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       # taz.de -- Personal in der Pflege: Mehr Vertrauen, weniger Vorschriften
       
       > In der Pflege fehlen Fachkräfte. Nach dem Ampel-Ende liegen Reformgesetze
       > auf Eis, die den Beruf attraktiver machen sollen. Verbände schlagen
       > Alarm.
       
   IMG Bild: Neuer Schwung in der Pflege wird dringend benötigt
       
       Berlin taz | Bereits heute fehlen überall in der Pflege Fachkräfte. Die
       Vorsitzende des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, befürchtet, dass
       sich der Fachkräftemangel nach dem Bruch der Ampelkoalition verschärfen
       könnte. Denn die Gesetze, die den Beruf attraktiver machen sollen, liegen
       derzeit auf Eis. Das sind vor allem das Pflegekompetenzgesetz sowie das
       Pflegefachassistenzeinführungsgesetz.
       
       Gesetze, die laut Vogler dringend notwendig sind. Beide sehen eine
       Neuverteilung der Kompetenzen vor. Konkret geht es darum, dass die
       Pflegenden ihre Kernaufgaben gleichberechtigt und ohne zusätzliche
       Genehmigungen durch Ärzt*innen oder andere Heilberufe erbringen dürfen.
       Außerdem beinhalten die Gesetzentwürfe die Schaffung einer hauptamtlichen
       Selbstverwaltung aller Pflegeberufe auf Bundesebene sowie die Sicherung der
       langfristigen Finanzierung. Sowohl in der Politik als auch bei den Kassen
       und Verbänden ist unstrittig, dass diese Reformen kommen müssen.
       
       Deutschland liegt im europäischen Vergleich in Sachen Kompetenzverteilung
       und Enthierarchisierung bereits seit Jahren ziemlich weit zurück. Diese
       Missstände zeigten sich besonders deutlich, wenn ausländische Pflegekräfte
       hier arbeiten, berichtet Vogler. „Die ausländischen Fachkräfte wundern
       sich, wie wenig sie und ihre deutschen Kolleg*innen ihre Kompetenzen
       nutzen können.“ Und das mindere das Interesse, nach Deutschland zu kommen
       oder in den Pflegeberuf einzusteigen.
       
       Das Pflegekompetenzgesetz könne diese verfahrene Situation endlich ändern,
       indem die Handlungsspielräume des Pflegepersonals grundlegend erweitert
       würden, hofft sie. Denn bessere Arbeitsbedingungen seien essenziell, um
       künftig den Bedarf an Pflegekräften zu decken. Das hätten alle politischen
       Akteure viel zu spät erkannt.
       
       ## Halbe Million Pflegekräfte werden zusätzlich gebraucht
       
       Laut Statistischem Bundesamt werden bis 2049 über zwei Millionen
       Pflegekräfte benötigt, bis zu einer halben Million mehr als bisher. Bereits
       heute wird Personal zunehmend außerhalb Deutschlands rekrutiert. Im Jahr
       2023 waren laut BKK Dachverband [1][etwa 270.000 professionelle
       Pflegekräfte aus dem Ausland in Deutschland tätig]. Ein Anteil von 16
       Prozent.
       
       Trotz der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt macht sich Vogler aber
       wenig Hoffnung. „Ich bin nicht optimistisch, dass die beiden so wichtigen
       Gesetze noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden“, sagt Vogler.
       
       Das Bundesgesundheitsministerium teilte der taz auf Nachfrage mit, das sei
       letztlich die Entscheidung des Parlaments, man halte aber an den Vorhaben
       fest.
       
       Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war Anfang November als
       Schirmherr persönlich zum diesjährigen Pflegetag gekommen, um den Tausenden
       anwesenden Pfleger*innen seine Unterstützung zuzusichern. Es mache
       keinen Sinn, dass aus Hierarchiegründen Pflegekräfte herabgesetzt würden,
       obwohl sie Ärzten oft erst erklärten, was eigentlich zu tun sei. „Die
       Arbeit der Pflege ist für die Gesundheitsversorgung genauso wichtig wie die
       Arbeit von Ärzten“, betonte er.
       
       ## Birgt das Ampelende auch Chancen?
       
       Er kam jedoch nicht umhin zu konstatieren, dass „die Stimmungslage auch in
       der Pflege in den letzten Jahren immer schlechter geworden“ sei. „Wir
       versuchen stetig und mit System, die Pflege besser zu vergüten“, betonte
       er.
       
