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       # taz.de -- Frohes neues Jahr!: Neujahrsgrüße nach Deutschland
       
       > Wie blicken die Menschen in Europa auf uns? Was wünschen sie sich – was
       > wünschen sie uns? Die taz-Korrespondent*innen haben sich umgehört.
       
   IMG Bild: Relaxed im Wahllokal im irischen Inishbofin
       
       Vielerorts in Europa sind Korrespondent*innen für die taz unterwegs.
       Einige von ihnen schicken uns Neujahrsgrüße aus ihren Wahlheimaten zurück
       nach Deutschland.
       
       ## Aus einer irischen Wahlkabine
       
       Liebe deutsche Wählerinnen und Wähler! Ihr dürft im Februar wählen. Dann
       tut das auch! Es dauert nicht lange, ein Kreuzchen zu machen. Bei uns in
       Irland ist das komplizierter, denn wir nummerieren die Kandidatinnen und
       Kandidaten in der Reihenfolge unserer Präferenz. Das dauert. Vielleicht
       sind deshalb [1][bei der Wahl Ende November] mehr als 40 Prozent zu Hause
       geblieben.
       
       Ich habe eine halbe Stunde in der Wahlkabine verbracht, um die Namen so zu
       sortieren, dass die Rechtsextremen keinen Fuß auf den Boden bekommen. Das
       ist geglückt. Euch in Deutschland wird das nicht gelingen. Es gibt zu
       viele, die den Faschisten glauben, obwohl sie ihnen die Höcke voll lügen.
       
       Mein Freund und Kollege Derek Scally von der Irish Times meint, dass die
       Deutschen langweilige Wahlkampagnen mögen. Sie hatten genug Aufregung für
       zwei Jahrhunderte, sie wollen Stabilität. „Was am 6. November geschah, war
       die Ausnahme. Live im Fernsehen verwandelte sich der Kanzler von einem
       sanftmütigen Hamburger Anwalt in einen Scholzilla, [2][entließ seinen
       Finanzminister] und schickte ihm mehrere rhetorische Raketen hinterher“,
       sagt Derek. „Für deutsche Verhältnisse war das eine heiße Sache.“
       
       John, ein verrenteter Gewerkschafter, freut sich über das Lindner-Aus:
       „Diese Gurken werden bei den Wahlen unter fünf Prozent bleiben, und dann
       ist es mit diesem Narzissten endgültig vorbei. Dann kann er sich in Ruhe
       der Vermehrung seines Vermögens widmen.“ SPD und Grüne hätten das
       eigentlich wissen müssen, findet John: „Wer mit Hunden ins Bett geht, steht
       mit Flöhen auf.“
       
       Wolfgang, ein Deutscher, der seit 20 Jahren in Irland lebt, weist auf einen
       Artikel in der Zeitschrift Rolling Stone hin. Dort vergleicht der Autor die
       Zitate der Regierungsstreithähne mit dem Zwist der Gallagher-Brüder von der
       Band Oasis. Scholz sagte: „Streit auf offener Bühne hat viel zu lange den
       Blick auf das verstellt, was diese Regierung zusammen vorangebracht hat.“
       Noel Gallagher sagte über seinen Bruder Liam: „Er ist der wütendste Mann,
       den du je kennenlernen wirst. Er ist wie ein Mann mit einer Gabel in einer
       Welt voller Suppe.“
       
       Scholz sagte, er habe mit Bundespräsident Steinmeier telefoniert und ihn um
       die Entlassung Lindners gebeten. Noel Gallagher sagte inhaltlich dasselbe
       über Liam: „Wir sagten ihm einfach, er solle sich verpissen. Und er ging
       schmollend weg!“
       
       Die irischen Wettbüros tippen auf eine Große Koalition. Was anderes wird
       kaum übrig bleiben. Es könnte trotzdem eine interessante Wahl werden. In
       Irland sind Wahlen eher langweilig, am Ende kommt immer das Gleiche heraus.
       Wir wählen seit der Staatsgründung vor über hundert Jahren immer dieselben
       beiden konservativen Parteien, ob Wirtschaftskrise oder Aufschwung, ob
       Krisen oder Kriege, ob wankende Demokratien oder ungewisses Europa-Projekt.
       Aber wenigstens haben wir die Rechtsextremen für weitere fünf Jahre aus dem
       Parlament ausgesperrt. Das wird Euch leider nicht gelingen.
       
