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       # taz.de -- Archiv der Werkstatt der Kulturen: Ein Schatz in 200 Kartons
       
       > Die Wissenschaftlerin Juana Awad erforscht das Archiv der ehemaligen
       > „Werkstatt der Kulturen“ in Neukölln. Es ist eine Art Gedächtnis der
       > „Multikulti-Stadt“ Berlin.
       
   IMG Bild: Juana Awad in den Räumen des Tieranatomischen Theaters. Auch hier kann das Archiv nicht bleiben
       
       Berlin taz | Den verlorenen Schatz entdeckte Juana Awad vor knapp einem
       Jahr im Keller eines Kreuzberger Altbaus. Eine Bekannte hatte der
       Wissenschaftlerin den Tipp gegeben, dass sich dort eine besondere Sammlung
       befindet: Dutzende Meter Akten, Hunderte Videokassetten, Tausende Poster
       und Flyer. Alles hastig in Umzugskartons geworfen, bis unter die Decke
       gestapelt, teils feucht und schimmelig.
       
       Als Awad im Januar erstmals durch die graue Metalltür des dunklen
       Kellerraums tritt, erschrickt sie. „Es hat mich traurig gemacht zu sehen,
       wie das alles vor sich hin fault“, sagt sie. „Ich wusste, das Material muss
       gerettet werden.“
       
       Was die 47-Jährige vorfand, war zwar in schlechtem Zustand. Für die
       Wissenschaftlerin sind die Unterlagen dennoch von großem Wert. Sie sieht
       darin ein Zeugnis deutscher Geschichte, eine Art Gedächtnis der
       „Multikulti-Hauptstadt“ Berlin.
       
       Es sind die Überreste aus fast 30 Jahren Arbeit des Neuköllner
       Veranstaltungszentrums „Werkstatt der Kulturen“, das 2020 dichtmachte und
       heute als „Oyoun“ bekannt ist – ein Name, der [1][zuletzt für heftigen
       politischen Streit stand]. Nach einer Veranstaltung mit der
       antizionistischen Gruppe „Jüdische Stimme“ Ende 2023 [2][erhob der Senat
       Antisemitismusvorwürfe] gegen „Oyoun“ und wollte ab Januar 2025 eine neue
       Hausleitung einsetzen. Ob daraus etwas wird, ist jedoch unklar.
       
       ## Der Einrichtung droht das Aus
       
       „Aktuell können wir eine neue Betreiberschaft für den Kulturstandort nicht
       bestätigen“, heißt es auf Anfrage aus der Senatsverwaltung. Im Zuge der
       aktuellen Haushaltskürzungen soll das gesamte Budget des Neuköllner Hauses,
       gut eine Million Euro, gestrichen werden. Der Einrichtung droht das Aus.
       
       Berlin könnte damit eine Institution verlieren, die wie kaum eine andere
       die Stadt geprägt hat. Das zeigt das Sammelsurium an Schriftstücken,
       Filmaufnahmen, Fotos und Broschüren aus dem Keller. „Das Archiv bietet
       einen einzigartigen Einblick in die Kulturszene Berlins, aber auch in die
       Entwicklung der Bundesrepublik zur postmigrantischen Nation“, sagt Awad.
       
       Oft entstanden in der „Werkstatt der Kulturen“ Ideen, die später zum
       Mainstream wurden – eine sogar zum Millionengeschäft. Doch das war ein
       weiter Weg: Die Unterlagen erzählen von internem Streit, von Kämpfen mit
       der Politik, aber auch von künstlerischer Pionierarbeit. Und sie zeigen,
       wie sich die Migrationsdebatte seit den 1990er Jahren gewandelt hat.
       
