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       # taz.de -- Neues Kulturzentrum in Ukraine: Ansage gegen den Nihilismus
       
       > In der ukrainischen Stadt Lwiw entstand während des Kriegs das Kulturhaus
       > Jam Factory. Es erinnert an jüdisches Leben und widmet sich der Ukraine.
       
   IMG Bild: Die verlassene Likörfabrik der jüdischen Unternehmerfamiilie Kronik in Lwiw vor ihrem Umbau
       
       Es war eine erstaunliche Nachricht mitten im russischen Angriffskrieg:
       Trotz all der sinnlosen Zerstörung in der Ukraine wurde vor einem Jahr ein
       neues Kunst- und Kulturzentrum eröffnet, ein spektakulär wie behutsam
       renoviertes, architektonisches Kleinod und Beispiel der Revitalisierung
       eines historischen Industriedenkmals.
       
       Gerade hat die [1][Jam Factory im westukrainischen Lwiw (Lemberg)] ihr
       einjähriges Jubiläum als interdisziplinärer Kunstort gefeiert, den es so in
       der Ukraine sonst nirgends gibt, der zugleich, vielleicht ein bisschen, die
       Traumata dieses Kriegs bearbeiten und eine friedliche, prosperierende
       Zukunft entwerfen soll.
       
       Und hier ist die bewegte Geschichte von Lwiw als Zentrum des europäischen
       Judentums wieder sichtbar geworden. Finanziert wurde dies von einer
       privaten Stiftung, geleitet vom Historiker und Mäzen Harald Binder. Acht
       Jahre lang, nur kurz unterbrochen vom Kriegschaos im Februar 2022, dauerten
       die Bauarbeiten an dem neogotischen Gebäudekomplex der Jam Factory, das mit
       seinem herausragenden Turm, den Ecktürmen, Bogengängen und Zinnen an eine
       mittelalterliche Burg erinnert.
       
       Das leuchtende Weiß, die vertikalen Riesenbuchstaben und das „Jam Factory“
       in knalliger Blockschrift auf dem Turm erzählen allerdings eine andere
       Geschichte. „Kronik and son“ prangt als alter Schriftzug auf dem hellen
       Kalkmörtel, mit dem die Fassade neu verputzt wurde.
       
       ## Stolze jüdische Kaufmannsdynastie
       
       Im Jahr 1872 gründete der jüdische Unternehmer Josef Kronik hier eine
       Likörfabrik, die ihm zu Reichtum und Ansehen verhalf. Eine historische
       Ausstellung im Turm erzählt die Geschichte der stolzen jüdischen
       Kaufmannsdynastie, deren letzte Mitglieder 1941 nach Auschwitz und
       Theresienstadt deportiert wurden. Moritz Kronik, der „Sohn“ aus dem
       Schriftzug, wurde von den Nazis erschossen, die Spur seiner Frau verliert
       sich irgendwo in Wien.
       
       Später wurde die dreiteilige Fabrikanlage von den Sowjets als
       Marmeladenfabrik genutzt. Nach dem Zusammenbruch verfiel das Areal, wurde
       zu einem Lost Place, ab und zu für Untergrundkonzerte oder Modeschauen
       genutzt. Und dann kaufte sie Harald Binder.
       
       Binder ist Deutschschweizer und lebt in London, wenn er nicht in seiner
       Lemberger Wohnung ist. Sein Geld kommt aus einer deutschen
       Industriellenfamilie, deren Namen er nicht veröffentlichen will – sie
       gehört zu den reichsten Unternehmerdynastien der Bundesrepublik.
       
       ## Unglaubliches Potenzial der Stadt
       
       Seit über zwanzig Jahren hat Binder Verbindungen zur Stadt Lwiw, die ihn
       fasziniert: „Krakau oder Budapest sind heute stark erschlossen, während das
       historische Erbe der Stadt Lemberg eher unter dem Radar lief. Dabei hat die
       Stadt unglaubliches Potenzial“, erzählt er im Café seines „Zentrums für die
       Stadtgeschichte Ostmitteleuropas“, das er hier im Jahr 2004 [2][in einem
       prachtvollen Jugendstilbau im Stadtzentrum gegründet hat]. Nach und nach
       bezahlte er die Familien, die darin wohnten, aus, sodass sich das
       mittlerweile international renommierte Forschungsinstitut mit vielen
       Mitarbeitern heute über mehrere Etagen erstreckt.
       
       Besonders kümmert man sich um das jüdische Erbe der Stadt, das nicht jedem
       Ukrainer präsent ist. Nur noch rund 1.500 Mitglieder haben die zwei
       jüdischen Gemeinden, einst waren es etwa 150.000, erzählt Binder. Auch von
       den Kroniks hat wohl niemand überlebt.
       
       An die stolze Geschichte der Unternehmerfamilie erinnert nun eine
       Ausstellung im Turm, ausgelegt mit feinstem historischen Parkett, in der
       Nähe der gediegen-edlen Cocktailbar mit Kachelofen und Bücherregalen – auch
       eine Form der Erinnerung an eine erfolgreiche Unternehmerfamilie, die
       beispielhaft für Aufstieg und Untergang des Ostjudentums steht, vernichtet
       von den Nazis und willigen Helfern am Ort.
       
