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       # taz.de -- Retrospektive US-Künstlerin Laura Nyro: Ketten sprengen mit dreieinhalb Oktaven
       
       > Laura Nyro erkämpfte das Genre Singer-Songwriterin für Künstlerinnen. Die
       > opulente Retrospektive „Hear My Song“ zeigt, wie wichtig ihr Schaffen
       > ist.
       
   IMG Bild: Zeit für eine Wiederentdeckung: Laura Nyro (1947-1997)
       
       Sie war Singer-Songwriterin Nummer eins. Bevor Laura Nyro 1966 auf der
       Bildfläche erschien, gab es das Genre noch gar nicht. Es wurde erst von ihr
       in die Welt gehoben und definiert. [1][Es folgten: Joni Mitchell] (zwei
       Jahre später), Carole King (vier Jahre später). Judee Sill, Carly Simon,
       Phoebe Snow …
       
       Laura Nyro hat sich diese Bühne, diesen Arbeitsraum ertrotzt. In
       Rockzirkeln wurde sie oft missverstanden, mitunter gar angefeindet. 27
       Jahre nach ihrem frühen Tod 1997 nimmt die Auseinandersetzung mit ihrem
       Werk jetzt Fahrt auf, wird es von immer weiteren Kreisen langsam in seiner
       ganzen Größe wahrgenommen.
       
       Dazu passend erscheint mit „Hear My Song: The Collection 1966–1995“ fast
       ihr komplettes Werk in einer opulent ausgestatteten 19-Alben-Box. Laura
       Nyro wurde am 18. Oktober 1947 in New York als Laura Nigro geboren. Sie
       wuchs in der Bronx auf und „war kein fröhliches Kind“, wie sie sich später
       erinnerte.
       
       ## Klavierlernen im Selbststudium
       
       „Ich schuf mir meine eigene kleine Welt, eine Welt der Musik, seit ich fünf
       Jahre alt war“. Nyro brachte sich selbst das Klavierspiel bei und schulte
       ihren Musikgeschmack an Jazzplatten von [2][Nina Simone,] Judy Garland und
       Billie Holiday aus der Sammlung ihrer Mutter. Als Teenager begann sie mit
       Freunden Doo Wop auf Partys, an Straßenecken oder in U-Bahn-Stationen zu
       singen. Und sie begann zu komponieren: Ihren Song „Eli’s Coming“ spielte
       sie selbstbewusst ihrem Musiklehrer vor, um zu beweisen, dass
       zeitgenössische Popmusik nicht immer nur Mist sein muss.
       
       Es war schließlich ihr Vater, der ihre Karriere in Bewegung setzte. Weil
       als Jazztrompeter nicht so viel zu verdienen war, verdingte sich Louis
       Nigro immer wieder auch als Klavierstimmer. Einer seiner Kunden war der
       mittel erfolgreiche Impresario Artie Mogull, dem er so lange vom Talent
       seiner Tochter vorschwärmte, bis der Laura Nyro zu einem Vorspielen einlud.
       
       Die Aufnahmen der Audition wurden unter dem Titel „Go Find The Moon (The
       Audition Tapes)“ 2021 zum ersten Mal veröffentlicht und finden sich auch in
       der „Hear My Song“-Box: Man hört Mogull sie irgendwann etwas irritiert
       fragen: „Und du singst nur Eigenkompositionen?“ Und nachdem sie entschieden
       „Ja!“ geantwortet hat, fällt Laura Nyro ein, dass das karrieretechnisch
       vielleicht nicht die klügste Antwort war und versucht sich an
       Broadway-Klassikern wie „When Sunny Gets Blue“ und „Kansas City“, die sie
       gesanglich souverän meistert, bei denen sie allerdings die Piano-Begleitung
       nicht parat hat.
       
       ## Hinreißendes Vorspiel
       
       Was vielleicht dazu führt, dass sie auf ihrem Debütalbum, das aus dieser
       Audition entspringt, zu ihrem Kummer nicht selbst Klavier spielen darf. Es
       wurde im Januar 1967 unter dem beknackten Titel „More Than a New Discovery“
       veröffentlicht und ist dennoch eine hinreißende Produktion.
       
       Die zwölf Songs des Albums schlagen eine neue Seite im Buch der Popmusik
       auf. Knappe Porträts doofer Jungs („California Shoeshine Boys“) und
       verschlagener Mädchen („Lazy Susan“), dazu quasi ihr Themensong „And When I
       Die“, in dem sie singt: „Give me my freedom / For as long as I live / All I
       ask of living / Is to have no chains on me“.
       
