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       # taz.de -- Jahresvorausschau Berlin: Stadt der Überflüssigen
       
       > Die Deutsche Oper wird zum Autohaus, der Görli bekommt eine Kuppel und
       > die Berliner sollen für den Senat saufen. 2025 bringt viele
       > Überraschungen.
       
   IMG Bild: Laut, voll und manchmal ein bisschen unheimlich: Das ist der Karneval der Kulturen genauso wie Berlin
       
       Januar 
       
       Am Neujahrstag fällt der Startschuss für die [1][Spezialoperation gegen den
       Berliner Kulturbetrieb]. Mit den Kürzungen der Kulturmittel betreibt die
       CDU endlich Klientelpolitik im Sinne ihrer Rudower, Reinickendorfer und
       Lichtenrader Hochburgen. Manche von ihnen sind erstmals in ihrem Leben
       innerhalb des S-Bahnrings, der jahrelang aufgestaute Hass gegen die
       durchgepäppelten Subventionskasper bricht sich Bahn. Johlend plündern sie
       geschlossene Kulturräume. Aus Galerien werden öffentliche
       Bedürfnisanstalten, aus Literaturhäusern Ställe für Polizeipferde.
       
       Wer Rad fährt, Brille oder ein buntes Halstuch trägt, flüssig schreiben
       oder musizieren kann, kurz im weiterem Sinne als „Künstler“ gelesen wird,
       soll „was vernünftiges arbeiten“, zum Beispiel als Lobbyist bei Monsanto
       oder den Papierkram im Abschiebeknast erledigen. Auch Wissenschaft und
       Forschung wird das Prädikat „überflüssige Scheiße“ angeheftet. Das hat
       schon was von Kulturrevolution, nur ohne Tote. Aber das kann ja noch
       kommen. Das Jahr fängt jedenfalls gut an.
       
       Februar 
       
       Die vorgezogenen Bundestagswahlen sind auch in den Berliner Kneipen das
       Event schlechthin. Wo an anderen Sonntagen der „Tatort“ oder die Bundesliga
       läuft, flimmern Hochrechnungen über den Bildschirm; wo sonst Pfeile in
       Dartscheiben fliegen, ordern Zecher grölend Elefantenrunden. Die womöglich
       letzte demokratische Wahl in diesem Land elektrisiert die Massen wie der
       Abschiedsauftritt eines sterbenden Altstars.
       
       Gegen das nun ausgezählte Potpourri war die Weimarer Republik ein Muster an
       Seriosität. Favoriten für die Regierungsbildung sind zum einen eine
       „Brummbärkoalition“ aus CDU/CSU, SPD, Volt und Die Partei, und zum anderen
       eine „Koalition der Billigen“ aus BSW und AfD.
       
       März 
       
       Nach dem ersten Schock über die rabiate Kürzung ihrer Gelder, stellt sich
       die Berliner Kultur nun frischen Mutes den Herausforderungen. Die Deutsche
       Oper wird nach einem raschen Umbau unter dem Namen „Deutsche Opel“ neu
       eröffnet. Wo gestern noch gesungen wurde, ist heute das größte Autohaus
       Berlins. Das Volk jubelt. Und umso mehr, als der [2][Görlitzer Park]
       rechtzeitig zum Frühling mit einer dicken Kuppel aus Glas, Beton und
       Uranoxid versiegelt wird. Endlich können sich die Leute hier bombensicher
       fühlen.
       
       April 
       
       In den USA wird der eigens zu diesem Zweck exhumierte Charles Manson
       Justizminister im Kabinett Donald Trumps. Die unorthodoxe Lösung lässt
       Wegner und Co. vor Neid erblassen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion versucht
       daher ein gemischtes Team aus Archäologen, Exorzisten und der JU den
       ehemaligen CDU-Innensenator Heinrich Lummer aus seinem Grab zu bergen, um
       so den gruseligen Hardliner zurück auf seinen alten Posten zu hieven.
       
       Was dann geschieht, bleibt weitgehend im Dunkeln. Verbürgt ist nur, dass
       auf dem Waldfriedhof Zehlendorf mehrere verstümmelte Leichen mit weit
       aufgerissenen Augen und von verkohlten Händen fest umkrallten Spaten
       gefunden werden. Sie müssen schreckliches gesehen, und wohl auch erlebt
       haben. Die Parteizentrale dementiert.
       
       Mai 
       
       Baustopp für den gewaltigen Walk of Fame für die Granden der Berliner CDU,
       dem bereits tausend [3][Radwege], drei Theater und ein Krankenhaus weichen
       mussten. Grund ist die erforderliche Wiederholung der Wiederholungswahl zum
       Berliner Abgeordnetenhaus, und dann könnte ein erneutes rotgrünes Bündnis
       die geplante Protzmeile schnell zum Abwasserkanal umwidmen. Unser
       geprügeltes Städtchen hat aber auch wirklich scheußliches Pech mit seinen
       Urnengängen.
       
       Denn wie sich herausstellt, musste 2023 ein Wahllokal in Karow bereits um
       17 Uhr schließen, nachdem einer Wählerin im Vorraum ein Exemplar der
       äußerst seltenen Buntscheckigen Tanzschabe (Periplaneta saltanda
       versicolora) über den Fuß gehuscht war. Ein Biologenteam leitete auf der
       Stelle erste Schutzmaßnahmen ein: Stopp der Wahl, sowie Evakuierung und
       behutsamer Rückbau des Gebäudes.
       
