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       # taz.de -- Missbrauch in der Antifa: „Wie alt warst du, als er dich angefasst hat?“
       
       > Ein erwachsener Mann hat in der Berliner Antifa in den 90er Jahren
       > dutzende Jungen sexuell missbraucht. Jetzt tun sich Betroffene zusammen,
       > damit sich das nicht wiederholt
       
   IMG Bild: Sie schweigen nicht mehr: Betroffene, die als Kinder und Jugendliche bei der Antifa sexualisierte Gewalt erfahren haben
       
       In diesem Text werden Missbrauch und sexuelle Übergriffe gegenüber
       Minderjährigen beschrieben. Seien Sie achtsam, wenn Sie das Thema betrifft. 
       
       Als Manuel Richter den Aufkleber auf dem Stromkasten vor einer Berliner
       Schule sah, erstarrte er: „Mein erster Gedanke war: Er versucht es wieder –
       wie bei uns damals. Erst wurde mir schlecht, dann packte mich der Zorn“,
       beschreibt der 46-Jährige mit dem raspelkurzen Haar seine Gefühle.
       
       Was ihn so aus der Fassung brachte, war der Text auf dem Sticker:
       „Antifaschistische Jugendliche gesucht! Für ein neues Projekt suchen wir
       Schüler, die Lust haben, sich an antifaschistischen Aktionen zu beteiligen.
       Gegen Rassismus, Nazis und Antisemitismus“, steht neben dem Foto eines
       schmalen Jungen in T-Shirt und gestreifter Hose, der einen Mittelfinger in
       Richtung des Betrachters reckt.
       
       Auch Manuel Richter war mal so ein Junge: frech, renitent und auf der Suche
       nach einer politischen Betätigung [1][gegen die Neonazischläger] in seinem
       Ostberliner Viertel und die allgegenwärtige rassistische Gewalt auf den
       Straßen. Damals ging das Jahr 1990 gerade zu Ende, eine wilde Zeit in der
       frisch wiedervereinigten ehemaligen Mauerstadt.
       
       In Friedrichshain im Osten waren in der Mainzer Straße nach tagelangen
       Straßenschlachten mehrere besetzte Häuser geräumt worden. Auf einer
       Protestveranstaltung, die er mit linksgerichteten Freunden seiner Mutter
       besuchte, sah Richter einen Aufkleber in Do-it-yourself-Optik, ähnlich dem
       an der Schule: Die Antifa Jugendfront suchte engagierte Jugendliche! Mit
       einem Freund fuhr er zur angegebenen Adresse in Kreuzberg und fragte sich
       durch.
       
       Im linken Hausprojekt Mehringhof lernte er einen etwa 30-jährigen Mann
       kennen, der sich als „Pipo“ vorstellte. So begann für den damals
       13-Jährigen eine Phase, die er rückblickend selbst als „meine Jahre in der
       Antifa-Sekte“ bezeichnet. Zusammen mit einem guten Dutzend Gleichaltrigen
       bastelte Richter eine Autonomenzeitung, verteilte Flugblätter; am
       Wochenende traf man sich auf Konzerten oder im Umland, um linke Jugendclubs
       vor Naziüberfällen zu schützen.
       
       Manuel Richter heißt eigentlich anders. Die Namen aller Betroffenen in
       diesem Artikel sind Pseudonyme. Wir verwenden sie zu ihrem Schutz.
       
       Politisch war die Antifa Jugendfront in ein Netzwerk aus anderen
       [2][Berliner Antifa-Gruppen] eingebettet, auch ein paar Ältere waren dabei.
       Man diskutierte in langen Plena und war nicht immer einer Meinung. „Pipo“
       und „seine Jungs“ blieben dabei immer öfter unter sich: Die etwa zwanzig
       11- bis 17-Jährigen trafen sich nachmittags und an den Wochenenden in
       „Pipos“ WG in einer Wohnung im Berliner Osten.
       
       Ein paar Kids zogen bald ganz dort ein, darunter auch Richter. 1991
       gründete „Pipo“ die „Edelweißpiraten“, benannt nach der historischen
       NS-Widerstandsgruppe. Undogmatischer und lustiger als die existierenden
       Autonomengruppen wollte man sein, organisierte sich in bündischer Tradition
       in lokalen „Stämmen“, erst in Berlin, dann im weiteren Bundesgebiet.
       
       Im ersten „Edelweiß-Rundbrief“ heißt es: „Die Bewegung soll möglichst keine
       feste ideologische Richtung vertreten. Wir kämpfen gegen die Faschisten,
       gegen rassistische und sexistische Politik der Herrschenden und für das
       Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen Menschen.
       
       ## Im Stuhlkreis
       
       Doch können wir keine rein linksradikale Bewegung sein, denn es gibt
       durchaus auch andere Menschen, die z. B. christlich sind (…).“ Die „Epis“,
       wie sich selbst nannten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft, und die WG
       in der Ackerstraße ein Ort für Kids, die es zu Hause schwer hatten oder in
       der Schule aneckten, weil sie „anders“ waren. Eigentlich eine gute Sache.
       Wäre „Pipo“, der einzige Erwachsene in der Gruppe, nur nicht ein Päderast
       gewesen.
       