       Vogler konstatiert, dass die Ampelkoalition in den vergangenen drei Jahren
       durchaus viele Fortschritte für die Profession Pflege gebracht habe. „Diese
       wurden aber nicht zu Ende geführt“, so Vogler. Sie appelliert nun an alle
       Parteien, dass die Sicherung der Pflege, sowohl finanziell als auch
       personell, ein zentraler Punkt im Wahlkampf sein müsse. Außerdem fordert
       sie „mutige Schritte“ zur Entbürokratisierung des Systems. „Alle
       demokratischen Parteien in Deutschland müssen schnell die Rahmenbedingungen
       für eine sichere Versorgung schaffen“, sagt Vogler. Eine schlechte
       Versorgung könne Sprengkraft für die gesamte Gesellschaft entfalten.
       
       Der Geschäftsführer des Deutschen Pflegetages, Jürgen Graalmann, hofft,
       dass mit dem Ende der Ampelkoalition neue finanzielle Spielräume entstehen.
       Er habe die Hoffnung, dass die Schuldenbremse aufgehoben werde und so mehr
       Geld bereitstehe, „um die dringend notwendigen Reformen im Gesundheitswesen
       weiter zu forcieren“. Den Pflegekassen fehlten bis 2030 etwa 10 Milliarden
       Euro. Bei immer knapper werdenden Ressourcen in den Kommunen als
       Sozialhilfeträger müsse hier der Bund tätig werden, fordert er.
       
       Dass sich diese Hoffnung erfüllt, ist kaum zu erwarten. Die Union sieht
       eine Reform der grundgesetzlichen Schuldenbremse (noch) kritisch und betont
       immer wieder, dass diese wenn, dann nur für investive Ausgaben reformiert
       werden dürfe. Also etwa für den Bau von Brücken und Straßen, aber nicht für
       Bundeszuschüsse an die Pflegekassen.
       
       ## Mehr insolvente Pflegedienste
       
       Doch um die pflegerische Infrastruktur zu sichern, bräuchten die Kassen
       dringend zusätzliche Mittel. „Allein 2023 mussten Hunderte ambulante
       Pflegedienste Insolvenz anmelden, womit Pleiten im Gesundheitswesen
       inzwischen doppelt so häufig sind wie in der Gesamtwirtschaft“, so
       Graalmann.
       
       Er bezieht sich auf eine Berechnung des Instituts für
       Mittelstandsforschung, nach der im vergangenen Jahr 1,6 Prozent der
       Unternehmen im Gesundheitswesen Insolvenz anmeldeten. Ein geringer Anteil,
       aber eine Steigerung von mehr als 86 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Und das
       in einer Situation, in der die Zahl pflegebedürftiger Menschen aufgrund der
       demografischen Entwicklung rasant zunimmt. „In den nächsten 25 Jahren wird
       diese Zahl von heute etwa 5 Millionen Menschen auf 7,5 Millionen
       anwachsen“, rechnet er vor.
       
       Die Pflegekassen haben im vergangenen Jahr zumindest auf die zunehmende
       Pflege durch Angehörige reagiert. Damit es nicht zulasten der eigenen
       Alterssicherung geht, wenn diese durch die Pflege ihre berufliche Tätigkeit
       reduzieren, zahlt die Pflegekasse unter bestimmten Voraussetzungen
       Rentenbeiträge für die Pflegeperson.
       
       Laut aktuellen Zahlen haben die Kassen demnach im vergangenen Jahr rund 3,7
       Milliarden Euro an Beiträgen für pflegende Angehörige in die Rentenkasse
       eingezahlt. Damit haben sich die Zahlungen innerhalb von zehn Jahren fast
       vervierfacht, wie aus Daten der Rentenversicherung hervorgeht. Der
       Rentenkasse zufolge werden derzeit mehr als 4,3 Millionen Menschen zu Hause
       gepflegt, meistens durch Angehörige.
       
       Da aber unter den jetzigen Umständen auch den Pflegekassen bald das Geld
       ausgehe, müsse allerspätestens die neue Regierung nach den vorgezogenen
       Bundestagswahlen im kommenden Februar die genannten Gesetze sofort zur
       obersten Priorität machen, mahnt die Pflegeratsvorsitzende Christine
       Vogler. Sonst sehe es ganz düster aus.
       
       6 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abschiebung-von-Pflegekraeften/!6045722
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Höfig
       
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