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       # taz.de -- NGO über den Machtwechsel in Syrien: „Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
       
       > Viele Syrer*innen wollen abwarten, wie es nun weitergeht, sagt Svenja
       > Borgschulte von Adopt a Revolution. Abschiebungen seien daher kein Thema.
       
   IMG Bild: Glücksmomente: Menschen in Damaskus feiern am Sonntag den Sturz des syrischen Regimes
       
       taz: Frau Borgschulte, was für ein Tag. 
       
       Svenja Borgschulte: Was für ein Tag und was für eine Woche. Unser ganzes
       Team hat in den letzten Nächten kaum geschlafen. Wir waren 24 Stunden am
       Tag mit unseren Partner*innen in allen Teilen Syriens in Kontakt. Jetzt
       ist die Freude riesig.
       
       taz: Was hören Sie aus Syrien? 
       
       Borgschulte: Viele unserer Partner*innen waren vom Assad-Regime aus
       ihren Landesteilen vertrieben worden. Manche konnten jetzt schon
       zurückkehren. Andere haben sehnsüchtig darauf gewartet, dass auch Damaskus
       endlich fällt und sie dorthin können. Alle wollen los. Es breitet sich
       gerade eine Explosion von Gefühlen aus, auch bei uns selber. Wir arbeiten
       seit [1][2011] sehr eng mit unseren Partner*innen in Syrien zusammen,
       haben viele Bombardements und viel Leid erlebt. Jetzt sehen wir diese
       Erleichterung, hören von geöffneten Gefängnissen und Menschen, die ihre
       Familien wieder in den Arm nehmen können. Das ist sehr, sehr, sehr
       bewegend.
       
       taz: Hätte vor zwei Wochen irgendjemand bei Ihnen das alles für möglich
       gehalten?
       
       Borgschulte: Nein, ganz ehrlich nein. Als die Offensive startete, gingen
       wir davon aus, dass im Nordwesten die Grenzen von 2020 zurückgeholt werden
       – also ein relativ kleiner Bereich. Wenn mir vor zehn Tagen jemand gesagt
       hätte, dass das Regime noch vor Weihnachten fällt, hätte ich gelacht.
       
       taz: Was macht [2][Adopt a Revolution] jetzt, da die Revolution nach 14
       Jahren ihr größtes Ziel erreicht hat? 
       
       Borgschulte: Unsere Arbeit ist nicht getan, sondern geht erst richtig los.
       Als Korrektiv für die Islamisten, die erst mal die Kontrolle übernommen
       haben, braucht es gerade jetzt eine starke syrische Zivilgesellschaft. Es
       ist auch wichtig, dass alle Minderheiten inkludiert werden und die
       Frauenrechte nicht wieder hinten runterfallen. Im Kleinen haben sich unsere
       Partner*innen schon in den letzten Jahren genau darum gekümmert. Sie
       haben Frauenzentren betrieben, Minderheiten zusammengebracht und gegen
       Extremismus gearbeitet. Wir unterstützen das weiterhin, damit am Ende
       wirklich das herauskommt, was die Revolution von Tag eins an wollte: ein
       demokratisches, liberales und säkulares Syrien.
       
       taz: Was heißt das konkret für Ihre Arbeit der nächsten Wochen? 
       
       Borgschulte: Das findet sich jetzt erst. Wir unterstützen zum Beispiel ein
       Frauenzentrum, das ursprünglich in Damaskus betrieben wurde und später nach
       Idlib verlegt werden musste. Jetzt ist die Frage, ob sie in Damaskus
       weitermachen oder ob sie künftig zwei Standorte haben, an denen sie für
       Frauenrechte streiten und sich in die Politik einmischen. Aber auch an der
       Nothilfe werden wir dranbleiben. Es sind sehr viele Binnenvertriebene im
       Land und nicht alle können zurückkehren. Viele Orte sind zerstört – gar
       nicht mal nur durch Kriegshandlungen, sondern auch, weil Assads Soldaten so
       schlecht bezahlt wurden, dass sie aus den Häusern alles herausgerissen und
       verkauft haben: die Rohre, die Kabel und sogar die Stahlträger.
       
       taz: Was erwarten Sie nun von der Bundesregierung und der europäischen
       Politik? 
       
       Borgschulte: Erstens muss sofort Druck auf die Türkei ausgeübt werden, dass
       keine Angriffe auf die Kurden im Nordosten oder sonst wo im Land
       stattfinden. Syrien muss für alle sicher werden. Zweitens müssen wir bei
       der innersyrischen Aufarbeitung helfen. Man muss den Leuten zuhören, die in
       den Folterknästen saßen, und versuchen, die Verbrechen aufzuklären. Falls
       Assad tatsächlich in Russland ist, wird man ihn selbst zwar nicht so leicht
       vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen können, aber es gibt ja
       noch viele andere Akteure. Punkt drei ist eben der Aufbau eines neuen
       Staates. Es ist total klar, dass das syrische Volk das Sagen hat. Trotzdem
       kann man die zivilen, säkularen Kräfte unterstützen.
       
       taz: Sie haben die Politik des Westens immer dafür kritisiert, die syrische
       Bevölkerung alleingelassen zu haben. Aber geht der Sturz des Regimes jetzt
       nicht auch auf den Westen zurück, weil er Assad nicht rehabilitierte und
       Sanktionen aufrechterhielt?
       
       Borgschulte: Bei aller Freude über den Sturz des Regimes: Das Leid hätte
       viel früher beendet werden müssen. Einen Diktator zu sanktionieren und den
       Botschafter des Landes zu verweisen, ist keine großartige Tat, die
       irgendwem in Syrien geholfen hätte. Und tatsächlich wurde in den letzten
       Monaten eher darauf hingearbeitet, das Regime zu normalisieren. Es wurden
       Abschiebungen forciert und es wurde von sicheren Gebieten gesprochen. Der
       Westen hat viel Blut an seinen Händen. Den Sturz des Regimes hat das
       syrische Volk jetzt selber geschafft.
       
       taz: Innenpolitisch wird nach Assads Ende wohl eine neue
       [3][Abschiebe-Debatte] starten. 
       
       Borgschulte: Sie ist ja schon lange im Gange. Aber ganz ehrlich: Wir wissen
       nicht, was nach dem Diktator kommt. Deshalb können Abschiebungen jetzt
       einfach kein Thema sein.
       
       taz: Von wie vielen Syrer*innen hören Sie, dass sie gerne aus
       Deutschland zurückkehren würden? 
       
       Borgschulte: Es ist geteilt. Viele wollen hinreisen, ihre Familie und ihre
       Heimat wiedersehen. Die große Fluchtbewegung von 2014 und 2015 ist jetzt
       aber auch schon neun Jahre her. Die Menschen sind in Deutschland
       angekommen, haben sich ein neues Leben aufgebaut und Familien gegründet.
       Natürlich gibt es einige, die zurückwollen. Aber auch da gilt: Ganz konkret
       machen sich die Menschen erst Gedanken darüber, wenn klar ist, wo in Syrien
       alles hinführt.
       
       9 Dec 2024
       
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