       In einem Laden für Nachbarschaftsprojekte in Berlin-Schöneberg sitzen an
       einem Sonntagnachmittag im Juni 2024 zwei Frauen und 13 Männer im Kreis
       zusammen. Alle sind in ihren Vierzigern, manche haben ihre Partner*innen
       oder ihre Kinder mitgebracht.
       
       Im Stuhlkreis tauschen sie sich aus: „Wann bist du zu den Edelweißpiraten
       gekommen? Hast du in der ersten, der zweiten oder der dritten WG gewohnt?
       Warst du schon auf der Gruppenfahrt in der Slowakei dabei oder erst bei den
       späteren nach Tschechien und Polen?“ Und: „Wie alt warst du, als er dich
       angefasst hat?“
       
       Die meisten im Raum haben sich lange nicht gesehen, viele sind in
       Feindschaft auseinandergegangen, als sich die „Edelweißpiraten“ 1996
       auflösten. Doch nachdem er vor etwa fünf Jahren den Aufkleber am
       Stromkasten und noch einen weiteren vor einem Gymnasium entdeckte, hat
       Manuel Richter mit ein paar anderen die alten Netzwerke wieder aufgefrischt
       und ein Treffen organisiert.
       
       Sie wollen endlich darüber sprechen, was damals passiert ist. Die
       individuellen Geschichten abgleichen und die Muster dahinter offenlegen.
       Solidarisch miteinander sein. Je offener in der Gruppe über die
       „Piratenjahre“ gesprochen wurde, desto mehr zeigte sich: Hier geht es nicht
       um ein paar Einzelfälle, sondern um ein System. Deshalb entschied die
       Gruppe schließlich, die Öffentlichkeit zu suchen.
       
       Seit Anfang 2024 treffen sich rund 30 ehemalige „Edelweißpiraten“
       regelmäßig zum Austausch. Sechs Männer geben an, im Alter von 11 bis 15
       Jahren im Rahmen ihrer Arbeit mit den Edelweißpiraten von „Pipo“ sexuell
       belästigt oder missbraucht worden zu sein. Ihre schriftlichen
       Erfahrungsberichte liegen der taz vor, mit fünf von ihnen hat die taz auch
       persönlich gesprochen.
       
       Die Anschuldigungen der Männer wiegen schwer. Von gezielter, aufs Sexuelle
       zielender Kontaktanbahnung (Grooming) ist die Rede, von psychischer
       Manipulation, sexueller Belästigung bis zur Vergewaltigung. Und es dürfte
       noch weitaus mehr Fälle geben. Einige der Antifa-Kids von damals sind
       inzwischen tot oder unauffindbar, andere kommen nicht zu den
       Gruppentreffen, vielleicht weil sie die Vergangenheit lieber ruhen lassen.
       
       Sexueller Missbrauch bei der Antifa? Obwohl Vorstellungen von wehrhafter
       Männlichkeit und moralischem Rigorismus gerade bei den Autonomen sehr
       verbreitet sind, ist das für viele undenkbar.
       
       ## „Pädos rein, Spießer raus!“
       
       Und waren die schwarz gekleideten Linksradikalen zusammen mit den
       Feministinnen nicht so ziemlich die einzigen, die in den siebziger und
       achtziger Jahren der Unterwanderung linksalternativer Szenen durch
       Pädosexuelle entgegentraten? In Studien und Publikationen zu sexuellem
       Missbrauch in der Linken finden sich immer auch Verweise auf
       „Antifa-Kommandos“, die in Kreuzberg „Pädos“ von Kinderbauernhöfen
       verjagten oder mit Prügeln aus politischen Versammlungen vertrieben.
       
       Man könnte das Selbstjustiz nennen – oder Selbstreinigung. Ein bisschen ist
       es aber auch politische Folklore, wie ein Blick ins Archiv des Schwulen
       Museums in Berlin zeigt. Dort lagern in einer Kiste Flugblätter und
       Broschüren der „Autonomen Pädophilen“ aus den achtziger und neunziger
       Jahren.
       
       Offenbar gingen Militanz und politischer Pädo-Aktivismus eine Zeitlang doch
       gut zusammen: Da wettern verschiedene Gruppierungen aus den frühen
       Achtzigern wie „das Kinderbedürfnistelefon Berlin“, der „Kinderfrühling
       Berlin“ oder die „Oranienstraßenkommune“ gegen ein Gesellschaftssystem aus
       „unterdrückung: erziehung, geld, kontrolliertes leben, konkurrenz und
       angst, regierungen, schulzwang und kaufhäuser“ oder fordern „freie
       Pädofilie für alle“.
       
       Die Pamphlete sind versehen mit selbst gemalten Comics, Antifa-Zeichen und
       Sternen in punkig-linksradikaler Optik. Auf Flyern der „Morgenlandbande“
       oder der Antifa Jugendfront vermischen sich Fotos von bockig
       dreinblickenden kleinen Jungs, gern auch mal mit Zwille in der Hand, mit
       Forderungen wie: „Pädos rein, Spießer raus!“
       
       „Es gibt eine direkte Verbindung von der Kinderrechteszene um die
       Nürnberger Indianerkommune und anderen Projekten zur Autonomenszene der
       neunziger Jahre“, sagt Sven Reiß. Der Wissenschaftler hat viel zu
       Missbrauch in bündischen Jugendgruppen und der [3][Pfadfinderbewegung]
       geforscht. 2021 veröffentlichte er zusammen mit Iris Hax im Auftrag der
       staatlichen Aufarbeitungskommission eine Recherche zu „Programmatik und
       Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin“.
       