       Trotz alledem: Ein gutes neues Jahr!
       
       Wünscht euch euer Ralf Sotscheck
       
       ## Aus der frisch wieder eröffneten Notre-Dame
       
       Meine Lieben in Deutschland!
       
       Na, das hattet ihr nicht erwartet. Geradezu [3][belgische Verhältnisse in
       Frankreich], in diesem Land, das auch ohne Regierung nicht besser oder
       schlechter funktioniert als mit. Das ist halt auch Politik und in der
       französischen Verfassung sogar vorgesehen.
       
       Lange schaute man aus Frankreich mit einem gewissen Neid auf den Erfolg der
       deutschen Exportwirtschaft und die finanzielle Stabilität im Nachbarland.
       Doch heute würden sich viele Franzosen und Französinnen die Mahnungen zu
       mehr Haushaltsdisziplin verbitten: „Kehrt doch lieber vor der eigenen
       Türe!“
       
       Drücken wir uns also lieber, über den mehr verbindenden als trennenden
       Fluss der Loreley, gegenseitig die Daumen. An populistischen Miesmachern
       und Predigern des Nieder- und Untergangs mangelt es ohnehin nicht. Seien
       wir – gegen den Strom, trotz allem oder erst recht – Optimisten!
       
       Denn Krisen haben meist den positiven Effekt, dass sie Bewegung in
       erstarrte Institutionen bringen. Die späten Nachfahren der Großen
       Revolution, der Sansculotten und Pariser Kommunarden sind auch in der
       jüngeren Geschichte immer wieder für Überraschungen gut, um Neuerungen
       durchzusetzen oder die allzu selbstzufriedenen Machthaber das Fürchten zu
       lehren.
       
       Wer hätte gedacht, dass die Kathedrale Notre-Dame schon fünf Jahre nach dem
       verheerenden Großbrand im April 2019 [4][in neuem Glanz eingeweiht werden
       könnte]. Präsident Emmanuel Macron prahlt damit – es war indes bloß seine
       Vorgabe, nicht aber sein Werk und auch nicht sein Geld. Gewürdigt werden
       sollten vielmehr die Steinmetze, Restaurateur*innen, Bauarbeiter*innen
       und mit ihren Spenden auch die Zigtausenden von Mäzen*innen. Sie haben es
       möglich gemacht, dass diese zunächst so unwahrscheinlich anmutende Wette
       gehalten wurde. Dass Macron diesen Erfolg nun auf sich lenken und als
       Exempel einer „Union nationale“ verkaufen will, verwundert niemanden.
       
       Andere mutmachende Entwicklungen spielen sich derzeit vor Gerichten ab. Die
       Opfer sexualisierter Gewalt gehen zur Gegenoffensive über. Die Scham
       wechselt die Seite, wie [5][beim Prozess in Avignon], der eine Zeitenwende
       im Kampf gegen sexualisierte Gewalt einläuten könnte. Vor Gericht standen
       wegen Vergewaltigung neben Dominique Pelicot, der seine Frau Gisèle betäubt
       und Dutzenden von Männern ausgeliefert hatte, auch 50 Mitangeklagte, und
       mit ihnen ihre antiquierten sexistischen Vorstellungen männlicher Macht.
       Das Urteil dürfte über Frankreich hinaus einen exemplarischen Charakter
       bekommen.
       
       Lange Zeit hat ganz Europa große Hoffnungen in die deutsch-französische
       Zusammenarbeit gelegt. Wünschen wir uns, in einem übermütigen Anflug von
       Zukunftsvertrauen, dass diese Partnerschaft 2025 wieder in Gang kommen
       möge! Mit einer gewissen Bescheidenheit in eigener Sache und dem
       Eingeständnis, dass keine der beiden Nationen der anderen wirklich
       etwas vormachen oder vorwerfen kann.
       
       Aus Paris, euer Rudolf Balmer
       
       ## Vom Tresen einer Espressobar in Italien
       
       Liebe Menschen in Deutschland, ihr glaubt gar nicht, wie weit entfernt euer
       Land von Italien ist. Okay, am Ende liegen bloß knappe 70 Kilometer
       Österreich zwischen Italiens Nord- und eurer Südgrenze – doch so wirklich
       kriegt kaum jemand in Rom, Turin, Mailand oder Neapel mit, was in
       Deutschland so passiert.
       
