URI: 
       # taz.de -- Demenzkranke spielen Theater: „Der Tod ist unser ungeliebter Mitspieler“
       
       > Das Theaterensemble Papillons hat seine Spielstätte in einem
       > Pflegewohnheim. Hier machen Kinder und Jugendliche zusammen mit alten
       > Menschen Theater.
       
   IMG Bild: Ein Szenenfoto der diesjährigen Inszenierung „Die Anprobe“ des Theaterensembles Papillons
       
       Berlin taz | „Wer bist du?“ – „Ich bin dein Blauauge.“ – „Mensch, dass ich
       dich sehe!“ – „Komm, wir tanzen.“ – Let’s dance, wie früher!“ Eine
       Begegnung im Jenseits, an einem Nachmittag im November. Der Saal eines
       Kreuzberger Pflegewohnheims ist zu einer Bühne umgebaut.
       
       Darauf: Elf Bewohner:innen der Einrichtung, alle zwischen 80 und 100
       Jahre alt, viele von ihnen mit Demenz. Zu der Welt draußen haben sie nur
       wenig Kontakt, aber egal – heute kommt die Welt zu ihnen: neun Kinder und
       Jugendliche sowie sechs Profis, die mit ihnen Theater machen, dazu kommen
       etliche ehrenamtliche Helfer:innen. Rund 85 Zuschauer:innen sind zudem
       da, um sich im F2 Theater im Pflegewohnheim das Musiktheaterstück „Die
       Anprobe“ anzusehen.
       
       „Viele, vor allem junge Leute, sagen uns: wir sind zum ersten Mal in einem
       Pflegeheim. Da schwingen viele Vorurteile und auch Ängste mit, die sich
       jedoch nicht einlösen. Stattdessen erleben die Leute ein besonderes
       Theaterereignis“, sagt Christine Vogt. Sie ist die Initiatorin und Leiterin
       des [1][Theaterensembles Papillons], mit dem sie seit rund acht Jahren
       Stücke entwickelt und auf die Bühne bringt.
       
       Theater mit Menschen zu machen, die nicht der Norm entsprechen und deshalb
       am Rand der Gesellschaft leben, ist für Christine Vogt normal. Fast drei
       Jahrzehnte hat die 68-jährige Theatermacherin mit psychisch oder körperlich
       beeinträchtigten Menschen gearbeitet. Auf die Idee, Theater in einem
       Pflegewohnheim zu machen, brachte sie eine Mitarbeiterin ihres Vaters, die
       an Demenz erkrankt war. „Dieses Oszillieren zwischen da und nicht da, das
       hatte mich sehr angerührt“, erinnert sich Vogt.
       
       ## Eine Ausbildung als Betreuungsassistenz
       
       Zu Beginn sei sie mit einem Rucksack voll Requisiten und Musik von einer
       Tagespflegestelle zur nächsten gereist. Auf Dauer sei das aber viel zu
       aufwändig gewesen. So habe sie sich bei einem Pflegewohnheim des
       Unionhilfswerks in ihrer Nähe vorgestellt. „Die Leitung war von Anfang an
       sehr aufgeschlossen“, erzählt Vogt.
       
       Zwar gab es kein Geld für Künstlerhonorare, in der Geschäftsführung kam man
       jedoch auf eine andere Idee: „Ich habe eine Ausbildung als
       Betreuungsassistenz gemacht und bin fest angestellt worden, um mit den
       alten Leuten künstlerisch zu arbeiten“, sagt Vogt. „Das war quasi ein
       Modellversuch und wäre ohne eine solch engagierte Leitung gar nicht möglich
       gewesen.“
       
       Das Experiment ist aufgegangen, und auch jetzt, nach ihrem Renteneintritt,
       trainiert Vogt jede Woche mit Bewohner:innen aus dem Kreuzberger
       Wohnheim Schauspiel und Gesang. In Zusammenarbeit mit Profis aus der
       Theaterwelt entwickelt sie Projekte, von denen mindestens eins pro Jahr zur
       Aufführung kommt.
       
       Auch in der Coronazeit wurde die Arbeit fortgeführt, die Bewohner:innen
       spielten vom Balkon aus und sprachen Podcasts ein, und ein Film wurde
       gedreht. „In dieser Zeit sind auch die Kinder zu uns gekommen“, berichtet
       Vogt. „Eine Lehrerin der Rütli-Schule schrieb uns, dass sich einige ihrer
       Schülerinnen fragten, wie es den alten Menschen geht. Daraufhin habe ich
       zwischen den Alten und Kindern Partnerschaften entwickelt. Zuerst gab es
       Zoom-Konferenzen, dann haben wir uns im Park getroffen und schließlich
       begonnen, zusammen Theater zu machen.“
       
       ## Manchmal brauchen die Älteren Unterstützung
       
       Zwei der Schülerinnen sind nach wie vor dabei, und auch heute noch wird
       jedem alten Ensemblemitglied ein Kind zur Seite gestellt. „In welchem Kleid
       möchtest du im Gedächtnis bleiben?“, fragen die Kinder zu Beginn des neuen
       Stücks. Manchmal kommen die Antworten spontan, manchmal brauchen die
       Älteren beim Erzählen Unterstützung. Ob nun ein Hochzeitskleid, eine mit
       Orden bestückte Uniform oder das Gewand eines Doktoranden – sie alle sind
       Erinnerung und Symbol für das, was die alten Menschen erlebt und erreicht
       haben.
       