       Auf drei Seiten zeichnen die Verfasser*innen darin den Weg vom
       „Kinderfrühling Berlin“ über die „Morgenland-Bande“ zur „Jugendantifa
       Edelweißpiraten“ nach. „Erst spät haben wir verstanden, dass hinter den
       Missbrauchsfällen in diesen Kleinstgruppierungen ein und dieselbe Person
       steckt“, sagt Sven Reiß am Telefon.
       
       ## Taten sind verjährt
       
       In der Studie heißt es über diesen Mann und seinen Bezug zu den
       Edelweißpiraten: „Der Gründer der Gruppe identifizierte sich offen mit
       pädosexuellen Positionen, warb um Kinder und Jugendliche, die mit ihm
       zusammenwohnen wollten, und suchte Mitstreiter, um Kinder aus Heimen und
       Elternhäusern herauszuholen.
       
       In den folgenden Jahren engagierte er sich unter wechselnden Pseudonymen
       stark in der linksautonomen Szene. Er gründete verschiedene politische
       Jugendgruppen und erwarb sich Zeitzeugen zufolge den Ruf, erfolgreich
       jugendliche Mitstreiter werben zu können, u. a. für die Antifa Jugendfront
       und insbesondere für die Edelweißpiraten, einer Berliner Antifa-Gruppe, die
       sich besonders auch jüngeren Jugendlichen zuwandte.“
       
       Mit den Edelweißpiraten und ihrem Gründer hat sich also bereits die
       Aufarbeitungskommission beschäftigt. Als er hört, dass sich eine Gruppe
       ehemaliger Edelweißpiraten-Mitglieder zusammen gefunden hat, um den
       erlebten Missbrauch aufzuarbeiten, sagt Sven Reiß: „Das ist sicherlich kein
       leichter Weg und erfordert Mut, ist aber wichtig!“
       
       Schon seit Mitte der neunziger Jahre kursieren in Berlins linker Szene
       Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen gegen den Mann, der
       sich ständig neu erfand, sich mal „Paschai“, mal „Corleone“, mal „Ping
       Pong“ und meistens „Pipo“ nannte. Mit bürgerlichem Namen heißt er Andreas
       Robert K., heute nennt er sich Aro.
       
       Er schreibt lokalhistorische Bücher, ist in Stadtteilinitiativen aktiv,
       bloggt, schreibt Artikel und fährt Taxi. Der mittlerweile 63-Jährige lebt
       unbehelligt im Berliner Norden, niemand interessiert sich für seine
       Vergangenheit. Rein juristisch sind die damaligen Taten verjährt. Doch der
       Aufkleber weckte bei Betroffenen die Furcht, K. könne weiterhin Jungen
       sexuell missbrauchen. Als der vor ein paar Jahren an zwei Schulen in K.s
       Wohnumfeld erstmals auftauchte, mit der E-Mail-Adresse aktion@pinoxx.de,
       die seiner Website „Berlin Street“ zuzuordnen ist, wandte sich bereits eine
       Gruppe ehemaliger Edelweißpiraten an die taz.
       
       Die taz hat K. mit den Vorwürfen konfrontiert. In einer ersten
       Stellungnahme räumt er ein: Ja, er sei „ein Missbraucher“ gewesen, habe
       „unangemessene sexuelle Beziehungen zu Jugendlichen“ gehabt. Dabei sei ihm
       „menschliche Nähe“ stets wichtig gewesen, nicht nur seine „Sexerlebnisse“.
       Dass eine gleichberechtigte Beziehung nicht möglich sei, sei ihm erst spät,
       „nach dem Bruch mit den Jungs“, wirklich bewusst geworden. Er habe sich
       dann psychologische Hilfe gesucht. Heute sei ihm bewusst, dass er große
       Fehler gemacht und Menschen traumatisiert habe. „Seitdem habe ich mein
       Leben darauf ausgerichtet. Keinerlei Freundschaften mehr zu Jugendlichen,
       damit es gar nicht erst zu problematischen Situationen kommt. Beziehungen
       und Sex gibt es seitdem ausschließlich mit Erwachsenen.“
       
       Das klingt nach Problembewusstsein und Reue – doch schon die Wortwahl
       „sexuelle Beziehungen“ und „menschliche Nähe“ lässt leise Zweifel
       aufkommen. Ebenso der in der Mail wie beiläufig eingestreute Hinweis,
       seinen Ausschluss aus der Antifa-Szene hätten damals zwei Mitglieder
       betrieben, „die sich immer weiter radikalisiert hatten und mit denen ich
       deshalb ständig Auseinandersetzungen hatte.
       
