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       # taz.de -- Dating in der DDR: Lieben Sie nicht alles Schöne, lieben Sie mich!
       
       > Ein Blick auf DDR-Kontaktanzeigen offenbart unfreiwillige Komik, aber
       > auch viel Erhellendes über das Liebesleben und die Codes im Sozialismus.
       
   IMG Bild: Ostberlin, 1973. Ob eine geteilte m/l WA diese Knutschenden zusammenbrachte?
       
       Welches hübsche Mädchen möchte mit solid. Radsportler in Briefwechsel
       treten?“, wollte ein unbekannter Junggeselle im Jahr 1966 von der
       Leserinnenschaft der Ostberliner Zeitschrift Das Magazin wissen. Damals
       [1][war der Radsportler Täve Schur ein Idol]. Aber was genau bedeutet der
       Zusatz „solide“, und warum wünschte der junge Mann nur Briefkontakt?
       
       Angesichts einer erdrückend langweiligen, durchweg zensierten
       Medienlandschaft waren Kontaktanzeigen wie diese kleine Lichtblicke. Sie
       boten Unterhaltung, zum einen mit ihrer oft unfreiwilligen Komik, zum
       anderen, weil es Spaß machte, zwischen den Zeilen nach Codes zu suchen und
       die Lage des Inserenten zu interpretieren.
       
       Was zum Beispiel war von einem 22-Jährigen zu halten, dessen Interessen aus
       „Sammeln von Ansichtskarten“ und „Bierdeckeln“ bestanden? Waren derart
       merkwürdige Hobbys ein Indiz fürs Abtauchen in die innere Emigration?
       Sonderbar auch der geschiedene 36-Jährige, der sich 1980 eine „moderne,
       emanzipierte, häusliche und liebe“ Frau wünscht, die die „Fahrerlaubnis
       besitzen darf“, was aber „nicht Bedingung“ sei. Hatte man ihm etwa die
       Fleppen entzogen?
       
       Als Leser machte man sich so seine Gedanken. Welche Verbindungen hatte ein
       24-jähriger „Cabriolet-Fahrer mit Interesse für Sommer, Sonne, Sport, Auto,
       Reisen“ aus [2][Zwickau, dem Zentrum der DDR-Autoindustrie]? Warum suchte
       eine junge Dame im Magazin ausdrücklich nach einem „Herrn mit
       Englischkenntnissen“? Wären nicht Polnisch oder Russisch praktischer
       gewesen? Und wieso überhaupt „ein Herr“ im Arbeiter- und Bauernstaat?
       
       ## Heiratsannoncen, die nach Hilfeschrei klingen
       
       In der DDR waren Ehe und Familie, wie die Autorin Anna Kaminsky in ihrem
       2016 veröffentlichten Buch „Frauen in der DDR“ schreibt, keine Privatsache,
       sondern sollten laut Gesetz der Entfaltung sozialistischer Persönlichkeiten
       und dem gesellschaftlichen Nutzen dienen. Doch Anspruch und Wirklichkeit
       klafften wie in so vielem auseinander. Bis zu 15 Prozent der Erwachsenen
       lebten laut Volkszählung von 1981 ohne Partner, das konnte den Genossen
       nicht egal sein. Waren in den Anfangsjahren wie im Westen die
       Alleinstehenden vor allem Kriegswitwen oder Frauen, die wegen Männermangels
       keinen Partner fanden, so kam in der DDR seit den 1960er Jahren zunehmend
       die Scheidungseinsamkeit hinzu.
       
       In einem Land, in dem nach früher Heirat jede dritte [3][Ehe geschieden
       wurde], es an Wohnungen ebenso mangelte wie an Freizeitmöglichkeiten,
       besonders für die vielen alleinerziehenden, voll berufstätigen Mütter,
       klangen Heiratsannoncen oft wie ein Hilfeschrei: „Mutti, 28/1,60, bld.,
       schl., hübsch, geschieden, sucht zuverlässigen und aufrichtigen Partner.“
       Und auch hier sah man den Staat in der Pflicht, so Anna Kaminsky, die
       Suchenden zu unterstützen und zu schützen. Was bedeutete, dass auch die
       Annoncen vorab im Sinne des Sozialismus überprüft wurden.
       
       Neben der wachsenden Zahl von Eheberatungsstellen, die Scheidungen
       verhindern sollten, entstanden in den 1970er Jahren auch zwei staatlich
       initiierte „Eheanbahnungsinstitute“. Private Initiativen zur Linderung des
       Single-Notstands wurden hingegen strafrechtlich geahndet. 1981 sorgte der
       Fall eines Paares für Furore: Die beiden hatten Tausende Inserenten
       angeschrieben und gegen eine Gebühr von 5 bis 25 DDR-Mark versprochen, dem
       Glück nachzuhelfen. Dafür gab es ein Jahr Gefängnis und eine hohe
       Geldstrafe.
       