       So gut wie alle am Tresen der Espressobar zucken mit den Achseln auf die
       Frage, was jetzt aus Deutschland wird und wie es in Berlin weitergehen
       soll. Der Kanzler hat den Finanzminister rausgeschmissen? [6][Welcher
       Kanzler?] Welcher Finanzminister? Ach, Olaf Scholz heißt der
       Regierungschef? Und Christian who?
       
       Wirklich überraschend ist die Unkenntnis nicht. Als Scholz Christian
       Lindner am 6. November vor die Tür setzte, hatten Italiens Medien andere
       Sorgen, war doch in den USA gerade [7][Donald Trump zum Präsidenten gewählt
       worden]. Und auch sonst sind Krisen anderswo viel spektakulärer als die in
       Berlin. Abend für Abend berichten die TV-Nachrichten aus Paris, reden von
       Macron, Mélenchon, Barnier, Le Pen – nicht von Scholz, Merz, Habeck oder
       Weidel.
       
       Auch vorher regte Deutschlands Regierungschef die Phantasie der
       Italiener*innen nicht an – er flog hier genauso unter dem Radar wie zu
       Hause. In einer Umfrage von 2023 nach einflussreichen Leadern der Welt
       kommt er – anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens
       Regierungschef Pedro Sánchez – gleich gar nicht vor.
       
       Wie anders war das noch vor gar nicht langer Zeit. Im Jahr 2021 galt Angela
       Merkel gleich 64 Prozent der Italiener*innen als vertrauenswürdige
       Weltenlenkerin, weit vor allen anderen, vor Joe Biden, Ursula von der Leyen
       oder Macron. „Anatra zoppa“, lahme Ente nennt jetzt dagegen die
       Nachrichtenagentur Ansa den Kanzler. Auch das ist Niedergang, genauso wie
       der Niedergang ganz Deutschlands, den [8][Italiens Ministerpräsidentin
       Giorgia Meloni] jedes Mal gerne andeutet, wenn sie über die Wirtschaft in
       Europa spricht.
       
       „Stärker als Frankreich, stärker als Deutschland“ werde Italien nach den
       Prognosen der OECD auch im Jahr 2025 wachsen, verkündete sie vor einigen
       Tagen wieder. Für Frankreich ist das zwar geflunkert – das Land wächst
       gegenwärtig stärker als Italien – für Deutschland aber dürfte Melonis
       Ansage stimmen. Denn so bescheiden die für 2024 erwarteten 0,5 Prozent an
       Zuwachs Italiens beim BIP sind, so überholen sie doch die deutschen 0,0
       Prozent allemal. „Nicht mehr Lokomotive, sondern letzter Waggon“ in Europa,
       lästert die Politik-Website Affaritaliani.it über die „rabenschwarze Krise“
       Deutschlands. Wenigstens von der Krise der deutschen Automobilindustrie
       haben auch die Kund*innen am Tresen der Espressobar gehört, dank der
       TV-Berichte über [9][die Warnstreiks bei VW.]
       
       Dann aber reden sie in der Espressobar doch von wenigstens einem Feld, auf
       dem „la Germania“ Wachstumszahlen vorzuweisen hat. Die „nazisti“ von der
       AfD seien ja kräftig im Kommen, wirft einer in die Runde und setzt nach,
       mit der „stabilità“, der altgewohnten und gerne auch heimlich bewunderten
       Stabilität in Deutschland, sei es ja auch nicht mehr weit her.
       
       Aus Rom, euer Michael Braun
       
       ## Vom schwedischen Gartenzaun
       
       Liebe Leute in Deutschland!
       
       Wie geht’s euch da unten, so ohne Wind? Oder habt ihr das gar nicht
       mitbekommen? Hier jedenfalls, 1.500 Kilometer weiter nördlich, war es
       gerade eine Schlagzeile: Rekordhohe Strompreise in Südschweden – wegen
       Windstille in Deutschland. Flaute in der deutschen Windkraft heißt nämlich
       Stromimport aus Schweden, und dann wird die Elektrizität auch hier
       teurer.
       
       Ich werde schon unzufrieden angeguckt, wenn das Gespräch darauf kommt. Als
       Deutsche kann man die Menschen in Schweden energiepolitisch aber noch mehr
       verwirren, wenn man erzählt, dass man in Berlin mit Gas geheizt hat – das
       klingt für sie kurios. Und wie billig dieses Gas war, als es noch aus
       Russland kam!
       