       Der Missbrauchsvorwurf wurde öffentlich gemacht und ich wurde aus den
       politischen Zusammenhängen ausgeschlossen. Mir wurden allerdings auch
       völlig absurde Vorwürfe gemacht, wie der, ich wäre ein Spitzel von Nazis
       oder des Verfassungsschutzes.“
       
       Alles nur ein Rachefeldzug zweier Irrläufer mit Paranoia – oder das
       Ablenkungsmanöver eines Menschen, der stets strategisch denkt?
       
       „Er hat uns so manipuliert, dass wir lange dachten, es sei normal, was in
       der Gruppe abging“, fasst bei dem Treffen der Betroffenen in Schöneberg
       einer zusammen, der noch immer angezogen ist wie ein Autonomer: schwarzer
       Kapuzenpulli, schwarze Hose, Springerstiefel. Sein Nebensitzer ergänzt
       sarkastisch: „Wir waren jung und selbstbestimmt – war ja alles
       freiwillig, oder?“
       
       Die Freiwilligkeit zogen schon damals manche in Zweifel. Eine Frau, die als
       einziges Mädchen in der Ackerstraßen-WG lebte, sagt: „Irgendwie war schon
       klar, dass der euch ausgenutzt hat, aber die meisten von uns sahen es nicht
       so.“
       
       Obwohl er der einzige Erwachsene war, habe K. sich oft selbst wie ein
       Teenager benommen: War er frisch verliebt, schwärmte er laut – auch vom
       tollen Sex. Wies ihn ein Junge ab, zelebrierte er seinen Liebeskummer und
       drohte mit Suizid. Die Kids fühlten sich dann verantwortlich, ihn zu
       trösten.
       
       Paul Maier, mit Abstand der Älteste in der Runde, kennt K. schon seit den
       1980ern aus Berlin-Kreuzberg: „Der Mann ist ein Urgestein der linken Szene
       und nutzt politische Arbeit als Deckmantel, um an Jungs ranzukommen“, ist
       er sich heute sicher. 1986, bei den Proben seiner Punkband, sprach der
       damals 25-Jährige K. mit den strähnigen Strubbelhaaren den 15-Jährigen an
       und holte ihn zur Antifa Jugendfront.
       
       Wenig später haute Maier von zu Hause ab. K. verhandelte mit den Eltern und
       dem Jugendamt und meldete den Jungen zum Schein im Rauch-Haus, einem
       alternativen Wohnprojekt für Jugendliche in Kreuzberg, an. In Wirklichkeit
       lebte der 15-Jährige mit K. in seiner 1-Zimmer-WG, später noch in zwei
       anderen Wohnungen in Kreuzberg. Ihm gegenüber habe K. es bei ein paar
       Annäherungsversuchen belassen, sagt Maier, manchmal habe K. auch trotzig
       neben ihm onaniert.
       
       Er erinnert sich an die räumliche Enge: „Auf dem Schlafpodest schlief man
       wie im Ehebett. Dauernd schlief er in meinem Beisein mit anderen Jungs
       zwischen 12 und 17 Jahren. Je älter die wurden, desto mehr verlor er das
       Interesse.“ Zunächst sei ihm der Altersabstand gar nicht so aufgefallen:
       „Wir waren jung und wütend und bewegten uns außerhalb der Gesellschaft, da
       passte er sehr gut rein.“
       
       K. hatte damals keinen festen Job; statt zu arbeiten, hing er mit Freunden
       ab, klaute auch mal im Supermarkt – ein erstaunlich unerwachsener
       Kumpeltyp, der zudem gut vernetzt und anerkannt war in Berlins autonomer
       Szene. Damals bezeichnete er sich selbst noch als schwulen „Pädo“. Paul
       Maier sagt, ihm sei das egal gewesen.
       
       ## Er droht mit Suizid
       
       Nur die ständigen Gefühlsdramen hätten genervt, „mal stand er verheult im
       Flur, mal drohte er, sich vor die U-Bahn zu werfen“. Aber: „Ich war auf den
       Deal mit dem Jugendamt angewiesen. Außerdem mochte ich ihn und er tat mir
       leid“. Auch als Volljähriger blieb Maier dem Älteren gegenüber loyal –
       selbst, als dieser 1991 wegen Jungs im Zimmer hochkant aus dem autonomen
       Wohnprojekt Rigaer Straße geworfen wurde. „Erst spät habe ich kapiert, dass
       ich ein Missbrauchsnetzwerk mit gestützt habe.“
       
       „Ich hab ihn auch viel zu lang verteidigt“, sagt ein Dunkelhaariger, der
       wütend wirkt. Er spricht von einem Nebel, der ihn seit den „Epi“-Jahren
       umgebe, den er vergebens mit Alkohol und Drogen bekämpft habe. Es ist ihm
       wichtig, seine Geschichte zu Protokoll zu geben: „Ich war damals 11.“ Wir
       nennen ihn Jens Tiede.
       
       Tiede erzählt, wie er 1992 in Begleitung seines 13-jährigen Bruders zu den
       Edelweißpiraten stieß. Wie sexualisiert die Atmosphäre in der WG gewesen
       sei, dem sozialen Zentrum der Gruppe: „Alle begrüßten sich mit Kuss auf den
       Mund, überall lagen schwule Pornocomics herum. K. machte dauernd sexuelle
       Anspielungen, tatschte uns an. Er testete, bei wem er seine Übergriffe
       versuchen konnte.
       
