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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Mit dem Stift die Zukunft gestalten
       
       > Zeichnen ist politisch, sagt Chiara Jacobs. In Buchprojekten erzählt sie
       > vom Schicksal der Verfolgten und Ignorierten, damit man sie nicht
       > vergisst.
       
   IMG Bild: Chiara Jacobs in ihrer Einzimmerwohnung in Berlin-Schöneberg
       
       Sie ist jung und sie möchte mit ihren Comics junge Menschen erreichen: In
       der Graphic Novel „Über Leben“ erzählt sie die Geschichte zweier Berliner
       Schwestern, die den Holocaust überlebten.
       
       Draußen: Eine Szenestraße in Berlin-Schöneberg, im sogenannten
       Regenbogenkiez. „Love, love, love“ steht in bunter Schrift an vielen
       Wänden. Die Regenbogenflagge ist allgegenwärtig, dazu Currywurst und
       Kitsch, Buchhandlungen und Mode, vor allem für schwule Männer. Das Haus, in
       dem Chiara Jacobs wohnt, fällt durch seine Straßenfassade mit roten
       Ziegeln, hellem Putz und schmiedeeisernen Balkonen auf. „Bildhauer. Maler.
       Schlosser. Tischler“ sowie die Baujahre „1871–1894“ sind darauf zu lesen.
       Über dem mittigen Erker prangt das Berliner Stadtwappen.
       
       Drinnen: Die Einzimmerwohnung wirkt wie ein Loft – Altbau, quadratisch, mit
       hohen Decken. Küche und Bad sind hinter Schranktüren versteckt. In der
       Mitte ein Bett mit dunkelrotem Bezug. „So schön“, sagen viele, die Chiara
       Jacobs besuchen. Und „so viel zu gucken“. Sie meinen, zum Beispiel, die
       Wand an ihrem Arbeitsplatz, voller Familienfotos, Kunstdrucke und
       Postkarten. Daneben ihre wichtigsten Regale mit Grafik-Design-Büchern,
       Comics, ihre Zeichenhefte und Tagebücher. Aus dem Plattenspieler erklingen
       weibliche Stimmen, es duftet nach Kaffee und Kerzen. Jacobs mag es
       gemütlich, Geborgenheit ist ihr wichtig. „In meiner ersten Nacht hier
       fühlte ich mich in diesem großen Raum verloren“, erzählt sie.
       
       Fasziniert: In Hamburg geboren, zog Chiara Jacobs als Kind mit ihrer
       Familie nach Stade. Vor vier Jahren kam sie nach Berlin, in diese Wohnung,
       die erste, die sie alleine bewohnt. Als Jugendliche hatte sie ihre
       Patentante in Berlin besucht und war sofort von der Stadt fasziniert. Dank
       einer Freundin der Lieblingstante fand sie die Wohnung in Schöneberg. Kurz
       darauf erfuhr sie, dass sie einen Ausbildungsplatz für Grafikdesign um die
       Ecke bekommen hatte. „Alles passte plötzlich zusammen.“
       
       Bodenständig: An ihrem Arbeitstisch am Fenster kommt Chiara Jacobs momentan
       seltener als sonst zum Zeichnen. Derzeit schreibt sie vor allem
       Bewerbungen. Sie ist auf Jobsuche und hält sich mit einigen Designaufträgen
       über Wasser. Dass sie auch Grafikdesignerin geworden ist, hat ihre Eltern
       beruhigt: „Sie lieben es, [1][dass ich illustriere], aber sie haben sich
       gefreut, dass ich etwas Bodenständigeres mache.“ Ihre Mutter arbeitet als
       Paartherapeutin, ihr Vater zeichnet Stadtpläne – vielleicht komme ihre
       Leidenschaft daher.
       
       Sichtbar: Schon in ihren ersten Erinnerungen sieht sie sich mit dem
       Bleistift in der Hand. Stundenlang habe sie mit Zeichnen verbracht. Später,
       in der Schulzeit, sei das ihre Rettung gewesen. Durch das Zeichnen habe sie
       sich nicht komplett isoliert gefühlt. „Ich war ein schüchternes Kind und
       habe mich nicht getraut, Leute anzusprechen“, erzählt sie. „Aber wegen
       meiner Zeichnungen haben mich die anderen angesprochen. Das hat mich
       sichtbar gemacht.“
       
