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       # taz.de -- Sturz des Assad-Regimes: Freut euch über Syrien!
       
       > Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution
       > mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?
       
   IMG Bild: Damaskus, Syrien, 13. Dezember: Freude beim Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee
       
       Lenin soll einst gesagt haben, eine Revolution in Deutschland sei
       unmöglich, weil die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie
       einen Bahnhof stürmen. Gut 100 Jahre später gibt es in Deutschland gar
       keine Bahnsteigkarten mehr und die Deutschen erkennen eine Revolution nicht
       einmal, wenn sie in Echtzeit auf ihren Smartphones zugucken. Die syrische
       Revolution, also der Sturz des faschistischen Assad-Regimes durch Rebellen
       unter dem Jubel der Bevölkerung, ist [1][das schönste Ereignis des
       unschönen Jahres 2024], aber der deutsche Blick darauf ist vor allem von
       Negativität geprägt.
       
       „Dschihadistische Milizen“ hießen die syrischen Rebellen von Hayat Tahrir
       al-Sham (HTS) zu Beginn ihres Feldzuges tagelang in allen großen deutschen
       Medien. „Islamisten stürzen Syriens Diktator – Einheiten der Terrormiliz
       HTS kontrollieren die Hauptstadt“ titelte zu Ende ihres Feldzuges die
       Süddeutsche Zeitung, Deutschlands auflagenstärkstes überregionales
       Qualitätsblatt. „Wer kommt nach Assad? In Syrien herrscht Chaos“, schreibt
       eine Woche später die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Spiegel
       titelt „Das syrische Experiment“, die Zeit fragt: „Wie lange hält der
       Jubel?“.
       
       Und das ist nur der vermeintlich aufgeklärte Mainstream. Am politischen
       Rand sieht es ganz finster aus. „Gelegenheit macht Diebe: Kommt nun der
       Asyl-Pendelverkehr zwischen Syrien und Deutschland?“, fragt die neurechte
       Junge Freiheit, „Westen sucht Kontrolle“ und „Werben um Dschihadisten“
       konstatiert die vermeintlich linke Junge Welt.
       
       Bloß nicht freuen, bloß nichts Positives sehen: Das ist der gemeinsame
       Unterton. Begeisterung? Um Gottes willen, es sind doch Araber und Muslime,
       seit dem 7. Oktober 2023 weiß man da Bescheid. Es wird geraunt und sich
       gefürchtet, HTS wird mit dem „Islamischen Staat“ verwechselt, Fake News
       machen die Runde, die syrische Revolution wird im gleichen Atemzug als
       dschihadistische Machtergreifung und als zionistisches Komplott
       verunglimpft.
       
       Die Rebellen [2][richten gar kein islamistisches Terrorregime ein]? Sie
       „geben sich gemäßigt“, heißt es dann. Christen können sich frei betätigen?
       Na ja, man weiß aber nicht, was kommt. Kurden werden von protürkischen
       Milizen angegriffen? Da sieht man doch, wo das alles hinführt. Syrer, die
       in Deutschland feiern? Raus!
       
       „Islamisten“ sind bekanntlich die Bösen, sie wollen einen Gottesstaat, sie
       herrschen mit Gewalt, man kann ihnen nicht trauen. „Syrische Islamisten“
       wurden schließlich schon mehrfach als mutmaßliche Terroristen in
       Deutschland aufgegriffen. Die HTS ist als Terrororganisation gelistet, es
       laufen vor deutschen Gerichten Prozesse wegen HTS-Unterstützung.
       
       ## In der Ungewissheit liegt die Chance
       
       Zur Erinnerung: Das Terrorregime in Syrien war jenes Regime, das gerade
       gestürzt worden ist. Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz,
       sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in
       Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu
       gründen, plural und vielfältig. Und zugleich muss eine Staatsmacht die
       administrativen Strukturen wiederherstellen und die Weichen für ein auf
       Dauer freies Syrien stellen.
       
       Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht. Aber genau darin liegt die
       Chance. Es ist nichts vorbestimmt. Die vielfach genutzte Parallele zum
       Berliner Mauerfall 1989 liegt genau darin – in dieser Offenheit, die Kräfte
       freisetzt und Utopien möglich macht.
       
       Dafür muss sich der Rest der Welt massiv engagieren, und zwar nicht zur
       Wahrung eigener Interessen, wie es die Türkei und Israel gerade tun,
       sondern mit derselben Begeisterung wie die Menschen in Syrien selbst und
       mit Begeisterung für diese Menschen.
       
       Die [3][einst gegen Assad verhängten Syrien-Sanktionen] müssen fallen. Die
       geschlossenen Botschaften müssen wieder öffnen, der syrischen Diaspora muss
       Reisefreiheit gewährt werden, die Verbrecher müssen vor Gericht kommen, der
       Wiederaufbau muss starten. Es geht nicht nur um den „Schutz von
       Minderheiten“, wie es mantraartig oft heißt. Es geht um den Schutz des
       gesamten syrischen Volkes.
       
       ## Europa darf jetzt nicht abwarten
       
       Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen
       Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie
       rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den
       Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die
       Zukunft.
       
       Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf
       jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten. „Assad oder wir
       verbrennen das Land“ war die Parole der Mordmilizen, die Syrien in Schutt
       und Asche legten und vor denen Millionen nach Europa flohen. Die Mörder
       hielten Wort – und sind doch gescheitert. Jetzt gilt es, gemeinsam das
       verbrannte Land aus der Asche zu heben.
       
       17 Dec 2024
       
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