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       # taz.de -- Negativismus in der Gesellschaft: Immerhin, wir leben noch
       
       > Dauernd schlagen uns schlechte Nachrichten aufs Gemüt und zahlen aufs
       > Konto der Rechten ein. Zeit für einen vorsichtigen Perspektivenwechsel.
       
   IMG Bild: Ein rosarotes Bild zu malen, ist vielleicht auch nicht richtig, um sich besser zu fühlen. Aber man kann ja langsam anfangen
       
       Irgendwann im Jahr 2022 schnitten sich die Kurven. Seither haben mehr
       Menschen in Deutschland das Gefühl der Unsicherheit als ein Gefühl der
       Zuversicht. Der Pessimismus überholte den Optimismus. [1][Mittlerweile
       steht es laut dem Meinungsforschungsinstitut Civey beinahe 40 zu 25 Prozent
       für das Unsicherheitsbewusstssein.] Vor fünf Jahren war es noch umgekehrt.
       Und auch damals hätte man ja auch nicht unbedingt das Empfinden gehabt, in
       einer Epoche der überbordenden Fortschrittshoffnung und des
       Zukunftsvertrauens zu leben.
       
       Fröhlichkeit, Gelassenheit oder Miesepeterei, das sind Gefühle, und Gefühle
       sind meist eher persönliche Angelegenheiten. Ist man eine eher sonnige
       Natur oder eher ein dunkel gestimmter Typ? Dennoch lassen sich Politik und
       Gefühle nicht trennen. Dass Gefühle in der Politik zentral sind, ist eine
       Tatsache, dass eine „Politik der Gefühle“ häufig einen schlechten Leumund
       hat, aber ebenso. Gefühle kommen aus unserem Inneren, sind aber doch
       gesellschaftlich gemacht – und haben eine gesellschaftliche Wirksamkeit.
       
       Nicht selten wird beschworen, dass es „mehr Optimismus“ bräuchte,
       gelegentlich wird er sogar laut eingefordert. Doch schon beim Einzelnen
       hilft es bekanntlich sehr wenig, eine traurige Person zur Glücklichkeit
       aufzufordern oder einer depressiven zu raten, sie möge doch mit dem
       Depressivsein aufhören. Das gilt für die kollektiven Emotionen genauso.
       
       Unablässig werden wir mit schlechten Nachrichten bombardiert. Krieg,
       Ukraine, Nahost, Massaker, Gefahren, die immer näher kommen, das Gefühl,
       dass der Boden zunehmend schwankend wird. Die Eilmeldung vom
       Terroranschlag, die uns in Gehirn – und Gemüt – einschlägt. Dauernd
       irgendwelche Wahlen, aus denen rechte Extremisten und Brandstifter als
       Sieger hervorgehen. Donald Trump, der in den USA gewonnen hat, eine
       Regierung von Verrückten, Extremisten, Oligarchen und Speichelleckern
       bildet und droht, die Medienleute und sogar innerparteiliche Gegner
       einsperren zu lassen.
       
       ## Im Endergebnis haben alle Angst
       
       „Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr“, kein Zufall, dass die Zeile
       von W. B. Yeats zum gefügelten Zitatschatz gehört. Dazu: das Chaos einer
       multipolaren Welt, Rezession, Pleitewellen, die Inflation. Das Klima des
       Negativismus kriecht in jede Ritze. „Newsavoidance“, also vorsätzliche
       „Nachrichtenvermeidung“, ist mittlerweile ein viel diskutiertes Phänomen.
       Man klappt die Ohren zu, weil man sonst gelähmt oder verzweifelt würde.
       
       Ein bekanntes Pessimismusparadoxon besteht darin, dass die Polarisierung
       und der Aufstieg der extremen Rechten zu Pessimismus führen – und genau
       dieser Pessimismus wiederum den radikalen Rechten nützt. Sie leben von der
       Angst, von der Angst vor Ausländern, Migration, dass alles schlechter wird.
       Am Ende haben die Rechten Angst vor Migration, den Muslimen und vor der
       Welt, die anderen haben Angst vor dem Rechten. Das Ergebnis ist, dass alle
       Angst haben. So wird die Angst zum letzten Konsens in der zerstrittenen
       Gesellschaft.
       