       Schweden kommt kaum hinterher, die Krisennachrichten aus Deutschland zu
       analysieren, und die nostalgischen Töne sind dabei nicht zu überhören. Da
       unten irgendwo liegt ein Land, stabil und sicher, der Anker Europas und
       zugleich die Lokomotive, die die kontinentale Wirtschaft zieht: So stellte
       sich Deutschland für die Schweden sehr lange dar. Jetzt blicken sie
       stattdessen nervös auf die deutsche Wirtschaft. [10][Schlechte Nachrichten
       aus Wolfsburg] werden fast persönlich genommen. VW ist schließlich der
       größte Investor beim einstigen [11][schwedischen Batterie-Hoffnungsträger
       Northvolt.]
       
       Interessanterweise hält sich die alte Bewunderung für deutsche Autos
       hingegen hartnäckig und blitzt weiterhin gelegentlich als irrationaler
       Pluspunkt für mich auf. Mal gucken, wie lange noch. Schwedische
       Wirtschaftsanalytiker lassen sich jedenfalls nicht mehr blenden: Das
       Problem der verschlafenen E-Auto-Entwicklung haben sie eiskalt erkannt. Sie
       diagnostizieren zudem, dass Deutschland sich zu lange auf den Exportmarkt
       China verlassen habe. Häme ist dabei weniger zu hören, dafür ist Schweden
       selbst in der Exportwirtschaft zu abhängig von Deutschland.
       
       Der jüngste deutsche Kracher flog hier anfangs unter dem Radar, weil alle
       nur auf die US-Präsidentschaftswahl starrten. Aber dann war das Staunen
       groß. Jetzt auch noch ein Regierungskollaps? Weitere Unsicherheitssignale,
       auf die man gerne verzichtet hätte. Doch aus Schreck wurde Hoffnung:
       Vielleicht kommt ja eine große Koalition, überlegt eine Expertenstimme im
       Radio, vielleicht könnte sie ja mehr Stabilität und mehr Beschlusskraft
       bringen …
       
       Ihr seht, Schweden zittert mit Deutschland, zumindest der Teil, dem die
       Abhängigkeiten bewusst sind. Das ist nicht die Mehrheit – im Alltag haben
       die meisten anderes zu tun. Mein Nachbar zeigte sich immerhin schon zweimal
       interessiert: „Warum um Himmels Willen telefoniert Scholz mit Putin?“ Das
       fand er nicht gut. Und dann natürlich: „Kleine Regierungskrise bei euch,
       was?“ Das Gespräch war aber eher grobmaschig angelegt. Nach ein paar Sätzen
       erwähnte er schon Merkel und Kohl, und ich bestätigte, dass er sich die
       Namen richtig gemerkt hat.
       
       Das war’s, und wir konnten wieder über den schwedischen Winter reden: Der
       bringt zu wenig Schnee und zu viel Eis bisher. Passt irgendwie ins
       Gesamtbild. Aber keine Sorge, beruhigte mich der Nachbar, der Schnee wird
       kommen. Und in Deutschland hoffentlich der Wind!
       
       Aus Härnösand, eure Anne Diekhoff
       
       ## Aus der Schlange vor einem Kiosk in der Ukraine
       
       Was erwarten sich die Menschen in Kyjiw von der Wahl in Deutschland? „Die
       Ukrainer denken erst mal an die Ukrainer. Und zwar an diejenigen, die ihnen
       nahe stehen und die sie lieben“, sagt ein Mann, der neben mir in einer
       Schlange am Kiosk steht und auf seinen Kaffee wartet.
       
       Wann die wohl wären, die Wahlen, fragt er mich und fügt dann etwas
       ungehalten hinzu: „Wir haben jetzt Anfang Dezember. Und Sie wollen mit mir
       über ein Ereignis sprechen, das am Ende des Winters stattfindet. Wissen
       Sie, was davor noch alles kommt? Davor muss ich zweimal meine Miete und
       meine Strom- und Heizungskosten bezahlen und meiner Frau Haushaltsgeld
       geben. Und das alles bei 600 Euro Monatslohn. Bei 3 Euro für ein Kilo
       Tomaten kann man mit 600 Euro keine großen Sprünge machen.“
       