       Die Kinder und Jugendlichen malen die Kleidungsstücke auf, sie kleiden die
       alten Leute ein und schminken sie. Dass sich ihre Spielpartner etwas
       sonderbar benehmen, stört sie dabei nicht. Vielmehr sind die Kinder bemüht,
       das gemeinsame Spiel möglich zu machen, indem sie ihren Partner:innen
       zum Mikrofon oder zurück zum Faden verhelfen. Vor allem aber animieren sie
       die Alten, von sich und ihrem Leben zu berichten.
       
       „Ich gehe immer vom Biografischen aus“, sagt Christine Vogt über ihre
       Arbeit. Dass Menschen mit Demenz Schwierigkeiten hätten, sich einen fremden
       Text zu merken, sei nicht der alleinige Grund dafür. „Die persönlichen
       Geschichten interessieren mich. In ihnen ist immer auch etwas
       Historisches“, sagt Vogt, die neben ihrer Theaterarbeit auch
       Kulturwissenschaft betreibt.
       
       Der Zugang zu den verschütteten Erinnerungen gelingt über Musik. Christine
       Vogt lässt die alten Menschen ihre Lieblingslieder singen, auf der
       Mundharmonika spielen und sogar jodeln. Auch persönliche Gegenstände sind
       Katalysatoren in der Erinnerungsarbeit, weiß Vogt. Die Interviews, die sie
       mit den Alten führt, geben die Grundlage für ihre Projekte, vieles aus den
       Gesprächen fließt direkt in Theatertext und Inszenierung ein.
       
       ## Herr Thiel verkörpert die Zeilen leibhaftig
       
       So hält Udo Thiel – eine mit rotem Stern gezierte Baskenmütze auf dem Kopf
       – eine Rede, die er 1963 schon mal gehalten hat: „Habt Spaß beim Kiffen!
       Aber raucht nicht zu viel. Dann habt ihr den Kopf frei für die politische
       Aktion.“ Dass ein professioneller Schauspieler (Michael Hanemann) hinter
       Thiel steht und ihm jede Zeile vorsagt, schwächt die Wirkung nicht.
       
       Im Gegenteil wird gerade dadurch deutlich, dass der eine „nur“ spricht,
       während der andere diese Zeilen leibhaftig verkörpert. Dass die
       Zuschauer:innen über Thiels spontanen Einschub „Mehr als vier Joints ist
       Schwachsinn!“ lachen müssen und ihnen gleichzeitig Tränen der Rührung in
       die Augen schießen, macht das enorme emotionale Potenzial dieser
       Theaterarbeit aus. Denn so lustig die Szene auch ist – jedem ist in diesem
       Moment klar, dass auch der stärkste jugendliche Held irgendwann dem Tod
       entgegensieht.
       
       „Der Tod ist unser ungeliebter Mitspieler, der ist immer da“, sagt
       Regisseurin Vogt. Aber wie geht die Theatermacherin damit um, dass das
       Ensemble, das sie mit viel Mühe aufgebaut hat, permanent vom Tod bedroht
       ist? „Es ist komisch, aber diese Frage stelle ich mir gar nicht“, antwortet
       sie. „Sonst könnte ich auch gar nicht im Pflegeheim arbeiten.“
       
       Im Moment präsent zu sein, das ist gefragt. Christine Vogt scheint dies gut
       zu gelingen, immer wieder gilt es spontan zu reagieren, denn an einen
       Inszenierungsplan halten sich Menschen mit Demenz oft nicht. „Meine Art zu
       inszenieren hat eine ganz einfache, klare Struktur“, sagt Vogt. „In diesem
       Rahmen ist auch Unvorhergesehenes möglich.“ Dass sich eine Akteurin
       lauthals beschwert, ein Akteur seinen Text nicht sagt oder mehr spricht als
       geplant, ja, dass auch die Kinder mit Requisiten spielen und ihren Einsatz
       verpassen, das alles kann und darf hier passieren.
       
