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       # taz.de -- Buchpremiere von Angela Merkel: Nur nicht rumjammern
       
       > Altkanzlerin Merkel stellt ihre Memoiren vor und spricht über die DDR,
       > Männer in der Politik und Putin. Fehler bei ihrer Russlandpolitik sieht
       > sie nicht.
       
   IMG Bild: Keine Selbstkritik, auch nicht auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin: Angela Merkel
       
       Berlin taz | Das Gespräch dauert schon eine gute Stunde, als [1][Angela
       Merkel] doch selbstkritisch wird, ein bisschen zumindest. Sie gebe in
       [2][ihren Memoiren] nur kleine Fehler zu, etwa dass sie zu Beginn ihrer
       politischen Karriere mit Schlabberpullis durch die Bonner Republik gezogen
       sei, hat Anne Will der Altkanzlerin gerade vorgeworfen. Aufrichtige
       Selbstreflexion fehle. „Tue ich Ihnen Unrecht?“, fragt die Moderatorin.
       
       „Ja“, antwortet Merkel, hält kurz inne und sagt dann, nicht genug für den
       Klimaschutz getan zu haben. Auch sei in die Bundeswehr nicht ausreichend
       Geld geflossen. Von Putins [3][Angriffskrieg auf die Ukraine] spricht sie
       hier nicht.
       
       Merkel und Will sitzen am Dienstagabend auf der Bühne des Deutschen
       Theaters in Berlin-Mitte in zwei schlichten grauen Sesseln, dazu sind drei
       unauffällige Tischchen gruppiert, alles sehr dezent. Selbst Merkel,
       eigentlich für ihre farbenfrohen Jacken berühmt, hat sich an diesem Abend
       für einen weißen Blazer entschieden.
       
       Über den beiden Frauen aber leuchtet groß und in strahlendem Blau das Cover
       des Buches, um das es hier nun knapp zwei Stunden gehen wird.
       [4][„Freiheit“, Merkels Erinnerungen], über 700 Seiten stark, die sie
       gemeinsam mit ihrer Weggefährtin und ehemaligen Büroleiterin Beate Baumann
       verfasst hat. Baumann, sagt Will, sei hinter der Bühne. Merkels Mann,
       Joachim Sauer, sitzt im Publikum, auch der Schauspieler Ulrich Matthes ist
       da, der ehemalige Fraktionschef Volker Kauder und ihr früherer Sprecher
       Ulrich Wilhelm sind gekommen. Die Schauspielerin Corinna Harfouch hat
       irgendwo Platz genommen, sie hat das Hörbuch von „Freiheit“ eingelesen.
       
       Draußen vor der Tür stehen ein paar Querdenker, drinnen ist das Theater mit
       seinen gut 600 Plätzen brechend voll, die Buchvorstellung war ruckzuck
       ausverkauft. „Wer wollen Sie in Ihrer Geschichte gewesen sein?“, so
       beschreibt Will zu Beginn des Abends die Frage, die durch das Gespräch
       führen soll. Denn natürlich geht es um Deutungshoheit über das eigene
       Schaffen, wenn Politiker*innen Memoiren verfassen.
       
       ## Abifeier mit Kirsch-Whisky
       
       Das Gespräch folgt dem Buch: Erst geht es um Merkels Leben in der DDR, dann
       um ihren Aufstieg in der CDU, am Ende steht die Kanzlerschaft, 16 Jahre
       lang. [5][2015, sagt Merkel, sei dabei eine Zäsur gewesen]. Sie teile ihre
       Zeit als Kanzlerin in ein Davor und ein Danach. Auch aus den Kontroversen
       aus dieser Zeit sei die Idee des Buches entstanden. Merkel will sich und
       ihre Entscheidung, die Grenze für Geflüchtete nicht zu schließen, noch
       einmal erklären.
       
       Zuerst aber erzählt sie von ihrem Leben in der DDR, von der Vorbereitung
       durch ihre Eltern auf das Leben in der Diktatur, von ihrer Abifeier mit zu
       viel Kirsch-Whisky, die mit dem Sturz in einen See endete. In einen
       „uckermärkischen, eiszeitbeschaffenen See“, wie Merkel betont. Will, die
       aus Köln stammt, hatte fälschlicherweise von einem Baggersee gesprochen.
       
       „Ich habe meine Kraft aus meinem Leben in der DDR geschöpft“, sagt Merkel.
       „Ein anderes hatte ich ja nicht.“ Und dass es doch eigentlich „eine schöne
       Mitteilung“ sei, dass die Fähigkeiten, die sie dort erworben habe, dafür
       gereicht hätten, 16 Jahre Bundeskanzlerin in der Bundesrepublik Deutschland
       zu sein.
       
       Wer Merkel zuhört, realisiert schnell, wie wichtig ihr die erste Hälfte
       ihres Lebens ist, die sie in der DDR verbracht hat. Und wie sehr es sie
       traf, als ein Springer-Journalist sie als „angelernte Bundesbürgerin“
       bezeichnete oder die Konrad-Adenauer-Stiftung vom „Ballast ihrer
       DDR-Biographie“ sprach. Darüber sprach sie erst 2021 in ihrer Rede zum Tag
       der Deutschen Einheit, kurz vor de Ende ihrer Kanzlerschaft. Warum? Wäre
       früher nicht besser gewesen, auch weil andere Ostdeutsche das ähnlich
       empfunden haben? „Ich wollte die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein“,
       antwortet Merkel. Viel mehr sagt sie dazu nicht.
       