       „Unfassbar viel hat die Stadt Lemberg hier verloren, die zu einem Drittel
       jüdisch war, in der Wissenschaft, Kultur und Unternehmertum stark jüdisch
       geprägt waren“, erzählt Binder, der immer noch weiter nach
       Kronik-Nachkommen sucht und dafür bis in die USA gereist ist.
       
       ## Kulturzentrum für den Stadtteil
       
       Und weil die lange jüdische Geschichte Lembergs im Stadtbild kaum präsent
       ist, hat seine Stiftung der Stadt vor einigen Jahren auch ein Mahnmal
       gestiftet. Errichtet ist es an der Rückwand der zerstörten
       Golden-Rose-Synagoge, einst die älteste Synagoge der Ukraine. Es erinnert
       ein wenig an das Holocaust-Mahnmal in Berlin mit seinen vielen hunderten
       dunklen Stelen.
       
       Das gewaltige Unternehmen Jam Factory hat noch mal eine ganz andere
       Dimension: Hier wird nicht nur historisches Erbe bewahrt, sondern ist ein
       Kulturzentrum mit laufenden Fixkosten entstanden und dem Anspruch, Kunst,
       Konzerte und Theater zu zeigen sowie Künstlerresidenzen anzubieten. Vorher
       gab es im ehemals jüdisch geprägten Industrie- und Arbeiterviertel kaum
       Kulturangebot. „Ich wollte den Menschen zeigen, dass hier jemand bereit
       ist, in ihre Zukunft zu investieren“, sagt Harald Binder.
       
       Die ukrainische künstlerische Leiterin und Kuratorin Bozhena Pelenska hat
       das Programm bewusst interaktiv gestaltet: Es gibt How to stay
       together-Workshops, eine performative „Klinik für innere Heilung“,
       Integrationsprogramme für Künstler, die im Krieg ins westukrainische Lwiw
       geflohen sind, Musikateliers für Anwohner, gemeinsame Traumaarbeit. Am
       Eröffnungswochenende standen die Menschen in langen Schlangen vor dem
       Einlass.
       
       ## Historische und neue Bausubstanz verbunden
       
       Doch auch architektonisch gesehen ist hier Bedeutsames geschehen: Die
       Zusammenführung von historischer und neuer Bausubstanz in verblüffend
       ästhetischer Geschlossenheit. Binders Stiftung hatte dem Umbau der alten
       Fabrikanlage einen Architekturwettbewerb vorgeschaltet. Aus fünf
       Bewerberentwürfen (drei aus der Ukraine) kam schließlich derjenige des
       Wiener Architekten Stefan Rindler hervor. Sein Vorschlag wurde von der
       Wettbewerbsjuryals als „am historisch einfühlsamsten“ bewertet.
       
       Eng wurde bei der Ausführung dann mit dem Lemberger Architekten Yulian
       Chaplinsky und dem Wiener Baudesigner Herbert Pasterk zusammengearbeitet.
       Den neogotischen Ritterschloss-Stil, mit dem Kronik einst Erfolg und
       bürgerlichen Anspruch ausdrückte, ergänzten die Architekten mit einem
       beleuchteten schwarzen Kubus, Büros und Künstlerwohnungen, im Innenhof ist
       das „Jam Café“ mit viel Holz, Beton und riesigen Fensterfronten entstanden.
       
       Auch der russische Angriffskrieg schreibt sich in die neue Architektur ein:
       Ins Untergeschoss wurde ein Luftschutzkeller eingebaut (auch als
       Ausstellungsraum nutzbar), im Innenhof ist ein mit Solarpaneelen
       überdachter Parkplatz entstanden, geheizt wird mit Wärmepumpen, was eher
       ungewöhnlich ist in der Ukraine. Man ist jetzt eben auch gewappnet für die
       vielen Gas- und Stromausfälle im Krieg.
       
       Trotzdem kann man den Krieg ein bisschen vergessen an diesem Ort. Man kann
       über mehrere Etagen flanieren, es gibt Dachterrassen, begrünte
       Zwischengänge, viele Ausblicke. Für die Sanierung des Ensembles wurde nach
       den Richtlinien des Forschungsprojekts „Open Heritage“ gearbeitet, das
       nachhaltige Modelle für die Revitalisierung historischer Kulturstätten
       entwirft. Nur ein Teil des Areals wurde abgerissen, der Dachstuhl aus Holz
       demontiert und neu mit Stahlstützen gesichert.
       
       Um eine große Ausstellungshalle zu schaffen, wurde viel altes Material
       wiederverwendet: historische Ziegel und Holz gesammelt, gereinigt und
       restauriert. Diese Architektur zwischen Erinnerung und Neuanfang, das
       Kulturprogramm, mit dem sie bespielt wird, es ist eine klare Ansage gegen
       den Nihilismus des Kriegs.
       
       28 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://jamfactory.ua/en/
   DIR [2] /Dokumentation-des-Alltags/!5859122
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Marcus
       
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