigtes Durchstreifen der eigenen Vergangenheit ist,
       kommt es zur Partybegegnung mit einem „schmalen, unauffällig dunkel
       gekleideten Menschen“. Was sich nachfolgend ereignet, unter der
       anspielungsreichen Überschrift „Geschichte der H“, wendet die „Typologie“
       zur Liebesgeschichte. Levin, eine „hoch bewusste Erscheinung“ mit
       Sommersprossen und rötlichen Locken trifft auf die Ich-Erzählerin und
       Künstlerin Helena.
       
       Es beginnt harmlos: Man schreibt sich Mails, diskutiert beim Spaziergang
       ein Buch über Narzissmus (die Pointe erschließt sich erst später). Er
       trinkt Kaffee mit Hafermilch, sie von der Kuh. Vorsichtig betasten sich
       hier zwei urbane „Kopffüßler“ in ihrer zweiten Lebenshälfte. Schon zu
       Beginn der Idylle streut Schmitter einen Warnhinweis ein: „Ein […] Blick
       von mir zu ihm, in diesem kurzen Moment des Aufgewecktseins aus der Trance.
       Eine Art Vorsicht, ein Auftrag aus der Zukunft: Schau noch einmal hin. Das
       ist der Mann; ist das der Mann, dem du dich anvertrauen willst?“
       
       Helena aber will. Es folgen unbeholfene körperliche Annäherungen im Wechsel
       mit intellektuellem Austausch, etwa über Sloterdijks Heraklit-Auslegung der
       vom Logos aufgehellten Seele und der Frage, [2][was wohl Freud dazu gesagt
       hätte.] Vielleicht ist es von Schmitter so gewollt, jedenfalls erfasst die
       Leserin bei diesen geistigen Höhenflügen eine gewisse Ungeduld: Kommt
       endlich zur Sache! Stattdessen aber erst mal: gegenseitiges Aufarbeiten des
       eigenen „Triebschicksals“ (beide sind psychoanalyseerfahren), verkorkste
       Rückzieher von seiner Seite, kommunikative Pannen, Versöhnung.
       
       ## Vergewaltigung auf einer Reise
       
       Und dann kommt eine Passage, die mitten hineinknallt in diesen bis dahin
       auf Abstand geschriebenen Roman: eine Vergewaltigung auf einer Reise nach
       Marokko, beschrieben bis ins Detail. „Von nun an war ich eine vergewaltigte
       Frau und war es auch nicht, ich muss mich für die zweite Version
       entschieden haben“, schreibt Helena und kommt zu dem Schluss, weniger
       traumatisiert zu sein als möglich.
       
       Und doch: Mit dieser Geschichte im Rücken liest sich, was folgt, anders:
       als die Annäherung zweier Versehrter, wobei die Ursache für Levins
       Versehrtheit im Dunkeln bleibt; sie zeigt sich nur in seinem Verhalten, das
       auch Helena ins Unglück reißt: Eine Bemerkung über einen möglicherweise
       Verflossenen und aus dem feinsinnigen Buddhisten wird, ausgerechnet in
       einer Bettsituation, ein kalter Gegenspieler. Verzweifelt notiert sie:
       „Noch sitzen wir in derselben Schatulle, deren Wände dunkel geworden sind,
       der Sternenstaub ist abgerieselt.“
       
       Mit derselben sprachlichen Genauigkeit, mit der Schmitters zuvor den Zauber
       des Zueinanderfindens beschrieben hat, nimmt sie sich nun der Liebesqualen
       der jäh aus der Liebesbubble Gestoßenen an: Warum ist er so, was hätte ich
       wann (nicht) sagen sollen, was kann ich tun, damit es wieder wird wie
       zuvor?
       
       ## Psychoanalyse und Betrinken
       
       Helena schreibt Briefe und schickt sie nicht ab. Geht zur Analytikerin und
       betrinkt sich mit Freunden. Nach zwei Monaten ein Treffen im Café, wo Levin
       sich als banaler Idiot entpuppt, von Schmitter wunderbar in wenigen Sätzen
       verdichtet: „Weißt du, das alles ist angesichts dessen, was in der Welt so
       los ist, vielleicht auch gar nicht so wichtig. So etwas kommt vor. Dass
       zwei Menschen sich nicht verstehen, dass es ein paarmal hin und her geht,
       bis man das feststellt.“
       
       Während die Leserin spätestens an dieser Stelle fertig ist mit diesem
       toxischen Exemplar, klammert sich die Protagonistin an klinische Diagnosen
       (mal ist es Narzissmus, dann Autismus, schließlich bipolare Störung –
       [3][oder doch ADHS?)] und fällt in ein abgrundtiefes Seelenloch. Ihr
       Schmerz wird kontrastiert mit den „Briefen einer Leidenschaft“ der Pariser
       Salonnière Julie de Lespinasse aus dem 18. Jahrhundert.
       
       Über Dutzende Seiten verfolgt man die Qual dieser ausgehungerten Seele, die
       kämpft, sich verrennt und entblößt – um am Ende wieder bei sich anzukommen.
       Ein nicht immer einfach zu lesendes, aber sprachlich wunderbares Buch, das
       noch länger im Kopf bleibt.
       
       26 Dec 2024
       
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