       Er jedenfalls sei froh, wenn er bis zum 23. Februar irgendwie über die
       Runden komme und nicht in den Krieg müsse. Der einzige deutsche Politiker,
       dessen Namen er kennt, ist Scholz. Aber so groß werde der Unterschied
       zwischen Scholz und seinem Widersacher ja wohl nicht sein, meint er. Auf
       das aktuelle Chaos in Deutschland angesprochen, antwortet er: „Wie gern
       hätte ich eure Probleme. Ihr könnt wenigstens wählen. Das ist bei uns nicht
       möglich.“ Wenn sich überhaupt etwas [12][an der aktuellen Situation in der
       Ukraine] ändern würde, meint er, würde es an Donald Trump liegen. Er sehe
       gespannt auf den 20. Januar, den Tag seiner Amtseinführung. Irgendwie sei
       dieser Trump doch sympathisch.
       
       Am nächsten mobilen Kaffeebüdchen redet sich ein anderer Mann in Rage:
       „Scholz ist doch der Regierungschef, der uns [13][den Taurus nicht geben
       will] und der mit Putin telefoniert hat.“ Der Mann trägt einen schwarzen
       Mantel, denn es ist kalt und ein scharfer Wind pfeift durch die Straßen.
       Unter dem Mantel lugt ein Rock hervor, der Mann muss ein orthodoxer
       Geistlicher sein. „Wenn die Opposition in Deutschland drankommt, kriegen
       wir den Taurus“, sagt er. Hofft er.
       
       Er ist nicht der einzige Ukrainer, der sich den Marschflugkörper wünscht.
       Zwangsrekrutierungen lehnen die Ukrainer mehrheitlich ab. Die Lieferung der
       Taurusraketen würden sie begrüßen. Wer will schon gerne in den
       Schützengraben. Der orthodoxe Geistliche zumindest hofft, dass Scholz nicht
       wiedergewählt wird.
       
       Anna, eine Arzthelferin, hat Angst vor weiteren Raketen: „Wir in Kyjiw
       müssen die russische Antwort ertragen, wenn die wieder mit Raketen Russland
       beschießen.“ Sie kommt aus der Gegend bei Sumy und pendelt zwischen dort
       und der Hauptstadt. Inzwischen habe sie verstanden, dass oft das Gegenteil
       von dem eintrete, was versprochen werde. „Der ukrainische [14][Angriff auf
       das russische Gebiet] von Kursk sollte unser Gebiet sicherer machen.
       Tatsächlich werden wir jetzt in Sumy viel stärker aus der Luft angegriffen
       als früher.“ An die Luftangriffe habe sie sich fast schon gewöhnt, sagt
       Anna. An die Totenwagen jedoch nicht. Jeden Tag, sagt sie, fahren sie ein
       in ihre Heimatstadt Konotop.
       
       Nicht vergessen werde ich wohl die Verkäuferin, die mich vor einigen Tagen
       in Lwiw in einer Bäckerei bediente. Jeden Tag um 9 Uhr morgens wird in Lwiw
       über Lautsprecher zu einer Schweigeminute aufgerufen. Man hört dann über
       die Lautsprecher ein Klopfen. Ich wollte gerade mein Brot bezahlen, da
       begann sie. Die Frau hielt inne und fing an zu weinen. Ich hatte sie
       eigentlich zu den Wahlen in Deutschland befragen wollen. Doch schließlich
       zahlte ich und ging. Ich traute mich einfach nicht.
       
       Aus Kyjiw, euer Bernhard Clasen
       
       ## Aus einer Metrostation in Athen
       
       Liebe Miteuropäer in Deutschland,
       
       das furiose Ampel-Aus, eine veritable Wirtschaftskrise, das enorm
       beängstigende Erstarken der AfD: Klar, was in Deutschland gerade passiert,
       kommt nahezu in Echtzeit an den Füßen der Akropolis an.
       
       Die Griechen können ein Lied davon singen, was Krise bedeutet. In den
       2010er Jahren galt Hellas als das „unartige Kind“, gar „Europas schwarzes
       Schaf“. Ein deutsches Magazin stellte die Griechen als die „Betrüger in der
       Eurozone“ an den Pranger. Sie hätten sich in den Euro hineingemogelt, auf
       Pump weit über ihre Verhältnisse gelebt, so der Vorwurf. Es folgten
       drastische Kürzungen bei Löhnen und Renten, zahlreiche wirtschaftliche und
       gesellschaftliche Grausamkeiten: Griechenland hatte einen rigorosen
       Sparkurs durchzuführen.
       
