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       # taz.de -- Portrait von Regisseurin Pınar Karabulut: „Ohne Kultur gibt es keine Demokratie“
       
       > Pınar Karabulut steht für pompös-kitschige Theater- und
       > Operninszenierungen. Hier spricht sie über ihren Werdegang und die
       > Gefahren der Kulturkürzung.
       
   IMG Bild: Pınar Karabulut liebt das Weltverständnis der italienischen Oper
       
       Die Geschichte, wie sie ans Theater gekommen ist, sei nicht so aufregend,
       behauptet die Frau im violetten Blazer, während sie eine Hand mit
       knallbunten und kunstvoll verzierten Nägeln nach der Apfelschorle vor sich
       ausstreckt. Pınar Karabulut ist aktuell eine der interessantesten
       Bühnenregisseurinnen im deutschsprachigen Raum. Ihre Theater- und
       Operninszenierungen sind pompös, mit aufwendig gestaltetem Kostüm und
       Bühnenbild, meist in kitschigen Bonbontönen oder [1][farbgesättigt wie in
       Technicolor.]
       
       1987 geboren und aufgewachsen in Mönchengladbach, besuchte Karabulut die
       Theater-AG ihres Gymnasiums. „Da waren die Coolen drin“, erinnert sie sich
       im Gespräch mit der taz. Unter anderem auch Charlotte Roche: „Ich wollte
       unbedingt spielen, was sie gespielt hat“, schwärmt sie. So richtig
       aufgeblüht sei sie dann im Jugendclub des Stadttheaters. Später studierte
       sie Theaterwissenschaften, Literatur sowie Kunstgeschichte und assistierte
       an verschiedenen Bühnen.
       
       Die Tochter [2][sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei] weiß aus eigener
       Erfahrung, wie wichtig Räume sind, in denen sich Kinder und Jugendliche
       abseits des Klassenzimmers und der familiären Umgebung ausleben und ihre
       Identität finden können. „Ich weiß nicht, ob ich ohne diese Angebote auch
       dort gelandet wäre, wo ich heute bin“, sagt sie.
       
       Die anstehenden Haushaltskürzungen von Bund und Ländern, die auch
       Kulturräume für Heranwachsende betreffen, kritisiert sie scharf. Gerade
       Kinder, die zu Hause keinen Zugang zu Kultur hätten, würden so
       benachteiligt. Wie wichtig Kultur für den Erhalt einer demokratischen
       Gesellschaft ist, wird dieser Tage oft betont. Auch Karabulut ist sich
       sicher: „Ohne Kultur gibt es keine Demokratie und die schieben wir grad
       durch die Hintertür ab.“
       
       ## Machtmissbrauch, Rassismus und sexualisierte Gewalt
       
       Die Demokratie fördern – wenigstens im Kleinen – scheint der Theater- und
       Opernregisseurin ein Anliegen zu sein. Bei ihren Produktionen versuche sie
       Räume zu schaffen, in denen offen und ohne Angst gesprochen werden könne.
       Was eigentlich selbstverständlich klingt, ist hinter der Bühne noch lange
       nicht so.
       
       In den vergangenen Jahren wurde immer wieder von Machtmissbrauch,
       Rassismus und sexualisierter Gewalt am Theater berichtet. Auch wenn
       bisherige Vorwürfe nicht nur männliche Theatermacher trafen, etabliert
       wurde das patriarchale System, das auch vor der Kultur nicht Halt macht,
       über Jahrhunderte von Männern.
       
       „Kleinreden, unterdrücken und schreien, wenn etwas nicht passt“, so etwas
       erlebte Karabulut auf ihrem beruflichen Lebensweg mehr als einmal. Gelernt
       hat sie daraus, dass ihre eigenen Produktionen auch ein Safe Space für die
       darin Arbeitenden sein sollen. „Ich finde es wichtig, dass auch Raum dafür
       ist, über private Themen zu sprechen“, schließlich profitiere Schauspiel
       aus eigenen Erfahrungen. Da werde dann beispielsweise schon mal eine halbe
       Stunde über die Menopause gesprochen, verrät die Regisseurin.
       
       Visualität ist elementarer Bestandteil von Karabuluts Arbeit, ob am Theater
       oder in der Oper. Sie betrachte die Bühne wie ein Gemälde sagt sie. In
       „Ulrike Maria Stuart“ etwa, das gerade am Deutschen Theater zu sehen ist,
       gleicht die Bühne (von Michela Flück) einer Unterwelt, aus der die
       Darstellenden als bluttrinkende Zombies aus Gräbern emporsteigen. Zwischen
       Märchen und Horrorfilm verortet Karabulut selbst ihre Ästhetik.
       
