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       # taz.de -- Absage von Comic-Vorstellung in Berlin: Keine Debatte ohne Volker Beck
       
       > Die Berliner „Urania“ cancelt kurzfristig die Vorstellung eines Comics
       > über Jerusalem mit dem französischen Historiker Vincent Lemire. Diese
       > Überreaktion ist symptomatisch.
       
   IMG Bild: Selten beschaulicher Blick auf den Felsendom: Szene aus dem Comic „Jerusalem“ von Vincent Lemire und Christophe Gaultier
       
       Am Freitagabend steht Vincent Lemire mit seinem Verleger im Foyer der
       Urania und ist empört. „Hier hätte ich heute Abend mein Buch vorstellen
       sollen. Aber die Veranstaltung wurde kurzfristig abgesagt – aus politischen
       Gründen. Das ist unfassbar und absurd“, sagt der 51-jährige Historiker. Vor
       der Urania stehen ein paar Polizisten Wache, drinnen findet im großen Saal
       ein Konzert statt. Die Zuschauer strömen an Lemire vorbei, der gekommen
       ist, um mit ein paar deutschen Journalisten zu sprechen, die von der Absage
       gehört haben. Mit der französischen Presse hat Lemire bereits gesprochen,
       denn in Frankreich ist er ein bekannter Autor, sein letztes Buch war dort
       ein Bestseller.
       
       Dieser Bestseller ist ein [1][Comic über „Jerusalem – Die Geschichte einer
       Stadt“]. Damit kennt Lemire sich aus: er hat mehrere Bücher über die
       Heilige Stadt der Juden, Christen und Muslime geschrieben, die in mehrere
       Sprachen übersetzt wurden und für die er mehrere Preise gewann. Einige
       Jahre leitete er das französische Forschungszentrum (CRFJ) in Jerusalem,
       derzeit lehrt er an der Uni in Paris. Sein Comic, der gemeinsam mit dem
       Zeichner Christophe Gaultier entstand, hat sich in Frankreich über 300.000
       Mal verkauft. „Bewundernswert objektiv und leicht zugänglich“, schwärmte Le
       Figaro über das Buch, das in zehn Kapiteln die viertausendjährige
       Geschichte der Stadt unterhaltsam zusammenfasst, die FAZ nannte es die
       „Graphic Novel der Stunde“. Die deutsche Übersetzung ist im Kleinverlag
       Jacoby & Stuart erschienen. Lemire wollte sie an der Urania mit seinem
       deutschen Verleger Edmund Jacoby und dem Literaturwissenschaftler Christian
       Wollin, einem langjährigen Fellow an der Universität Jerusalem, vorstellen.
       
       ## Volker Beck als Kompromiss
       
       Um der Veranstaltung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, einigten sich der
       Verlag und die Urania darauf, noch einen möglichst prominenten Gast dazu zu
       laden. Michel Friedman war im Gespräch, aber die Wahl fiel letztlich auf
       den Grünen-Politiker Volker Beck, den Präsidenten der Deutsch-Israelischen
       Gesellschaft. Dieser sagte zunächst zu, aber am Abend vor der Veranstaltung
       kurzfristig ab. Als Begründung führte er an, „vor dem Hintergrund der
       aktuellen, etwas obsessiven Positionierung des Autors“ wolle er sich nicht
       mit Lemire auf eine Bühne setzen. Was war passiert? Beck bezog sich auf
       einen Tweet von Lemire, der kritisiert hatte, dass die französische
       Regierung den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen
       Israels Premier Netanjahu mit Verweis auf dessen angebliche „Immunität“
       ignorieren will: ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.
       
       „Ich kann da nicht erst einmal über sein BD parlieren und dessen
       Gojnomrativität (Rechtschreibfehler im Original) an einigen Stellen dezent
       hinterfragen, als stünde nichts Anderes im Raum“, schrieb Beck am
       Donnerstagabend in einer Mail an den deutschen Verleger von Lemire. BD
       steht für Bande dessinée, das französische Wort für Comic. Und mit dem
       Modewort „Gojnormativität“ wollte Beck sagen, dass Lemire in seinen Augen
       wohl nicht jüdisch genug sei, um über Jerusalem zu sprechen: eine
       bemerkenswerte Aussage, schließlich ist Beck selbst auch kein Jude.
       