       Juni 
       
       Über dem Karneval der Kulturen liegt bereits vor Beginn ein schlimmer
       Schatten. Tagelang ziehen marodierende Bauchtanzgruppen durch die Stadt,
       schleudern brennende Caipirinha-Cocktails auf die Polizei und werfen mit
       Yogaklötzen Schaufensterscheiben ein.
       
       Das vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg erlassene „Gesetz zum Verbot der
       kulturellen Aneignung“ erweist sich als Rohrkrepierer. „Besser, sie hätten
       uns mitmachen lassen“, kreischt Uschi H. aus Neukölln, „jetzt legen wir die
       Stadt in Schutt und Asche.“ Doch leider ist auch Vandalismus Aneignung, da
       die Vandalen vermutlich aus dem Gebiet des heutigen Polen stammten. Also
       verboten.
       
       Juli 
       
       Das Sommerloch fällt diesmal besonders tief aus. Am Schlachtensee habe ein
       kapitaler Wels einen Dackel samt Herrchen an beider Leine vom Ufer in sein
       nasses Reich gezogen, dort mit Ohrfeigen gedemütigt und nur gegen die
       Versprechung von mehreren Kilo Fischfutter zurück an Land entlassen.
       
       „Schutzgelderpressung am Schlachtensee“, titelt die B.Z., und suggeriert in
       dem Artikel, der Wels sei vermutlich 2015 über die „Balkanroute“ (Donau)
       eingewandert. Wie der „Fisch-Clan“ auf diesem Weg in den Schlachtensee
       gekommen sein will, verschweigt das Blatt. Agenda geht leider auch 2025
       über Faktentreue.
       
       August 
       
       Die gute Nachricht: Die lange Nacht der Museen findet trotz des Sparkurses
       statt. Die weniger gute: Anstelle eines pauschalen Spartickets muss für
       jedes beteiligte Museum der volle Einzelpreis gelatzt werden. Und zwar
       doppelt wegen des Nachtzuschlags.
       
       „Nächtlicher Müßiggang soll nicht obendrein belohnt werden“, mahnt es aus
       der Berliner CDU-Zentrale. „Subventionierte Faulenzerei wie unter R2G
       gehört endgültig auf den Schutthaufen der Geschichte.“ Ohnehin sollen nach
       dem Vorbild des Pergamonmuseums sukzessive auch alle anderen Museen für
       mindestens 20 Jahre geschlossen werden.
       
       September 
       
       Den diesjährigen Berlin-Marathon gewinnt vollkommen überraschend die
       Lidl-Kassiererin Anne B. aus Niederschönhausen.
       
       Mit reichlich Wut im Bauch stürmt die 42-jährige wie ein Kugelblitz an der
       kenianischen Spitzengruppe vorbei und finisht in deutlich unter zwei
       Stunden. „Nimm das, Kai Wegner, du Sparschwein!“, keucht sie im Ziel. Die
       Zeit, die sie früher immer in der Oper verbracht hat, nutzt sie nun täglich
       zum Trainieren.
       
       Oktober 
       
       Das Festival of Lights lässt die Herzen der Berliner und
       Berlinbesucherinnen höher schlagen. Denn wie immer, wenn die Tage kürzer
       und dunkler werden, wird die Stadt in wärmendes Licht getaucht.
       
       Wie viel Licht, hängt heuer davon ab, wer alles eine Taschenlampe, Kerze
       oder Streichhölzer mitbringt. Andernfalls bleibt es dunkel. Berlin muss
       sparen. „Money first“, erklärt der Senat ganz im American Spirit, „frage
       nicht, was deine Stadt für dich tun kann, sondern frage, was du für deine
       Stadt tun kannst.“
       
       November 
       
       Die [4][NFL] kommt nach Berlin und gastiert mit einer Partie ihrer Regular
       Season im Olympiastadion. Die Houston Huguenots spielen gegen die Boston
       Bears. Der Andrang ist groß, doch als keine Tore fallen, verlassen die
       enttäuschten Berliner in Scharen das bombastische Nazirund.
       
       „Die stehen ja die halbe Zeit nur rum, und die andere Hälfte rennen sie
       sich gegenseitig um. Wat soll den ditte, ick dachte, Football heißt
       Fußball“, nölt Wolle T. aus Schmargendorf in die Kamera des RBB. In die
       eines Smartphones wohl gemerkt, denn auch der RBB muss sparen, um die
       goldenen Gemeinschaftsbidets im „Haus des Rundfunks“ abzubezahlen.
       
       Dezember 
       
       Der Glühwein auf den Weihnachtsmärkten kostet jetzt zehn Euro, doch davon
       gehen immerhin zwei an die klamme Stadtkasse.
       
       „Saufen für die Union“, bettelt das Rote Rathaus in grober Anlehnung an
       eine frühere Rettungskampagne für den 1. FC Union Berlin. Damals hatte das
       auch geklappt.
       
       Na denn mal Prost.
       
       31 Dec 2024
       
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