       Mich versuchte er einmal, mit Zunge zu küssen, als wir zu zweit waren. Ich
       fand das eklig.“ K. habe stets einen Jungen gehabt, den er der Gruppe als
       seine aktuelle Beziehung präsentierte – als ob das ein ganz normales
       Liebesverhältnis sei.
       
       Bei den Übrigen soll er es mit Anspielungen, Übergriffen bis zur
       Vergewaltigung probiert haben – je nachdem, auf wie viel Selbstvertrauen
       und Widerstand er traf. Wem diese Seite der „Epis“ nicht passte, dem wurde
       in der Regel bürgerliche Verklemmung oder Schwulenfeindlichkeit
       vorgeworfen.
       
       Schwul sei er selbst nicht gewesen, sagt Tiede, wie die meisten in der WG.
       Aber als einer der Jüngsten habe er unbedingt zum inneren Kreis gehören
       wollen. „Er hat mich bei meiner Eitelkeit gepackt, mir erzählt, wie
       reflektiert ich für mein Alter sei.“
       
       Zwei sexuelle Übergriffe habe er erlebt, die ihn wie versteinert
       zurückgelassen hätten. Es habe ihn 20 Jahre gekostet, zu erkennen, dass
       das schwerer sexueller Missbrauch gewesen sei – obwohl er ja
       „freiwillig“ mitgemacht habe. „Aber“, fragt Tiede heute, „wie freiwillig
       entscheidet man mit 11, noch dazu, wenn man jemanden bewundert?“
       
       Dem autonomen Selbstverständnis nach hatten die Edelweißpiraten keine
       Leitung, trotzdem war „Pipo“ klar der Anführer. Einer aus der Gruppe
       erinnert sich: „Er war insgesamt der Dreh- und Angelpunkt der Epis. Er war
       der Einzige mit Führerschein und Auto, der einzige Geschäftsfähige, er
       hatte die Wohnung in der Ackerstraße organisiert, die meisten Kontakte in
       die Szene …“
       
       Die günstige Miete wurde durch K.s Arbeitslosengeld bezahlt sowie durch den
       Handverkauf des Stadtmagazins zitty und durch einen Mailorderversand, den
       die Edelweißpiraten betrieben: Sie verschickten Plakate, Aufnäher,
       Kapuzenpullis oder das Buch „Antifa: Diskussionen und Tipps aus der
       antifaschistischen Praxis“ quer durch die Republik.
       
       Sechs bis acht Jugendliche lebten in dieser Zeit dauerhaft in der
       Ackerstraße. Wenn das Geld mal nicht reichte, klaute man Lebensmittel im
       Supermarkt. In der Nachbarschaft fiel die ungewöhnliche WG nicht auf; in
       den besetzten Häusern ringsum ging es ebenfalls bunt und prekär zu; ein
       paar Ecken weiter in der Bergstraße existierte sogar ein Ableger des
       berüchtigten alternativ-pädophilen Wohnprojekts Indianerkommune, das sich
       nach der Wende von Kreuzberg in den Osten Berlins verlagert hatte.
       
       ## „So ganz einvernehmlich“
       
       Manuel Richters Mutter lud die Jungs aus der Ackerstraße ab und zu sonntags
       zum Essen ein: „Die freuten sich, wenn ich den Tisch schön gedeckt hatte –
       und für mich war es wichtig, den Kontakt halten zu können“, sagt die
       zierliche Frau, die in der Werkstatt ihres Sohnes auf dem Sofa sitzt.
       
       Beide wirken ernst und nachdenklich beim Zurückdenken an diese Zeit. Die
       Mutter erzählt davon, wie ihr Sohn, [4][der an seiner Ostberliner Schule
       von Neonazis gezielt verfolgt und gemobbt wurde], irgendwann nur noch
       schwänzte. Sie wandte sich an den Schuldirektor, der das Naziproblem an
       seiner Schule kleinredete, und dann ans Schulamt – das auch nichts
       unternahm.
       
       Die Alleinerziehende und die zuständigen Behörden waren gleichermaßen
       überfordert mit der Situation. Und Manuel? War immer öfter mit seinen neuen
       Antifa-Freunden unterwegs – und brachte irgendwann „Pipo“ nach Hause mit.
       „Der Name ‚Pipo‘ wurde beschwärmt“, sagt sie. „Und dann stand da ein
       erwachsener, dicklicher Mann in meinem Wohnzimmer, der mir nicht in die
       Augen sehen konnte.
       
       Er erklärte, er würde meinen Sohn lieben und auch mit ihm schlafen, wenn er
       das denn wolle, so ganz einvernehmlich.“ Ihr Sohn war da noch keine 14.
       Fassungslos sei sie gewesen, vor allem, als sie einen Liebesbrief von
       „Pipo“ im Zimmer ihres Sohnes fand. („Ich möchte mit Dir enger zusammen
       sein! Und länger! Und zärtlicher. Und ehrlicher. Und überhaupt …“)
       
       Manuel Richter aber verweigerte sich jedem kritischen Gespräch – „du warst
       völlig manipuliert“. Als ein weiterer Liebesbrief auftauchte, in dem der
       ältere Mann seinen Suizid ankündigte („die Zeit war zu lang, wo niemand bei
       mir war“), sei der Junge heulend aus der Wohnung gelaufen. Kurz nach seinem
       14. Geburtstag zog er in die Piraten-WG. Mit dem Jugendamt gab es einen
       Deal, dass er dort wohnen konnte, sofern er eine Schule besuchte.
       
