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       # taz.de -- Mena Prison Forum im Berliner HAU: Resonanzkörper aus Pappe, Zucker und Marmelade
       
       > Eine Veranstaltungsreihe im Hebbel am Ufer beschäftigt sich mit Gefängnis
       > und Folter in Nahost. In der ersten Ausgabe waren Musiker aus Syrien
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   IMG Bild: Hat bei der Gesprächsrunde im HAU nach dem Konzert teilgenommen: Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh, selbst 16 Jahre eingesperrt
       
       Der Abend begann mit einer verblüffenden Aussage: „Wir hatten auch
       glückliche Momente im Gefängnis“, sagt Asaad Shlash. Der Musiker aus
       Damaskus, der mehr als zehn Jahre Haft in den Foltergefängnissen des
       syrischen Diktators Hafis al-Assad erlebte, bezog sich dabei auf jene
       Momente, in denen er mit seinen Mithäftlingen auf selbstgebauten
       Instrumenten heimlich musizieren konnte.
       
       Einige dieser Lieder brachten er und fünf seiner damaligen Mitspieler ins
       Hebbel am Ufer (HAU), zum Auftakt der Berliner Veranstaltungsreihe des
       Dokumentationszentrums Mena Prison Forum. Haft- und Foltererfahrungen in
       den Gefängnissen des Nahen Ostens und Nordafrikas waren hier Thema.
       
       Circa sechs Jahrzehnte Haft, [1][einige davon im Sednaya-Militärknast] bei
       Damaskus, andere Jahre im noch berüchtigteren Wüstengefängnis Tadmor nahe
       Palmyra, saßen da gemeinsam auf der Bühne des HAU1.
       
       Die sechs Männer spielten auf Instrumenten, wie sie sie in den Gefängnissen
       gebaut hatten: Bei einer Oud, dem klassischen arabischen Saiteninstrument,
       bestand der Resonanzkörper aus einer Waschschüssel, bei der anderen aus
       einem eckigen Holzkasten. Bei der dritten, in der typisch gewölbten Form
       der Oud, bildeten Lagen aus Pappe den Resonanzkörper, aneinandergefügt mit
       einem Kleber Marke Eigenbau aus Marmelade und Zucker.
       
       ## Sehnsucht mit Musik bekämpfen
       
       Wie die sechs Männer dort von ihrem Drang nach Freiheit und ihrer Sehnsucht
       nach den Liebsten zu Hause sangen, ließ erahnen, welche Kraft ihnen die
       Musik einst gegeben haben muss, um auch die schrecklichsten Momente zu
       überstehen. Allerdings zählten sie trotz ihres Leidens zu den
       Glücklicheren. Denn mehr als 15.000 Menschen verschwanden während der
       Diktaturen von Vater und Sohn al-Assad, die seit 1970 das Land beherrschen.
       
       Daran erinnerte der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh, selbst 16 Jahre
       eingesperrt, in der Gesprächsrunde nach dem Konzert: „Zwei Mal wöchentlich
       gab es Exekutionen, teilweise 200 Menschen auf einmal. Ich weiß nicht, wo
       sie alle diese Leichen begraben haben“, sagte er bitter. Al-Haj Saleh setzt
       sich für die Verfolgung der Täter ein. Das ist auch das Anliegen des Mena
       Prison Forum, 2018 vom [2][libanesischen Aktivisten Lokman Slim] und dessen
       Frau Monika Borgmann ins Leben gerufen.
       
       Beide beschäftigten sich [3][anfangs mit libanesischen Gefangenen in
       syrischen Knästen.] Slim wurde 2021 ermordet, mutmaßlich von Killern der
       mit Iran und Syrien verbundenen Hisbollah. Jetzt ist das Mena Prison Forum
       sein Vermächtnis und Borgmann dessen Vertreterin.
       
       Auf dem Podium sprach die [4][Juristin und Menschenrechtsaktivistin Joumana
       Seif] die Erfolge der syrischen Zivilgesellschaft an. Deren Recherchen
       führten zu Anklagen gegen Folterer und Mörder [5][der Assads unter anderem
       in Koblenz] und gegen solche der Hisbollah unter anderem in Stuttgart.
       
       Lynn Maalouf vom Büro des Sondergesandten der Vereinten Nationen für Syrien
       stellte zwei Pionierorganisationen der UN vor, die Informationen zu
       Menschenrechtsverletzungen in Syrien und zum Schicksal Verschwundener
       sammeln, um damit Material für weitere Anklagen zu haben. Das könnte auf
       die gesamte Region ausstrahlen. Denn eines der großen Probleme der
       Dauerkonflikte dort ist die Unkultur der Straflosigkeit. „Davon profitiert
       aktuell auch Israel“, sagte al-Haj Saleh – und sprach den Elefanten im Raum
       an, den Krieg in Gaza und die Bombardierungen im Libanon.
       
       Die nächste Veranstaltung des Mena Prison Forum in Berlin werde sich den
       Foltergefängnissen des „Islamischen Staats“ widmen, kündigte Borgmann an,
       bevor sie sich zurück nach Beirut begab. Dort, wo ihr Mann und sie das
       Dokumentationszentrum gründeten, ist sie heute den Angriffen der
       israelischen Luftwaffe ausgesetzt. „Bislang wurde unser Zentrum zum Glück
       noch nicht getroffen“, sagte sie der taz. Ein kleiner Trost in einem großen
       Drama.
       
       29 Nov 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Mustroph
       
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