       ## Überreaktion der Urania-Direktorin
       
       Am nächsten Morgen sagte Johanna Sprondel, die Direktorin der Urania, die
       für den Abend geplante Veranstaltung vollständig ab: ohne Volker Beck
       wollte sie diese nicht mehr durchführen. „Kontrere Meinungen haben
       selbstredend Platz, bedürfen aber starken Gegenpositionen“, schrieb sie
       dazu etwas holprig auf der Plattform X (Rechtschreibfehler im Original). Am
       Abend schob die Urania eine [2][Pressemitteilung] nach, in der es es heißt,
       man habe die angekündigte Buchpremiere abgesagt, weil ohne Volker Beck
       keine kontroverse Debatte mehr zu erwarten gewesen sei. „Lesungen oder
       Buchpräsentationen mit dem Zweck der Bewerbung von Büchern, wie sie zum
       Beispiel in Buchhandlungen stattfinden, sieht unser Programm nicht vor“,
       heißt es dazu in der Presseerklärung, die den Literaturwissenschaftler
       Christian Wollin gar nicht mehr erwähnt.
       
       „Das ist unser Prinzip: wir sind kein Ort des Monologs, der unwidersprochen
       bleibt. Wir möchten Debatten anbieten, wenn nötig auch kontrovers“,
       bekräftigt Urania-Direktorin Sprondel telefonisch gegenüber der taz. Wer
       das Programm der „gemeinnützigen Kultur- und Bildungseinrichtung“ in
       Berlin-Schöneberg kennt, für den ist das allerdings eine überraschende
       Aussage, denn für besonders kontroverse Debatten ist das Haus nicht
       bekannt. Am Dienstagabend werden dort etwa die FDP-Politikerin Karolin
       Preisler und der CDU-Politiker Philipp Amthor mit einem Juristen über das
       Thema „Versammlungsfreiheit“ diskutieren: Allzu große Kontroversen sind da
       nicht zu erwarten. Und am Mittwoch erhält die durchaus umstrittene Autorin
       Mirna Funk zum sechsten Mal in diesem Jahr Gelegenheit, mit einem
       befreundeten Gast über Aspekte ihres aktuellen Buchs „Von Juden lernen“ zu
       plaudern: Mehr Eigenwerbung geht eigentlich kaum.
       
       ## Atmosphäre der Angst
       
       Die Überreaktion der Urania ist symptomatisch für eine Atmosphäre der Angst
       und der vorauseilenden Selbstzensur in der deutschen Kultur- und
       Wissenschaftsszene, wenn es um den Nahost-Konflikt geht: Die Nerven liegen
       blank. Viele öffentlich geförderte Häuser fürchten sich inzwischen, Gäste
       einzuladen, deren Ansichten einer vermeintlichen Staatsräson zuwiderlaufen
       oder sonst zu kontrovers sein könnten.
       
       Manche versuchen, sie einzuhegen, wie es die Nationalgalerie mit der
       jüdisch-amerikanischen Künstlerin Nan Goldin versucht hat, indem sie ein
       ganzes [3][Symposium] um sie herum organisierte: betreutes Denken. Oder sie
       lassen es ganz bleiben, wie die Universität Leipzig, die einen [4][Vortrag
       des israelischen Historikers Benny Morris abgesagt] hat, weil sich
       verschiedene Gruppen im Vorfeld über Äußerungen von ihm empört und eine
       Absage der Veranstaltung gefordert hatten. [5][Morris] ist etwa der
       Meinung, Israel hätte 1948 viel mehr Palästinenser bis hinter den Jordan
       vertreiben sollen, um einen homogeneren Staat zu schaffen. Zuletzt
       plädierte der 76-jährige mehrfach für einen israelischen Angriff auf den
       Iran, zur Not auch mit Atomwaffen.
       
       Auch wenn man solche Aussagen ablehnt, kann man die Absage der Uni Leipzig
       falsch finden – ebenso falsch wie die überstürzte Absage der Berliner
       Urania, die nun einen renommierten französischen Historiker trifft, der nur
       über seinen aktuellen Comic-Bestseller sprechen wollte. Auch sein deutscher
       Verlag, der nun auf den Kosten sitzen bleibt, ist enttäuscht.
       
       „Ich habe mich mein ganzes Leben lang bemüht, eine Zwischenposition
       einzunehmen und zwischen verschiedenen Anschauungen zu vermitteln“, sagt
       Vincent Lemire, der bei Israelis wie Palästinensern geachtet wird, der taz.
       „Das sogar ich jetzt außerhalb des Sagbaren stehen soll, macht mich
       fassungslos.“
       
       Anmerkung: In einer früheren Fassung stand, die abgesagte Veranstaltung
       habe am Samstagabend stattgefunden. Sie sollte aber am Freitagabend
       stattfinden. Wir haben das korrigiert.
       
       30 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.jacobystuart.de/buecher-von-jacoby-stuart/neuerscheinungen/jerusalem/
   DIR [2] https://www.urania.de/presse/
   DIR [3] /Kunstsymposium-nach-Nan-Goldin-Protesten/!6048290
   DIR [4] https://www.theol.uni-leipzig.de/institut-fuer-praktische-theologie/veranstaltungsdetail/termin/the-1948-war-and-jihad
   DIR [5] /Morris-ueber-israelische-Staatsgruendung/!5997388
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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