       Besorgt sei sie schon gewesen, sagt die Mutter heute. Aber eine befreundete
       Psychologin habe ihr geraten, nicht die Polizei einzuschalten. „Das waren
       doch seine Feinde.“ Um den Kontakt zu ihrem Sohn nicht ganz zu verlieren,
       lud die Mutter ihn und seine Mitbewohner zum Essen ein. „Hätte ich mehr tun
       können? Ich weiß nicht.“
       
       Andere Eltern versuchten, ihren Kindern die Übernachtung in der WG zu
       verbieten, meist erfolglos. Doch zur Anzeige kam es nie – auch weil die
       Minderjährigen fest zu „Pipo“ standen. „Wir waren auf dem Standpunkt:
       Gewalt wendet er nicht an, also ist es freiwillig. Auf die Idee, dass es so
       was wie ein Machtungleichgewicht gibt, kamen wir nicht“, sagt Paul Maier.
       
       ## Niemand wollte zur Polizei gehen
       
       Wer keinen Sex wollte, war „schwulenfeindlich“; wer Kritik übte, wurde mit
       Vertrauensentzug bestraft; wer „Erwaxene“ ins Vertrauen zog, war ein
       Verräter: Der Anführer hatte seine minderjährige Truppe voll im Griff. In
       einem internen Papier, in dem einige Edelweißpiraten ihre ambivalente
       Beziehung zu K. aufarbeiten, heißt es trocken: „Der Umgang mit Kritik war
       immer einfach – es gab keine!“
       
       Zu den Treffen anderer Gruppen ging man nur selten, denn das waren
       „Dogmatiker“ oder „Automaten“, so K.s Schmähwort für die harte
       Autonomenfraktion. Die Edelweißpiraten waren innerhalb der autonomen Szene
       Berlins isoliert, galten als Sonderlinge. Dass nichts nach außen drang, lag
       auch am speziellen Hass der Autonomen auf den Staat und seine Vertreter.
       
       „Du konntest damals nicht zur Polizei gehen, ohne die eigene Struktur
       auffliegen zu lassen“, beschreibt Thomas Schlingmann. Viele im Milieu
       hätten ja selbst Straftaten verübt: Autos angezündet, Nazis verprügelt,
       solche Sachen. Der Gründer des Vereins Tauwetter, der Jungen und Männern
       hilft, die sexuelle Gewalt erlebt haben, kommt selbst aus der
       linksradikalen Szene.
       
       Aus seinem Büro im Mehringhof schaute er direkt in die Räume, in denen die
       Edelweißpiraten ihre Zeitung produzierten. Um K. habe es immer Gerüchte
       gegeben, sagt er. Irgendwann hätten sich ihm ein paar Jungs anvertraut.
       „Ich fand es unerträglich, dass in meiner politischen Heimat Missbrauch
       toleriert wurde“, sagt Schlingmann.
       
       Mit ein paar anderen Autonomen verfasste er 1995 einen anonymen Brief und
       verteilte ihn an linken Treffpunkten. „Achtung! Dieser Mann hat mehrere
       Kinder und Jugendliche sexuell mißbraucht! Päderast, 36 Jahre alt. Er nennt
       sich P. Wohnt in Berlin-Mitte. Er mißbraucht seit ca. 15 Jahren Jungen im
       Alter von ca 9 bis 16. Es bleibt uns keine andere Möglichkeit, als P. zu
       veröffentlichen und alle aufzufordern, ihn aus linken Zusammenhängen
       auszugrenzen“. Unterschrieben waren die vier getippten Seiten mit
       „tauwetter, Fraktion gegen Nebenwidersprüche“.
       
       An diese Outing-Aktion schloss sich eine szeneinterne Auseinandersetzung
       an, die 1995 in der Hausbesetzerzeitschrift Interim über mehrere Ausgaben
       hinweg ausgetragen wurde. An pointierten Wortmeldungen fehlte es nicht: Man
       stritt sich über die richtige Definition von sexuellem Missbrauch, über
       Pädophilie und Mackertum, es kursierten Manifeste und Erklärungen. Über
       Monate ging es hin und her – auch der Beschuldigte, in der Debatte stets
       als „XY“ bezeichnet, meldete sich zu Wort.
       