       Was aber suchten die einsamen Herzen und in welche Sprachschablonen der
       DDR-Zensur mussten sie ihre Wünsche zwängen? Die „junge Mutti“ verlangte
       oft einen charakterfesten, aufrichtigen, zuverlässigen, liebevollen
       und/oder anpassungsfähigen Mann, „handwerkliche Fähigkeiten“ erwünscht, der
       ihren Kindern Freund und Ersatzvater sein sollte. Nichtraucher und
       Nichttrinker (NR/N TR) waren eindeutig im Vorteil, lag der
       Pro-Kopf-Verbrauch in der DDR doch bei 23 Flaschen Schnaps pro Jahr –
       europäische Spitze. Da es in der DDR nach Scheidungen keinen
       Versorgungsausgleich für den Partner, lediglich Unterhaltszahlungen für
       gemeinsame Kinder gab, galt der Wunsch nach einer Versorgungsehe als tabu.
       Vermögen war offiziell kein Thema. Doch ein von Frauen gesuchtes „Interesse
       fürs Eigenheim“ wird wohl nur jener Mann pflegen, der eines besitzt oder
       anstrebt.
       
       ## Männer mit m/l WA
       
       Männer suchten mehrheitlich liebe, nette, gutaussehende Frauen, mit
       Interesse fürs „gemütliche Heim“, Kinder – auch mehrere – waren für die
       meisten „kein Hindernis“. Humor war selten ein Thema, weder bei Angebot
       noch bei Nachfrage.
       
       Auffällig, dass der Bildungsgrad – HSA oder FSA (für Hoch- oder
       Fachschulabschluss) von Männern sehr viel öfter in den Anzeigen angegeben
       wurde als von Frauen. Auch Männer mit einer „m/l WA“, einer
       marxistisch-leninistischen Weltanschauung, kamen häufiger als das weibliche
       Pendant vor, wobei laut einer Studie des Linguisten Manfred W. Hellmann
       weniger als ein Prozent der Anzeigen diesen Ideologiezusatz enthielten.
       
       Öfter fand sich der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer christlichen
       Kirche – die Machthaber wollten ganz offensichtlich, dass Gottgläubige
       unter sich blieben, sonst hätten sie derartige Bekenntnisse, die ja der
       sozialistischen Moral und Weltanschauung zuwiderliefen, gar nicht erst
       geduldet.
       
       Kinderlose suchten den intelligenten, unternehmungslustigen Partner mit
       Interessen wie Camping, Motorsport, FKK, (Auslands-)Reisen, Fotografie oder
       gleich das inflationär gebrauchte „alles Schöne“. Dazu annoncierte ein
       trotziger Individualist in einer Ausgabe des Magazins: „Lieben Sie nicht
       alles Schöne, lieben Sie mich!“
       
       ## Verklausulierte Suche nach einem Swingerclub
       
       Als Meister der Dechiffrierung erkannten die gelernten DDRler, dass
       Fotografie oder FKK ein Cover-up für freizügigeren Sex sein konnte, und
       wenn ein „Reiseonkel“ eine „Reisetante“ im Land der Reiseunfreiheit suchte,
       dann vielleicht gar für eine Ausreise?
       
       Mit den Jahren wurde der Ton frecher, die Annoncen vielfältiger. In den
       1980er Jahren expandierte die Rubrik „Bekanntschaften“ zuungunsten der
       Heirat, die lediglich „später“ nicht mehr ausgeschlossen war. Jetzt suchte
       ein „süßer Kater“ ein „Mäuschen“ mit Interesse an Liebe und Erotik, aus
       „Kind kein Hindernis“ wird „kleine Kakaotrinker willkommen“ – eine Chiffre,
       dass der Verfasser die US-Serie „Alf“ gesehen hat.
       
       Eine „Germanistin von großem Liebreiz sucht Gefährten mit Bibliothek. Stuhl
       vorhanden“. „Unkonventionelle, tolerante, impulsive Ehepaare“ suchen
       Gleichgesinnte zur gemeinsamen Freizeitgestaltung“, ein Swingerclub also.
       Und auch gleichgeschlechtliche Partnersuche wird immer häufiger,
       schließlich war [4][der Paragraf 175] in der DDR, anders als im Westen,
       schon lange nicht mehr strafrechtlich relevant.
       
       Manche Anzeigentexte aus der Zeit kurz vor dem Mauerfall klingen heute, als
       ahnte man schon, dass der Systemwechsel bevorsteht: „SOS! UFO-Kommandant
       auf Nullkurs“ oder „Raus aus dem Fuchsbau“ hieß es beispielsweise 1988 im
       Magazin.
       
       Mit dem Ende der DDR wurden die Zeitungen dicker, schrumpfte die
       Kontaktsuche, an ihre Stelle rückten Immobilienanzeigen, Finanztipps,
       Werbung für billige Busreisen. Hunderte neue Wörter mussten die
       Ostdeutschen laut Linguist Hellmann nun lernen. Mit den neuen
       Sprachschablonen verschwand die m/l WA, an ihre Stelle rückten die
       „Unternehmer im IT-Bereich“. Und aus dem HSA wurde immer öfter der
       Akademiker.
       
       Gefragt war nun der Partner für den Neuanfang – „privat und beruflich“.
       
       13 Jan 2025
       
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