       Musikalisch ist das eine Art weiterentwickelter sophisticated
       Sixties-Girl-Pop, in dem eine Menge Jazz, Blues, Gospel und Broadway
       steckt. Das Ganze gesungen von ihrer mächtigen Dreieinhalb-Oktaven-Stimme,
       über die die britische Musikjournalistin Lilian Roxon in ihrer „Rock
       Encyclopedia“ 1969 schrieb: Laura Nyro „ist eine 20-jährige weiße New
       Yorkerin, die singt wie eine 55-jährige Schwarze aus Mississippi.“
       
       ## Mit der Kraft aller Altersgruppen
       
       „Nyro schlug zu mit der Kraft aller Altersgruppen auf einmal“, schreibt
       [3][auch die britische Musikerin und Autorin Vivien Goldman in den
       Linernotes] zu „Hear My Song“: „Sie verzauberte ihr Publikum mit der Anmut
       eines jungen Mädchens und der Weisheit einer Prophetin.“
       
       Das Debütalbum war aber nur eine Vorstufe. Nyro nutzte den Ruhm und die
       Erfahrung, um danach eine Trilogie von Alben zu veröffentlichen, die
       eigentlich den Kern ihrer Kunst enthalten: „Eli and the Thirteenth
       Confession“ (1968), „New York Tendaberry“ (1969) und „Christmas and the
       Beads of Sweat“ (1970).
       
       Hier tritt die charmante Mädchenhaftigkeit des Debüts immer mehr in den
       Hintergrund, es wird düsterer und vor allem dramatischer. Die Songs sind
       Miniopern voller unerwarteter Tempo- und Tonartwechsel, kunstvoll
       durchkomponiert und -arrangiert. Danach nahm sie sich erst mal eine
       Auszeit.
       
       ## Viel gecovert, mit Erfolg
       
       Laura Nyro hatte nie einen Hit. Ihre erfolgreichste Single war
       ironischerweise eine ihrer wenigen Coverversionen: Mit dem Carole-King-Song
       „Up on the Roof“ landete sie 1970 immerhin auf Platz 92 der „Billboard Hot
       100“. Dafür brachten eine Reihe anderer Künstler*innen ihre Songs in die
       Charts.
       
       Das Pop-Gesangsquintett The Fifth Dimension coverte mehrere Songs von ihren
       ersten beiden Alben, kam mit „Stoned Soul Picnic“ bis auf Nummer drei der
       Hot 100 und mit dem „Wedding Bell Blues“ sogar auf die Spitzenposition,
       Three Dog Night hievten „Eli’s Coming“ mit virilem Gebrüll in die Top 10,
       Grönemeyer-Vorbild David Clayton-Thomas knödelte „And When I Die“ mit
       seiner Band Blood, Sweat & Tears auf Nummer zwei, während es Barbra
       Streisand mit „Stoney End“ auf Platz 6 schaffte.
       
       Auch wenn alle diese Aufnahmen im Vergleich mit den Originalen gezähmt und
       banalisiert klangen, war Laura Nyro auf einen Schlag eine der
       erfolgreichsten Songschreiberinnen der späten 1960er Jahre.
       
       ## Nicht nachschrubbar auf der Wandergitarre
       
       Allerdings ließen sich ihre Songs nicht wie etwa die meisten Dylan- und
       auch viele Beatles-Songs schnell auf der Wandergitarre nachschrubben,
       sondern man benötigte schon eine gewisse musikalische Kompetenz, die über
       das Rock-Abc hinausging, und am besten auch eine größere Besetzung.
       
       In der zu jener Zeit hegemonialen Hippie- und Rock-Szene führte das
       allerdings auch zu einer gewissen Reserviertheit, einem Misstrauen: Für
       relaxte Spontaneität und bekiffte Improvisation war in Laura Nyros
       Musikwelt schließlich kein Platz.
       
       Ihre Spätwerke hatten nicht mehr die manische Intensität und weniger von
       der Exzentrik ihrer Frühzeit. Sie war nun eine reife, nachdenkliche
       Singer-Songwriterin, die kunstvolle Jazz-Pop-Miniaturen schrieb. Ihre
       Songtexte waren weniger persönlich, dafür stärker politisch: „Meine Mutter
       und meine Großmutter waren progressive Denkerinnen“, kommentierte sie
       selbst. „Ich fühlte mich immer zu Hause in der Friedensbewegung und in der
       Frauenbewegung.“
       
       Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss, den Laura Nyro auf andere
       Musiker*innen hatte und immer noch hat. [4][Todd Rundgren erzählt,]
       dass er, als er Nyro und ihre Musik kennenlernte, aufhörte zu versuchen,
       Songs im Stile von The Who zu komponieren, und zu versuchen begann, Songs
       wie Laura Nyro zu schreiben. [5][Nyros Singer-Songwriter-Kollegin Rickie
       Lee Jones gesteht]: „In dem Moment, in dem ich mich in Lauras Musik
       verliebte, fing ich an, mich selbst etwas mehr zu lieben.“
       
       Laura Nyros Einfluss ist unüberhörbar in der Musik von Kate Bush, Suzanne
       Vega, Fiona Apple, Holly Cole, Joanna Newsom, St. Vincent, [6][Weyes
       Blood] und vielen anderen zeitgenössischen Künstlerinnen. Und auch ein Sir
       Elton John verrät im Booklet: „Sie hatte so einen großen Einfluss auf mein
       Songwriting in den frühen 1970ern […] Ich verdanke ihr sehr viel.“
       
       6 Dec 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
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