       ## 100 Kisten sind verloren
       
       Die 300 feuchten Umzugskartons hat Awad inzwischen aus dem Keller geborgen
       und im Oktober auf das Gelände der Charité geschafft. Mit weißen
       Stoffhandschuhen und Wattestäbchen sucht sie nach Pilzspuren. „Noch einen
       Winter hätte das Archiv nicht überlebt“, sagt sie. 100 Kisten musste sie
       wegwerfen: Rechnungen, Kontoauszüge, vergammeltes Papier. Die restlichen
       200 Kartons hat sie in neue Pappschachteln umgepackt.
       
       Die stehen nun in einem Raum des Tieranatomischen Theaters auf dem Campus
       der Charité. Der klassizistische Bau wird im Volksmund „Trichinen-Tempel“
       genannt, weil in seinem runden Vorlesungssaal früher Tierkadaver seziert
       wurden. Heute zerlegt Awad hier als Fellow am [3][Forschungskolleg
       „inherit“ der Humboldt-Uni] das Werkstattarchiv.
       
       Die Wissenschaftlerin, Künstlerin und Kuratorin Awad – geboren in
       Kolumbien, Studium in Kanada, seit 2011 in Deutschland – interessiert sich
       vor allem für die kreativen Praktiken in den Theater- und Musikproduktionen
       der „Werkstatt der Kulturen“. Wissenschaftlich sei das kaum erforscht,
       obwohl das Neuköllner Haus ein Massenpublikum erreicht habe. Im Schnitt 500
       Events pro Jahr habe es dort zwischen 1993 und 2020 gegeben, mit mehr als
       40.000 Schauspieler*innen, Musiker*innen, Tänzer*innen und
       Referent*innen.
       
       Rechnet man den 1996 ins Leben gerufenen [4][Karneval der Kulturen] dazu,
       habe die Einrichtung mehr als 35 Millionen Menschen angesprochen. Alte
       Werkverträge, die alleine 60 Ordner füllen, belegen Kooperationen mit
       Künstler*innen aus mehr als 180 Ländern.
       
       ## Erfolgsgeschichte Karneval der Kulturen
       
       Als Publikumsmagnet war das Haus ursprünglich nicht gedacht. Eröffnet wurde
       es 1993 als „Begegnungsstätte für Deutsche und Ausländer“ in einer alten
       Brauerei am Volkspark Hasenheide. „Am Anfang gab es hauptsächlich
       Bildungsangebote wie Foto- und Tanzwerkstätten für Migrant*innen“, sagt
       Awad. „Doch das änderte sich schnell. Die Menschen waren mehr daran
       interessiert, Öffentlichkeit selbst zu gestalten, statt unterrichtet zu
       werden.“
       
       In der Folge suchte das Haus vermehrt den Kontakt zur
       Mehrheitsgesellschaft. Die größte Erfolgsgeschichte ist der Karneval der
       Kulturen, der 1996 als kleiner Umzug begann und heute – von einer privaten
       Firma ausgerichtet – jedes Pfingstwochenende rund eine Million
       Besucher*innen anzieht. Ein echter Wirtschaftsfaktor. Vor zehn Jahren
       war Awad Ko-Direktorin des Straßenfestes.
       
       Dessen Geschichte, so sagt sie, zeige den Kulturwandel, den die „Werkstatt“
       in der Kunstszene angestoßen habe: „Sie war das erste, und lange das
       einzige staatlich finanzierte Haus Berlins, das nicht-westliche und
       diasporische Musik- und Tanzformen ins Zentrum seiner Arbeit stellte, diese
       Kulturformen als wertvolle Kunst ernst nahm und nicht nur als reine
       Folklore inszenierte.“
       
       Heute sei das auch auf den großen Bühnen der Staatstheater üblich.
       Karneval-Programmhefte aus dem Archiv lassen die Entwicklung nachverfolgen:
       „Veraltete, pauschalisierende Begriffe wie ‚Orient‘ verschwanden mit der
       Zeit“, sagt Awad. „Auch wurden früher beispielsweise Latin- oder
       Tropical-Music-Gruppen mit Klischees wie ‚fröhlich‘ und ‚lebhaft‘
       angekündigt. Später wurden eher der Takt und andere Charakteristika
       spezifisch beschrieben.“
       