       Er beklagte eine Hetzkampagne und schrieb: „Daß ich mich bis vor etwa acht
       Jahren selber als ‚Pädo‘ bezeichnet habe, lag vor allem an meinem Irrtum,
       was dieser Begriff beinhaltet. Ich weiß auch nicht, wie Leute darauf
       kommen, mir Pädophilie vorzuwerfen. Denn dabei geht es um Beziehungen bzw.
       Sexualität mit Kindern (nicht mit Jugendlichen) und dies lehne ich ab.“ Er
       lebe, schrieb er, nur mit über 18-Jährigen zusammen. Außerdem habe er eine
       Entwicklung durchgemacht: „Menschliche Beziehungen sind für mich niemals in
       erster Linie sexuelle Beziehungen. Das war vielleicht mal vor 10, 15 Jahren
       so, aber ich sehe das heute anders.“
       
       In der Studie von Sven Reiß heißt es dazu: „Anfang der 1990er Jahre begann
       in der Berliner linksautonomen Szene eine breite, jedoch zähe und
       kontroverse Auseinandersetzung um den Aktivisten. Dabei wurde deutlich,
       dass er im Laufe seiner langjährigen Szenezugehörigkeit zahlreiche Jungen
       sexuell ausgebeutet und missbraucht hatte. Die Debatte wurde zugleich zu
       einer Grundsatzdiskussion zu ‚Pädophilie, Päderastie und sexuellen
       Missbrauch‘ innerhalb der linksautonomen Szene Berlins.“
       
       Wie so oft in linken Kreisen wurde die Debatte scharf und kleinteilig
       geführt, blieb aber folgenlos. Für die Betroffenen war das frustrierend,
       berichtet Thomas Schlingmann. „Es ist einfach nichts passiert. Obwohl
       konkrete Fälle benannt wurden.“ Nicht einmal die Polizei, die aus
       Überwachungsgründen die Interim mitgelesen habe, wurde tätig.
       
       ## Der Königsmord
       
       Der Verein Tauwetter veranstaltete im Januar 1996 schließlich ein Symposium
       über Pädophilie und Päderastie, mit szenischer Lesung von
       Betroffenenschicksalen. Einige der Zuschauer waren Edelweißpiraten, die
       nach dem Abend anfingen, sich untereinander auszutauschen. Erste
       Absetzbewegungen entstanden, die von K. aber geschickt eingefangen wurden.
       Verräter und Extremisten wollten ihn fertig machen – diese Lesart
       beherrschte die Gruppe und führte dazu, dass die Jugendlichen sich
       untereinander beharkten. Alles blieb, wie es war.
       
       Ein Kreis von sechs Edelweißpiraten plante schließlich den Königsmord. Sie
       verfassten einen langen Brief auf pinkfarbenem Papier und warfen ihn bei
       Eltern, Szenetreffpunkten und Nachbar*innen ein.
       
       Der Brief aus dem Oktober 1996, der der taz vorliegt, war ein Versuch der
       Antifa-Kids, ihren übergriffigen Gruppenleiter mit eigener Kraft
       loszuwerden. Auf 13 eng betippten Seiten berichten „Elvi, Schmada, Döhnki,
       Ole, Schugar, Teddy, Dirk und einige mehr“ über Psycho-Machtspiele und
       problematische Beziehungen, über gezielt geschürten Hass auf Eltern oder
       Mädchen, das Mitleid, das „Pipo“ durch den Verweis auf seine schlimme
       Kindheit und „seine Jugend im Strichermilieu“ zu erzeugen suchte – und den
       Druck, den er auf die Jungen aufbaute, intime Beziehungen einzugehen.
       
       Die Verfasser*innen schreiben: „Als unsere Konsequenz sehen wir nur
       einen Ausweg. Weil wir nicht mehr mit ‚Pipo‘ zusammenleben können und
       wollen, werden wir ihn auffordern, aus unserer WG auszuziehen!“ Weiter
       heißt es in dem Brief: „Dinge, die wir früher anders sahen, sind für uns
       jetzt klarer geworden. Wir hoffen, dass diesmal der Text eine erste
       wirkliche Auseinandersetzung mit ‚Pipo‘ und den Vorwürfen des (sexuellen)
       Missbrauchs zur Folge hat“.
       
       K. kam seinem Rauswurf zuvor und verließ die WG freiwillig. Kurz darauf
       waren die Edelweißpiraten Geschichte, zerbrochen am Streit um ihre
       Hauptfigur. Wenig später gründete K. die nächste Gruppe. Sie hieß
       „Unkraut“, neben ein paar verbliebenen Loyalen waren neue Jugendliche
       zwischen 13 und 15 Jahren dabei. Doch ein militanter Auftritt älterer
       Edelweißpiraten störte das Gründungstreffen. Das war 1996.
       
       „Unkraut“ sei als Gruppe nie auf die Beine gekommen, es gab weder ein
       festes Büro noch einen privaten WG-Treffpunkt. K., da schon weitgehend von
       der Szene isoliert, lebte wieder in einer 1-Zimmer-Wohnung. Einmal, in den
       Herbstferien, organisierte er noch eine Gruppenfahrt nach Theresienstadt.
       Dann liefen die Antifa-Aktivitäten langsam aus.
       
       K. suchte anschließend in anderen Kontexten nach Jugendlichen: Im Sommer
       1996 bewarb sich der ehemalige Antifaschist beim Katholischen Ferienwerk
       Nord-Ost als Freizeitleiter für Jugendfahrten, das Schreiben liegt der taz
       vor. Er hebt darin seinen „meist guten Draht zu Kindern/Jugendlichen“
       hervor und äußert Interesse an der Begleitung von 8- bis 15-Jährigen.
       Angenommen wurde er nicht, es gab bereits genug Gruppenleiter für die
       Fahrt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass er an künftigen Ferienfahrten
       in diesem oder anderen Kontexten beteiligt war.
       
