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       # taz.de -- Puccini-Oper in Bremen: Ein bisschen Kitsch muss sein
       
       > Für ihre erste Opernregie hat Alize Zandwijks sich Puccinis „La Bohème“
       > ausgesucht. Deren Sozialromantik transferiert sie in Bremens Gegenwart.
       
   IMG Bild: Die Matratze füllt fasst die gesamte Mansarde aus. In der passiert alles, was wichtig ist, insbesondere Mimis Tod
       
       Ganz blass hockt sie da, und singt noch ein bisschen, und zwar sooo schön!
       Aber dann streckt der Tod auch Adèle Lorenzi als Lucia, [1][die alle nur
       Mimi nennen], auf die dünne Matratze nieder. Die füllt in Bremen fast die
       gesamte Mansarde aus. In der passiert halt, auch wenn’s zwischendurch noch
       Outdoor-Szenen mit Kinderchor und großherziger Prostituierter gibt, alles,
       was für die Oper „La Bohème“ wichtig ist. Dort künstlert eine Künstler-WG
       erfolglos vor sich hin, dort verliebt sich Rodolfo in die
       Zufallsbekanntschaft Lucia, die, wie gesagt, immer nur Mimi genannt wird.
       Und dort haucht die Näherin dann eben auch das Leben aus, in c-Moll, wobei
       nicht nur die Celli mit ihr schluchzen.
       
       Auch räumlich soll das in Bremen nahe gehen: Durch klappbare Metallgeländer
       abgetrennt, hat Ausstatter Theun Mosk die Dachkammer ins Publikum reinragen
       lassen. Gerade im frostig-kargen Industrial-Look der Bühne hat der
       Herzschmerz leichtes Spiel, wenn er den Raum besetzen soll.
       
       Ein bisschen Kitsch muss sein: Wer sich auf diese Grundwahrheit besinnt,
       der wird auch keinen Anstoß daran nehmen, dass in Bremen Giaccomo Puccinis
       „La Bohème“ pünktlich zum 100. Todestag auf den Opernspielplan drängt, ein
       Werk, in dem sich alle wiederfinden können. „Jeder von uns“, so hat es ja
       einst [2][sein Trauerredner formuliert] – und wer aus dem Opernpublikum
       würde ihm da nicht beipflichten? – „hat Momente von Puccinis Musik erlebt,
       jeder von uns war bewegt von den unvergesslichen Protagonisten, die Puccini
       auf die Bühne brachte, die er mit dem Schwung seiner Musik zum Leben
       erweckte.“
       
       Hier geht es nicht um Kritik: „Tutto il popolo si racoglie in quest’ora“,
       hieß es ja dann auch in Benito Mussolinis Nekrolog im italienischen
       Parlament weiter, also dass sich in dieser Stunde das ganze Volk versammle,
       weil es sich durch diese Kunst gemeint fühlt. Es gilt in dieser
       unsterblichen Musik aufzugehen und zu verschmelzen zu einer Phalanx des
       Guten.
       
       Ganz in diesem Sinne [3][verlässt sich auch Regisseurin Alize Zandwijk] für
       die Bremer Aufführung der Oper auf die mitreißende Dynamik der Partitur,
       den zarten Schmelz von Oliver Sewells Tenor und die strahlende Melancholie
       von Adèle Lorenzis Sopran. Sowie auf das soziale Gewissen der
       Theaterbesucher*innen, die aufgefordert sind, Nudel- oder Reispakete für
       die private Sozial-Organisation der Tafel mitzubringen. Diese sind am
       Eingang abzugeben und bekommen dann, bevor sie zur Armenspeisung
       abtransportiert werden, auf der Bühne einen Auftritt: Herrlich rührselig
       ist das.
       
       Es wirkt wie [4][ein das schlechte Gewissen des Publikums wohltuend
       balsamierender Versuch, die nur auf der Bühne wirksame Sozialromantik
       Puccinis in die Gegenwart zu transferieren]. Wenn Oper den Skandal Armut so
       radikal entpolitisiert zu einer Angelegenheit macht, die eigentlich nur
       Gefühle angeht, dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Dann ist
       alles bereits schiefgegangen, inszenatorisch. Denn die Musik: da kein
       Problem, die lässt sich genießen.
       
       22 Dec 2024
       
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