       ## Das Wort „Ausländer“ verschwindet
       
       Es war das Ergebnis langer, teils hitziger Debatten, die in den
       Sitzungsprotokollen des „Werkstatt“-Vorstands dokumentiert sind. Immer
       wieder stritten die beteiligten Migrantenvereine um die Deutungshoheit über
       die eigene Kultur und um die dazugehörigen Begriffe. In dem Archiv
       verschwindet dann auch das Wort „Ausländer“ in den Nullerjahren allmählich
       aus den Dokumenten, der Fokus verschiebt sich von der „Integration“ von
       Migrant*innen zum „Empowerment“ der zweiten und dritten
       Einwanderergeneration, also zu Selbstbestimmung und Autonomie.
       
       Das sorgte auch für Reibereien mit der Politik, etwa mit dem Bezirk
       Neukölln über die Frage, wie „allgemeinpolitisch“ die „Werkstatt“ auftreten
       dürfe. Das belegen Briefwechsel im Archiv. In der Nachbarschaft sorgte das
       Kulturzentrum für Unmut, als es Anfang der 2000er Jahre forderte, die
       Neuköllner Wissmannstraße umzubenennen, die einem deutschen
       Kolonialverbrecher gewidmet war. Viele Anwohner*innen waren gegen den
       Namenswechsel. 2022 [5][benannte der Bezirk die Straße schließlich nach der
       tansanischen Politikerin Lucy Lameck]. Die Position der „Werkstatt“ war
       mehrheitsfähig geworden.
       
       „Die ‚Werkstatt der Kulturen‘ hat es immer wieder geschafft, auch
       gegensätzlichen Ideologien und Erfahrungen Raum zu geben“, sagt die
       Forscherin Awad. Derzeit sind die Fronten jedoch verhärtet, der Senat und
       die aktuellen Betreiber*innen des „Kulturstandorts Lucy-Lameck-Straße“
       sind bitter verfeindet. Im August hat das Landgericht Berlin [6][die
       Räumung des Gebäudes zum Jahresende angeordnet]. „Sollte die Liegenschaft
       nicht geräumt werden, kann aus dem Urteil die Zwangsvollstreckung betrieben
       werden“, heißt es vom Senat. Die Zukunft des Hauses: ungewiss.
       
       Das Gleiche gilt für das Archiv. Awad ist froh, dass es überhaupt noch
       existiert. Als der Trägerverein der „Werkstatt der Kulturen“ 2020
       pleiteging und „Oyoun“ übernahm, retteten Aktivist*innen die Unterlagen
       vor dem Reißwolf des Insolvenzverwalters und brachten sie in den Keller des
       Vereins „Migrationsrat“, wo Awad sie im Januar fand.
       
       Am jetzigen Standort, dem Tieranatomischen Theater, können sie nicht
       bleiben. Zu groß ist die Angst, dass sich noch Pilzsporen in den Kisten
       befinden. Die könnten das denkmalgeschützte Gebäude angreifen. Deshalb wird
       das Archiv bald in einen alten Waschraum der Charité verfrachtet. Awad
       wünscht sich für die Dokumente einen trockenen Platz, am besten in einem
       Museumsdepot. In den kommenden Monaten will sie aber erst mal einen Teil
       digitalisieren. 500 Dokumente will sie im Internet zugänglich machen. Es
       ist ein Anfang. Kurz vor dem möglichen Ende einer Berliner Institution.
       
       Der Autor ist von Oktober bis Dezember 2024 als „Journalist in Residence“
       Gast am Käte Hamburger Kolleg „inherit. heritage in transformation“ an der
       Humboldt-Uni und hat im Rahmen des Programms eine Aufwandsentschädigung
       erhalten
       
       11 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Starzmann
       
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