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       # taz.de -- Ein Herz für Osteuropa: Die Verwahrlosung Europas ist aufhaltbar
       
       > Tausende kämpfen auf den Straßen Osteuropas für Freiheit und Demokratie –
       > und der Westen glotzt dazu. 2025 muss das anders werden: mehr
       > Solidarität!
       
   IMG Bild: Demonstrierende protestieren in Belgrad mit roter Farbe an den Händen, die Blut symbolisiert, gegen die serbischen Behörden
       
       Wie immer in den Jahresrückblicken dominieren auch dieses Jahr die Grusel-
       und Schockergeschichten. Dabei ging das Jahr 2024 zumindest in Europa
       besser zu Ende als gedacht.
       
       Steile These, ja! Und sie mag erst mal pietätlos klingen angesichts des
       [1][Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg], [2][des Raketenhagels
       über der Ukraine], des Abschusses des [3][aserbaidschanischen Flugzeug]s
       und all der anderen tödlichen Weihnachtstragödien.
       
       Doch in den letzten Wochen hätte jedem Europäer das Herz aufgehen können
       angesichts der Bilder von Hauptstadtplätzen des Kontinents, auf denen
       Hunderttausende für Europa demonstrierten, für die Vorstellung von
       Freiheit, Gleichberechtigung und der Möglichkeit, sich ein glückliches
       Leben zu erarbeiten. Und das, obwohl die Demonstrierenden sehr genau
       wissen, dass nicht alles in Europa Freiheit, Gleichberechtigung und die
       Möglichkeit, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, ist.
       
       Sie demonstrieren gegen eine von Russland finanzierte und inspirierte
       Politik in [4][Georgien] und in Rumänien. Sie demonstrieren gegen die
       tödliche Skrupellosigkeit der Regierung in [5][Serbien].
       
       ## Eh nur Racket-Regierungen
       
       Im Alltagsgespräch Westeuropas ist Osteuropa aber immer noch Grauzone.
       Taucht das Wort „Osteuropa“ auf, folgen auf dem Fuße die Wörter „Ungarn“,
       „Orbán“, „schlimm“. In den 1990er Jahren, zu Zeiten der blutigen
       Zerfallskriege Jugoslawiens, war es das Wort „Balkanisierung“, das im
       Westen fiel, wenn es darum ging, den schlechten Einfluss auf die Zukunft
       Europas zu beschreiben: Kleinstaaterei plus Racket-Regierungen, also die
       auf [6][Gewalt beruhende Herrschaft von Gangs], Banden und Kriminellen in
       schlecht sitzenden Fake-Armani-Anzügen.
       
       Es kam anders, der Westen zerlegt sich seit einigen Jahren ganz ohne
       osteuropäischen Einfluss. Auf dem hausgemachten rechten Humus Westeuropas
       gedeihen Populismus, Wahn und Gewalt, die von Kriminellen in gut sitzenden
       Armani-Anzügen orchestriert werden.
       
       Nachdem den Serben im November buchstäblich ein Dach auf den Kopf gefallen
       war – das des neuen Bahnhofs in Novi Sad, das 15 Menschen tötete –, reichte
       es selbst nationalistischen Idolen, die ansonsten der Regimekritik
       unverdächtig sind, wie Tennisspieler Novak Đoković oder der wie ein Gott
       verehrten Basketballlegende Dejan Bodiroga. Sie unterstützen die Forderung
       nach schonungsloser Aufklärung. Der Verdacht: Vetternwirtschaft und
       Pfuscherei der Regierung hätten zu dem tödlichen Einsturz geführt,
       trauriger Höhepunkt eines komplett verwahrlosten Systems.
       
       Wenn es im Iran wie letzthin durch die Frauen zu großem Protest gegen die
       Regierung kommt, findet sich in Europa auf Straßen und in Kommentaren große
       Anteilnahme, Beschäftigung, Wut und Solidarität.
       
       ## Mehr Herz
       
       Wenn in Osteuropa Menschenmassen auf der Straße für Demokratie einstehen,
       dann herrscht auffällige Zurückhaltung unter den im Westen lebenden
       Brüdern, Schwestern, Diversen. „Ja, hab ich auch in meinem Feed gesehen.“
       „Toll, ja, aber warum genau stehen die da noch mal?“ „Ich kenn mich da ja
       nicht aus.“ So lauten die Sätze, die nicht fallen, wenn es um den Iran oder
       Syrien geht, sondern um Tiflis oder Belgrad, das von München nicht viel
       weiter entfernt ist als Kiel.
       
       Warum ist das immer noch so? Sieht der Westen im Osten immer noch vor allem
       Kriminelle in Kunstlederjacken, die mit Frauen handeln und Vegetarier
       dissen? Ich wünsche mir für 2025, dass endlich eintritt, woran immer wieder
       appelliert wird: mehr Aufmerksamkeit und Herz für Osteuropa. Seine Rolle
       für und in Europa ist mindestens so wichtig wie die ostdeutschen
       AfD-Wähler*innen, die sich in ihrer Identität als Benachteiligte
       einzementiert haben – und das, obwohl die meisten von ihnen wenig dafür
       aufs Spiel gesetzt haben, in den Westen zu kommen.
       
       28 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bundesopferbeauftragter-ueber-Magdeburg/!6059069
   DIR [2] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!6059078
   DIR [3] /Flugzeugabsturz-in-Kasachstan/!6055578
   DIR [4] /Autor-Zaza-Burchuladze-ueber-Georgien/!6056260
   DIR [5] https://www.deutschlandfunk.de/serbien-proteste-studenten-novi-sad-vucic-100.html
   DIR [6] https://www.swr.de/swrkultur/literatur/wolfgang-pohrt-brothers-in-crime-die-menschen-im-zeitalter-ihrer-ueberfluessigkeit-100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
       
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