       ## „Zur Not kann ich in jede Rolle einspringen“
       
       Große Eingriffe braucht es meist nicht, um Ablauf und Timing zu bewahren,
       berichtet Regisseurin Vogt: „Bernd sagte gestern in meine Richtung: Jetzt
       möchte ich eine Zigarette. – Wenn du noch bleibst, dann kriegst du nachher
       drei, hab ich geantwortet. Damit war er einverstanden.“
       
       Zwar passiere es, dass ein Darsteller die Szene verlasse, um rauchen oder
       auf Toilette zu gehen, erzählt Vogt. Auf solche Situationen sei sie jedoch
       vorbereitet: „Zur Not kann ich in jede Rolle spontan einspringen.“
       Notwendig sei das bisher aber nicht gewesen. „Bisher kam noch jeder
       rechtzeitig zu seinem Auftritt zurück.“
       
       Neubesetzungen, die wurden allerdings schon nötig im Laufe der Jahre.
       Mehrere Ensemblemitglieder sind gestorben, zuletzt zwei Akteurinnen der
       aktuellen Inszenierung. „Das ist jedes Mal eine große Herausforderung“,
       sagt Vogt. „Aber mir fällt immer etwas ein.“
       
       So habe sie eine der beiden Verstorbenen durch eine der Jugendlichen
       ersetzt, die diese alte Dame nun spielt. Die andere Frau werde von einer
       Betreuerin verkörpert, den Text spreche die Verstorbene jedoch nach wie vor
       selbst – von Band, Vogt hat die Interviews mit den Alten aufgezeichnet. Das
       Ergebnis zeigt: Der Tod hat dem Stück nicht nur etwas genommen, sondern ihm
       auch eine zusätzliche Schicht hinzugefügt.
       
       ## Bilder der Verstorbenen
       
       Aber wie reagiert die Theatergruppe, wenn ein Teil von ihr plötzlich fehlt?
       „Die Alten haben meist schon einen Tag später vergessen, dass jemand
       gestorben ist. Im Gefühl ist das aber noch da. Und natürlich sind die
       Kinder traurig, so wie ich und die anderen Künstler auch“, sagt Vogt.
       „Diese Trauer darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Deswegen haben
       wir vor der Wiederaufnahme des Stücks einen Kreis gemacht, haben uns Bilder
       der Verstorbenen angeschaut und uns an sie erinnert.“
       
       Der Tod steckt auch in den Klang- und Bildcollagen, die über das Spiel
       hinaus eine Idee von dem Jenseits geben, das sich die alten Menschen
       vorstellen. Die Frage, ob sie bereit seien, die Himmelsleiter empor zu
       steigen, verneinen sie alle. „Ich bleibe hier in der Hölle!“, ruft etwa
       Heidi Neumann und erntet einen Lacher.
       
       Zum Schluss steht fest: Die Akteur:innen des Theaterensembles Papillons
       haben noch einiges vor. Im Juli 2025 kommt ihr neues Stück auf die Bühne.
       
       5 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.unionhilfswerk.de/angebote/pflege/pflegewohnheime/pflegewohnheim-am-kreuzberg/theaterensemble-papillons/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karlotta Ehrenberg
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Alten- und Pflegeheime
   DIR Demenz
   DIR Kinder- und Jugendtheater
   DIR taz Plan
   DIR Schiedsgericht
   DIR Kai Wegner
   DIR Kolumne Starke Gefühle
   DIR Kürzungen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kinotipp der Woche: Feld der Handlung
       
       Das Filmfestival „Unknown Pleasures“ zeigt Indie-Kino aus den USA inklusive
       Männlichkeitsperformances in den Catskills und Baseball mit Gefühl.
       
   DIR Schiedsmann Martin Sorgatz über Streit: „Das größte Problem ist, dass uns kaum einer kennt“
       
       Bei Auseinandersetzungen unter Nachbarn und anderen Konflikten, kann ein
       Schiedsverfahren den Gang vor das Gericht ersetzen, sagt Martin Sorgatz.
       
   DIR Kulturkürzungen in Berlin: Kai Wegner gibt Mentalitätstipps
       
       Der Regierende Bürgermeister findet, die Kulturszene solle sich bei den
       Kürzungen im Haushalt nicht so anstellen. Grüne und Linke sind fassungslos.
       
   DIR Sparpläne des Senats: Berlins Kulturkürzungen sind kostspielig für uns alle
       
       Unsere Autorin ist seit 40 Jahren Schriftstellerin in Berlin und hat schon
       einige Sparrunden mitgemacht. Die neuesten Pläne machen sie fassungslos.
       
   DIR Berlin spart an der Kultur: Grob fahrlässig
       
       Um 11,6 Prozent soll der Kulturetat im nächsten Jahr gekürzt werden. Was
       die Sparpläne der schwarz-roten Koalition konkret bedeuten würden.