       Die hiesige Wirtschaftsleistung brach um ein sagenhaftes Viertel ein. Von
       dieser großen Depression hat sich Athen bis heute nicht erholt. Die
       Griechen machten die Bundesregierungen unter Kanzlerin Angela Merkel für
       das „deutsche Spardiktat“ in Athen verantwortlich. Der [15][damalige
       Finanzminister Wolfgang Schäuble] avancierte in den Augen der Griechen zur
       Hassfigur. Und nun? Steckt Deutschland selbst in der Krise.
       
       Alexis Angelopoulos glaubt, dass es Deutschland noch „vergleichsweise gut“
       gehe. Hinter Zigaretten, Kaugummis und Schokolade wartet der
       Wirtschaftsstudent im Kiosk an der Athener Metrostation Doukissis
       Plakentias auf seine Kundschaft. Der 24-Jährige jobbt immer dann hier, wenn
       seine Kollegen einen freien Tag genießen, und wohnt im Hotel Mama ganz in
       der Nähe. Eine eigene Wohnung ist für ihn nicht drin. Dass die deutsche
       Wirtschaft in der Rezession steckt, findet er nicht gut. Von Häme keine
       Spur. „Deutschlands Krise tut Europa nicht gut“, sagt er.
       
       Etwas andere Töne schlägt Sokrates Leriou an. Der 63-Jährige redet sich in
       seinem gelben Taxi in Rage, wenn er an die 2010er Jahre zurückdenkt. Sein
       Umsatz sei damals um 60 Prozent eingebrochen, erinnert er sich. „Deutsche
       Politiker und Medien warfen uns vor, dass wir Griechen angeblich faul
       seien. Ich sitze seit 32 Jahren am Steuer, täglich zehn Stunden, oft an
       sieben Tagen in der Woche. Nun stellt sich heraus: Die Deutschen arbeiten
       viel weniger als wir Griechen!“, ätzt er.
       
       Schadenfreude, Häme oder Spott empfindet jedoch auch er nicht. Im
       Gegenteil: „Ich will nicht, dass Deutschland Probleme hat. Hat Deutschland
       auch nur einen leichten Schnupfen, kriegen die anderen Länder in Europa
       eine Erkältung.“ Den Deutschen wünsche er nur eines: „Gute Besserung.“
       
       Dem pflichtet Jannis Tsakiris bei. Der 83-jährige Rentner ist frisch
       rasiert und trägt einen Nadelstreifenanzug – früher besaß er eine eigene
       Schneiderei. Die Rente sei ihm jedoch um 6.000 Euro im Jahr gekürzt worden.
       Dieser Abzug sei bis heute nicht ausgeglichen worden. „Und seien Sie
       versichert, das wird nie passieren“, sagt er bitter.
       
       „Fühlen Sie Schadenfreude, Häme oder Spott, Herr Tsakiris?“ „Οχι“, erwidert
       er prompt – „Nein!“
       
       Statt Häme fühle er Mitleid mit den einfachen Leuten in Deutschland. Der
       kurzen und knackigen Zustandsbeschreibung in den griechischen sozialen
       Medien stimmt Tsakiris jedenfalls unverblümt und sofort zu: „Deutschland
       ist kaputt.“
       
       Und „kaputt“ versteht hier jeder Grieche, auch ohne eine Übersetzung.
       
       Aus Athen, euer Ferry Batzoglou
       
       1 Jan 2025
       
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   DIR Rückblick auf unsere Recherchen: Was aus taz-Recherchen wurde
       
       Auch in diesem Jahr hat die taz zu Missständen recherchiert, zu denen
       bisher nicht berichtet wurde. Doch wie ging es nach den Recherchen weiter?
       
   DIR Vergewaltigungsfall in Frankreich: Ein Prozess ändert alles
       
       Am Donnerstag wird das Urteil im Vergewaltigungsfall Pelicot erwartet. Die
       Verhandlungstage in Avignon verändern den Umgang mit einem Tabuthema.
       
   DIR „We listen and we don't judge“: Viraler Beichtstuhl
       
       Beim Social Media Trend „We listen and we don't judge“ hört man sich
       Schuldbekenntnisse an, ohne zu urteilen. Aber geht es danach jemandem
       besser?
       
   DIR Sturz des Assad-Regimes: Freut euch über Syrien!
       
       Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution
       mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?