       Heute betreibt K. die Webseite „Berlin Street“, die Adresse auf seinen
       Aufklebern führt dorthin. Auf der Seite findet sich Harmloses –
       Stadtgeschichte, Erinnerungskultur, Alltägliches. Dazwischen die typischen
       Comicfiguren: freche kleine Jungs mit wuscheligen Haaren, die Bildsprache
       ist fast identisch mit den frühen Flyern aus Kreuzberger Tagen.
       
       Immer wieder erscheinen dort Geschichten von jugendlichen Strichern. Oder
       die von „Peterchen“, einem Sodomisten, dem die Gesellschaft seine Lust am
       Sex mit Tieren übelnimmt. Die Moral: „Und so sollten wir uns alle fragen,
       ob wir (…) uns nicht erbarmen und diese armen Menschen tolerieren und ihnen
       unsere Pfote reichen sollten …“
       
       Ist das der alte linke Minderheitendiskurs – Pädos, Stricher, Sodomisten
       als unterdrückte Minderheiten? Zählt K. sich auch dazu, obwohl er sich
       schon sehr lang nicht mehr als „Pädo“ bezeichnet? Auf die Frage, warum er
       vor Schulen Aufkleber klebe, reagiert er mit widersprüchlichen Aussagen:
       Die Sticker seien Bestandteil seiner Arbeit für einen
       erinnerungspolitischen Verein, man habe mit Schülern an einem Projekt über
       jüdisches Leben im Kiez arbeiten wollen, was aber dann so nicht realisiert
       worden sei, und nur zufällig habe er dafür seine private Mailadresse
       genutzt. Dabei hat der Verein, zu dessen Anliegen der stinkefingerzeigende
       Junge auf dem Aufkleber gar nicht passen will, eine eigene funktionierende
       Kontaktmailadresse – K. betreibt auch diese Website.
       
       Für den „Aufbau neuer Strukturen“, schreibt K. weiter, fehle ihm ohnehin
       die Zeit: Er sei mit Angestellten-Job, Kleingewerbe, Vereinsarbeit und
       „einer festen Beziehung (er ist 29)“, voll ausgelastet. Und er ergänzt:
       „Ich frage mich, was eigentlich hinter dem geplanten Artikel steckt. Bei
       einigen kann ich es mir schon denken, sie sind ja bis heute politisch sehr
       extremistisch und hassen alle und jeden, der einer anderen Meinung ist.“
       Dieses Freund-und Feind-Denken führe „zu ungeheuerlichem und unmenschlichem
       Vorgehen gegen Andersdenkende“ – bis heute sei er Ziel davon.
       
       Im Schöneberger Stuhlkreis wird klar, wie sehr die Jahre bei den
       Edelweißpiraten die Anwesenden geprägt haben. Viele quälen sich mit
       schlimmen Erinnerungen oder Schuldgefühlen, an manchen nagt Hass. Einer
       berichtet von Depressionen, andere von Suchtproblemen und langen Therapien.
       
       Auch nach mehr als 30 Jahren ist ihr ehemaliges Idol noch omnipräsent. Jens
       Tiede erzählt, wie das ehrenamtliche Flüchtlingshilfenetzwerk, für das er
       sich engagiert, im Sommer 2015 eine syrische Familie zu ihm schickte. Der
       freiwillige Fahrer war K., der einen Taxischein besitzt. „Ich konnte nur
       ein Wort sagen: ‚Raus!‘ – dann schloss ich mich in meinem Zimmer ein und
       hatte eine Panikattacke“, sagt Tiede.
       
       Die Gruppe, die sich zusammengefunden hat, weiß: Strafrechtlich ist alles,
       was damals in der WG und anderswo geschah, längst verjährt. Das hat ihnen
       eine Anwältin mitgeteilt. Manche überlegen jetzt, ob sie ein
       zivilrechtliches Verfahren einleiten. Damit K. nie wieder mit Jugendlichen
       arbeiten kann. Die meisten aber befassen sich mit ihrem Verhältnis
       untereinander; viele erzählen zum ersten Mal nach all den Jahren davon, was
       ihnen geschehen ist.
       
       Es ist ein geschützter Raum, aber es ist auch viel Ratlosigkeit zu spüren.
       Manche gehen alten Spuren nach, etwa der von Till, einem 13-jährigen Punk,
       der damals zeitweise in der WG lebte und eines Tages einfach verschwand.
       Oder sie folgen den Aktivitäten ihres ehemaligen Gruppenleiters im Internet
       – auf der Suche nach Beweisen, dass er auch heute noch Kontakt zu Teenagern
       sucht.
       
       Wenn Sie selbst von sexuellem Missbrauch betroffen sind, können Sie sich an
       das [5][Hilfe-Portal] [6][Sexueller Missbrauch] wenden, Telefon: 0800 22 55
       530.
       
       15 Dec 2024
       
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   DIR [5] https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite
   DIR [6] https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite
       
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