       In der „Gesellschaft der Angst“ (Heinz Bude) sind die Gefährdungsgefühle
       und die schlechte Stimmung einerseits gut begründet, andererseits entsteht
       auch eine Spirale des Negativismus und ein Tunnelblick, in dem die
       Wirklichkeit völlig verzerrt wahrgenommen wird. Insbesondere dann, wenn man
       in die Fänge von Boulevard, Hetzmedien und die Erregungs- und
       Empörungsbewirtschafter der sozialen Medien gerät, wenn die Diskurse von
       den Rechtsextremen dominiert werden, deren Geschäftsgrundlage nicht die
       Hoffnung, sondern die Panik ist.
       
       Sie halten sich bekanntlich an das propagandistische Prinzip der „Anhäufung
       von erfundenen Schrecken auf wirkliche“, wie das [2][Leo Löwenthal] schon
       vor mehr als siebzig Jahren in seinen Untersuchungen über die Rhetorik
       faschistischer Agitatoren beschrieben hat. Und damals gab es noch nicht mal
       Twitter oder Tiktok und eine medial-technologische Struktur, in der das
       Empörende automatisch mehr „klickt“ als das Normale oder Erfreuliche.
       
       ## Rechte Parteien machen unglücklich
       
       Die Reaktion leckt sich da die Finger. Dass die „geistige Verwandtschaft
       zwischen Pessimismus und Reaktion zweifellos offen zutage“ liegt, hat schon
       George Orwell bemerkt. Während die Linke eher mit Fortschrittsgeist,
       Beginnergefühl und Aufbruchspathos verbunden war, beklagte die Rechte die
       Dekadenz der Moderne, sah den „Untergang des Abendlandes“, die
       zeitgenössische Ära als „Verfallszeit“, und selbst milder gestimmte
       Konservative waren voller Nostalgie gegenüber früheren Zeiten. Übrigens,
       „der Nörgler“ und „der Optimist“, das sind die beiden großen Antipoden, die
       schon Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“ auftreten lässt.
       
       Je pessimistischer und negativer man die eigene Lage beurteilt und die
       künftigen Aussichten, umso stärker schlägt Frustration in blanke Wut und
       Zerstörungssehnsucht um. So berichtet der Leipziger Soziologie André
       Schmidt, manche AfD-Wähler aus der Arbeiterklasse bekunden, dass sie sich
       von dieser Partei keine „Verbesserung für ihr eigenes Leben erwarten. Es
       ist ein destruktiver Impuls, an den keinerlei Hoffnungen geknüpft sind.“
       
       Bettina Kohlrausch, Forschungsdirektorin bei der Böckler-Stiftung, merkt
       an, Wähler rechter Parteien „beurteilen dieselbe Situation negativer“.
       Also, wenn alle sonstigen Bedingungen gleich sind – gleicher Job, gleicher
       sozialer Status, gleiches Einkommen, gleiches Milieu –, dann sind
       AfD-Wähler negativere Naturen. Sehen andere die Ambivalenzen, das Für und
       Wider, sind sie fixiert auf das Negative.
       
       Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin haben [3][in einer umfassenden
       Studie] sogar etwas herausgefunden, was man salopp so zusammenfassen kann:
       Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien machen unglücklich. Und
       besonders unglücklich machen sie ihre eigenen Anhänger.
       
       ## Negative Auswirkungen auch auf die Wirtschaft
       
       Das liegt keineswegs daran, dass Parteien, welche die Verlierer des
       sozialen Wandels sammeln, automatisch eine „unglücklichere“ Wählerschaft
       haben, und auch nicht an der in der Demokratie recht trivialen Tatsache,
       dass Anhänger der Regierung eher zufrieden sind als Anhänger der
       Opposition. Die Forscher hatten vielmehr untersucht: Wie unzufrieden sind
       die Personen im Vergleich mit sich selbst, bevor sie zu Anhängern von
       Rechtsextremen wurden? Das Ergebnis: Wer zu einem Wähler der AfD wird,
       erlebt „eine Verschlechterung des Wohlbefindens“.
       
       Unzufriedenheit geht gewiss der Entwicklung zum AfD-Unterstützer voraus,
       „aber das verbessert ihr Wohlbefinden nicht. Im Gegensatz dazu steigt die
       persönliche Unzufriedenheit.“ Kurzum: Höcke, Kickl und Co. machen
       unglücklich. Der Spiegel zitiert die Forscherinnen wie folgt:
       „Rechtsextreme Bewegungen leben von einer Rhetorik der Negativität und
       überschwemmen ihre Anhänger mit negativ formulierten Themen und
       Nachrichten“, sagt Maja Adena, Co-Autorin der Studie. Die Anhängerinnen und
       Anhänger der AfD würden mit negativen Botschaften regelrecht „infiziert“.
       