       ## Siegerin in der Machtmaschine
       
       „Was war das größere Problem als Kanzlerin: Ostdeutsche oder Frau zu
       sein?“, fragt Will. „Unterm Strich: eine Frau zu sein“, antwortet Merkel
       überraschend klar. Und warum sie dann das „Männer!“, mit dem sie im
       jüngsten Spiegel über das Ampel-Aus geurteilt hätte, nicht auch den Männern
       in ihrer Partei zugerufen habe? Den Kochs und Wulffs und Merzens etwa, die
       sich im sogenannten Andenpakt versprochen hatten, die Kohl-Nachfolge unter
       sich auszumachen und sie mit Häme und Missachtung überzogen?
       
       Sie wollte nicht jammerig wirken, sagt die Altkanzlerin, die sich am Ende
       durchsetzte – was Merz, inzwischen selbst CDU-Chef und immerhin
       Kanzlerkandidat, ihr vermutlich bis heute nicht ganz verziehen hat.
       Parteien, sagt Merkel, das seien Machtmaschinen. „Das ist wie im Sport.“ Da
       könne man ja auch nicht rumjammern, man habe verloren, weil man Frau sei
       oder Ostdeutsche.
       
       Und schon ist man wieder bei [6][Merz]. Gönnt sie diesem nach all den
       Jahren, dass er vielleicht bald Kanzler wird? „Ja“, sagt Merkel da. „Man
       braucht diesen unbedingten Willen zur Macht. Friedrich Merz hat ihn auch,
       und deshalb gönne ich es ihm.“
       
       Merkel und Will kennen sich schon lange. Als Kanzlerin war Merkel früher
       mehrmals Einzelgast in Wills Talkshow, die damals am Sonntagabend nach dem
       Tatort lief. Trotz präziser Nachfragen ist die Atmosphäre auf der Bühne
       gut, die beiden Frauen harmonieren, das Gespräch ist kurzweilig und hat –
       dank Merkels Humor – auch immer wieder richtig witzige Stellen. Das
       Publikum, der Altkanzlerin ohnehin wohlgesonnen, lacht bereitwillig mit.
       Beklatscht wird sie sowieso.
       
       Etwa als sie noch einmal von ihrer Entscheidung im Sommer 2015 berichtet,
       sie liest dazu auch eine Passage aus ihrem Buch. Sie hätte ihren viel
       zitierten Satz „[7][Wir schaffen das]“ nicht gesagt, wenn sie gedacht
       hätte, dass dies eine leichte Aufgabe sei, so die Altkanzlerin. „Dann hätte
       ich das nicht sagen brauchen.“ Sie habe keine Alternative zu ihrer
       Entscheidung gesehen, die Geflüchteten rein zu lassen, eine Zurückweisung
       an der deutschen Grenze wäre „noch dramatischer“ gewesen. „Insofern habe
       ich am Anfang akzeptiert, dass so viele Menschen kamen.“
       
       Der Zuzug habe sich dann auf die politischen Verhältnisse in Deutschland
       ausgewirkt: „Ich freu mich natürlich nicht, dass die [8][AfD] stark
       geworden ist.“ Das klingt fast so, als habe sie selbst damit nichts zu tun.
       Selbstkritisches jedenfalls ist hier nicht von ihr zu hören. Die
       Zurückweisung von Geflüchteten an der Grenze, wie Merz sie fordert, lehnt
       Merkel auch heute noch ab. Ob dieser ihr Erbe damit verrate, fragt Will.
       „In dieser Frage haben wir unterschiedliche Meinungen, und das ist ja auch
       nichts Neues“, sagt die Altkanzlerin. „Ich halte es auch für den falschen
       Weg.“
       
       ## Keine Selbstkritik auch im Fall Ukraine
       
       Gut anderthalb Stunden dauert es, bis das Gespräch bei [9][Russland und
       Putins Angriffskrieg, bei der Ukraine], dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest
       und der Pipeline Nord Stream 2 angekommen ist. Auch hier: Merkel erklärt,
       was sie antrieb, infrage stellt sie es nicht. „Einerseits ging es um
       billiges Gas, das war gut für die deutsche Wirtschaft“, sagt sie etwa.
       „Andererseits wollte ich auch nicht alle wirtschaftlichen Beziehungen zu
       Russland kappen.“ Sie sehe nicht, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen
       hätte, wenn es Nord Stream 2 nicht gegeben hätte.
       
       „Sie bereuen nichts? Sie machen sich keinen Vorwurf?“, fragt Will nach.
       „Ich persönlich halte es auch im Rückblick für keinen Fehler. Das muss ich
       einfach so sagen“, antwortet die Altkanzlerin. Und fügt dann noch etwas
       gereizt hinzu: „Warum muss ich das machen? Ist das ein Gütesiegel an sich?“
       Auch dafür bekommt sie Applaus, zumindest von einem Teil des Publikums.
       
       Die Memoiren werden in über 30 Ländern verkauft. Anfang Dezember reist
       Merkel nach Washington, um die englische Übersetzung mit [10][Ex-Präsident
       Barack Obama] vorzustellen, weitere Termine sind laut Verlag in Paris,
       Barcelona, Mailand und Amsterdam geplant. Zunächst aber reist Merkel zur
       Lesung nach Stralsund, in ihren alten Wahlkreis.
       
       27 Nov 2024
       
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