       ## Zombiereferenzen und die Untoten der RAF
       
       Pompös sind auch ihre bisherigen Operninszenierungen: 2021 feierte sie mit
       „Greek“ von Mark-Anthony Turnage ihr Debüt an der Deutschen Oper Berlin.
       Zwei Jahre später wurde ebendort ihre Version von Puccinis „Il trittico“
       gezeigt. Oper sei für sie so spannend, da Emotionen dort – anders als im
       Schauspiel – weniger über Text als über die Musik übertragen würden.
       
       Privat höre sie zwar eher Beyoncé oder Lady Gaga, doch das Kitschige und
       Überhöhte der Oper fasziniere sie: „Das Weltverständnis der italienischen
       Oper ist absolut konträr zum deutschen Theaterkosmos.“
       
       In Letzterem scheut Karabulut nicht die Auseinandersetzung mit schwierigen
       Themen. So lässt sich „Ulrike Maria Stuart“, das im Februar dieses Jahres
       Premiere feierte, auch als Parabel auf eine sich selbst zersetzende Linke,
       wie wir sie seit dem 7. Oktober 2023 erleben, interpretieren.
       
       Der Text von Elfriede Jelinek verknüpft Schillers Maria Stuart und
       Elisabeth I. mit den beiden weiblichen Galionsfiguren der RAF, Ulrike
       Meinhof und Gudrun Ensslin. Die Zombiereferenz stehe, so Karabulut,
       beispielhaft für die deutsche Geschichte, die einem ähnlich im Nacken
       sitze, wie es die Untoten im Stück täten.
       
       ## Intendanz am Schauspiel Zürich
       
       „Ich erinnere mich, wie in meinem Geschichtsbuch ein kleiner Kasten zur RAF
       stand, mehr nicht.“ Auf ihre Nachfrage habe der Lehrer ausweichend
       geantwortet und auf den Lehrplan hingewiesen, der eine Auseinandersetzung
       mit diesem Teil jüngerer Geschichte nicht vorsah. Über manches lässt sich
       erst mit Abstand sprechen.
       
       Ihre neueste Inszenierung, die am 19. Dezember ebenfalls am Deutschen
       Theater Premiere feiern wird, ist eine Neuinterpretation von Shakespeares
       „Der Widerspenstigen Zähmung“. Autorin Katja Brunner, mit der Karabulut
       bereits für „Richard III“ am Schauspiel Köln zusammenarbeitete, hat den
       zutiefst misogynen Klassiker umgeschrieben und weitergedacht. In „Der
       Zähmung Widerspenstigkeit“ wird über Gewalt an Frauen, die Bedrohung ihrer
       Körper bis hin zum Femizid gesprochen und so Shakespeares einstige
       Dramaturgie in einen modernen Kontext gesetzt.
       
       Man kann sich bereits vorstellen, dass das den Traditionalisten in den
       Feuilletons nicht gefallen wird. Doch an so etwas scheint sich Karabulut
       glücklicherweise nicht zu stoßen: „Um die Realität zu verändern gehört es
       auch dazu, Sehgewohnheiten zu hinterfragen.“
       
       Was im neuen Jahr auf sie zukommen wird, weiß Karabulut auch schon:
       Gemeinsam mit Rafael Sanchez übernimmt sie die Intendanz des Zürcher
       Schauspielhauses. Das ist nicht ihre erste Leitungserfahrung. 2016/17
       führte sie zusammen mit dem Kuratorinnen-Team Britney X eine
       Außenspielstätte des Schauspiels Köln, 2020 bis 2023 war sie Teil der
       künstlerischen Leitung [3][der Münchner Kammerspiele]. Sie ist sich der
       Verantwortung bewusst, schließlich gehört das Schauspiel Zürich zu den
       renommiertesten Häusern im deutschsprachigen Raum.
       
       Es fungierte zudem als Auffangstätte für Theaterschaffende, die während der
       NS-Zeit ins Exil mussten. Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“
       etwa kam 1941 ebendort zur Premiere. Auch Therese Giehse, die darin die
       Hauptrolle spielte und neben Brechts Ehefrau Helene Weigel als wichtigste
       Interpretin jener Zeit von Brechts Werken gilt, fand in dem Exilhaus eine
       Wirkungsstätte während des Zweiten Weltkrieges.
       
       „Dieses Erbe des Hauses wollen wir auf jeden Fall ehren“, beantwortet
       Karabulut die Frage, wie Sanchez’ und ihre Pläne für das Schauspiel Zürich
       aussehen werden. Neben dem Blick in die Vergangenheit, wolle man aber auch
       in die Zukunft schauen „und beides in der Gegenwart zusammenbringen.“ Mehr
       will Karabulut noch nicht verraten. Eines ist aber sicher: Kunst reagiert
       immer auf Krisen und von denen haben wir aktuell mehr als genug.
       
       15 Dec 2024
       
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