       Die paradoxen und fatalen Rückkoppelungen von realen Geschehnissen und
       kollektiven Emotionen wirken nicht nur in der Politik, sondern auch in der
       Wirtschaft – und die strahlt dann noch einmal auf die Politik zurück.
       Rezession und getrübte Wachstumsaussichten sind ja ein Grund für die
       negative Stimmung. Doch die Stimmung der Unsicherheit führt sofort dazu,
       dass die Menschen ihren Konsum einschränken, was dann erst recht die
       Konjunktur abwürgt. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang vom
       „Angstsparen“.
       
       In einer solchen Situation kann es im schlimmsten Fall so weit kommen, dass
       staatliche Konjunkturprogramme kaum mehr etwas bewirken, denn jeder Euro,
       mit dem etwa eine Regierung die Ökonomie stimulieren wollte, würde sofort
       am Sparbuch landen. In Deutschland stieg die Sparquote – die ohnehin seit
       Langem im internationalen Vergleich sehr hoch ist – 2024 noch einmal
       deutlich an. In Österreich sparen die Haushalte rund sechs Milliarden Euro
       mehr als in den Jahren vor der Pandemie. Für die Konjunktur, die
       Investitionen, den Arbeitsmarkt und für die Staatshaushalte ist das
       gleichermaßen Gift.
       
       ## Probier's mal mit guten Nachrichten
       
       Lustigerweise ist nicht nur Pessimismus, sondern auch zu viel Optimismus
       gefährlich für die Wirtschaft: Wenn eine Atmosphäre übertriebener
       Zuversicht herrscht, gibt es Goldgräberstimmung, viele Leute gehen zu hohe
       Risiken ein, und das führt dann oft dazu, dass es einen großen Crash gibt,
       auch mit Bankenzusammenbrüchen und Finanzkrisen. Vor 15 Jahren beklagte man
       noch, dass „das positive Denken die Wirtschaft zerstörte“ (Barbara
       Ehrenreich). Ein Problem, das man sich heutzutage beinahe wünschen würde.
       
       Sieht man einmal von den unmittelbaren Gefährdungserfahrungen der Gegenwart
       ab und weitet man etwas den Horizont, so liegt man mit dem Hinweis sicher
       nicht falsch, dass alternde Gesellschaften eher pessimistische als
       optimistische Gesellschaften sind. Ein deutlich größerer Anteil der
       Bevölkerung ist mit „Verlusten der eigenen Vitalität“ konfrontiert, so
       Andreas Reckwitz in seinem zeitdiagnostischen Buch „Verlust“. In alternden
       Gesellschaften leben mehr Menschen, die empfinden, ihre beste Zeit schon
       hinter sich zu haben, während jene, die sich daran machen, der Welt ein
       Bein auszureißen, eine zunehmend kleinere Minderheit sind. Es herrscht wohl
       automatisch weniger „Beginnergefühl“, wenn ein Großteil der Gesellschaft
       schon mit altersbedingten Wehwehchen beschäftigt ist.
       
       Gewiss ist die Wut, der Zorn, die Verliebtheit ins Dagegensein eine starke
       Emotion. Doch es gibt auch ein wachsendes Leiden an der
       Dauerdeprimiertheit, die wie eine schweres Federbett auf unserer Welt
       liegt. Auch die Hoffnung und der Optimismus sind Gefühle, die Schwung
       geben, lassen sich aber leider nicht voluntaristisch verordnen. Schon gar
       nicht wider alle Evidenzen. Es gibt auch in dieser Welt ein paar gute
       Nachrichten, großartige Fortschritte. Man muss nicht gleich zwanghaft ein
       rosarotes Bild malen, das dann auf umgekehrte Weise falsch wäre. Vielleicht
       sollte man ja den Newsletter von Positive News abonnieren, dann erfährt man
       zwischen all dem Schrecken Dinge wie „What Went Right in 2024“.
       
       Um mit einer Minimalversion zu beginnen: Ich und Sie, wir leben noch.
       
       Kann ja auch nicht jeder von sich behaupten.
       
       30 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.progressives-zentrum.org/politische-empathie-in-zeiten-des-umbruchs/
   DIR [2] /Neuauflage-Falsche-Propheten/!5771315
   DIR [3] https://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/afd-waehlen-macht-ungluecklich
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
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