       Musikalisch: Auch Musik half ihr, extrovertierter zu werden. „Das ist meine
       zweite Ausdrucksform“, sagt sie. Chiara Jacobs spielt Ukulele und Gitarre,
       komponiert, tritt unter dem Namen „Manolin“ auf, macht Musikvideos. Deshalb
       habe sie sich umso mehr gefreut, als sie vor einem Jahr das Buch „[2][250
       Komponistinnen“] mit illustrieren durfte. Das Buch von Arno Lücker
       versammelt kurze Biografien vergessener Frauen der klassischen Musik. Es
       war ein Wettbewerb in ihrer Klasse, und sie wurde ausgesucht. „Da ich die
       Möglichkeit hatte, 20 Komponistinnen selbst auszuwählen, konzentrierte ich
       mich darauf, queere Frauen und Women of Color in den Mittelpunkt zu
       rücken“, sagt sie.
       
       Politisch: Dass ihre Leidenschaft einmal ihr Beruf werden könnte, hat sich
       Chiara Jacobs als Kind nicht vorstellen können. Ebenso wenig, dass sie ihre
       Kunst nutzen würde, um politische Themen, die ihr am Herzen liegen, der
       Welt näherzubringen. „Ich möchte mein Handwerk nach außen tragen und etwas
       damit bewirken“, sagt sie. „Wie können wir Geschichte weitererzählen, die
       nicht vergessen werden sollte?“
       
       Exemplarisch: In der kurzen Graphic Novel „Über Leben“ erzählt Jacobs die
       Biografie der jüdischen Schwestern Doris und Gerda Bloch, die während der
       Zeit des Nationalsozialismus in Berlin wohnten und den Holocaust
       überlebten, indem sie in die Niederlande und später in die USA flohen.
       Diese Geschichte ist eine von vielen, die in der Dauerausstellung „[3][Wir
       waren Nachbarn] – Biografien jüdischer Zeitzeugen“ im Rathaus Schöneberg in
       Berlin gezeigt werden.
       
       Jung: Vor einem Jahr suchte Chiara Jacobs noch nach einem Thema für ihre
       Abschlussarbeit. Als sie von der Ausstellung hörte, war sie sofort
       begeistert. Die Geschichte der Schwestern berührte sie. „Ich konnte mich in
       diese Mädchen hineinversetzen, die Todesangst hatten und mitten in der
       Nacht fliehen mussten, auch wenn ich das nie erleben musste“, sagt sie.
       „Mit den Schwestern kann man sich als junge Person identifizieren. Sie
       waren auch jung, als das geschah. Sie wollten leben.“
       
       Inspiriert: Um das Leben der Schwestern Bloch zu erzählen, erhielt die
       Illustratorin Bilder und Briefe der beiden von der Ausstellungsleiterin.
       Sie war in der Schule, die Doris und Gerda besucht hatten, und auch da, wo
       einst ihr Haus in der Hauptstraße stand. Jacobs las viele Bücher zum Thema
       Holocaust, darunter den klassischen Comic [4][„Maus“] von Art Spiegelman,
       aber auch [5][Anne Franks Tagebücher], die ebenfalls als Graphic Novel
       existieren. „Es sollte nicht zu düster werden, aber auch nicht zu
       comichaft“, sagt sie. Für das zehnseitige Projekt hatte sie sechs Monate
       Zeit – es sei eine Herausforderung gewesen.
       
       Optimistisch: Was Chiara Jacobs an der Geschichte der Schwestern besonders
       ansprach, war, dass sie ein wenig Optimismus vermittelt. Im Gegensatz zu
       vielen anderen Schicksalen aus der NS-Zeit überlebten sie und konnten
       später ihre Erinnerungen weitergeben, damit das, was geschehen ist, nicht
       vergessen wird. „Was mich noch beeindruckte, war die Solidarität der
       Menschen, die den Schwestern geholfen haben und ihr eigenes Leben dabei
       riskierten, nach dem Motto ‚Wir lassen euch nicht hängen‘“, sagt Jacobs.
       „Das hat mich berührt.“
       
       Solidarisch: Ähnliche Biografien gab es in Chiara Jacobs Familie nicht. Es
       werde nicht viel darüber gesprochen, aber sie glaubt nicht, dass ihre
       Familie damals solidarisch war – ihre noch lebende Oma war zu jener Zeit
       ein Baby, und ein Teil der Familie war beim Militär. Sie hält es für
       notwendig, transparent mit dieser Vergangenheit umzugehen. „Besonders
       heutzutage“, sagt sie.
       
       Beängstigend: Chiara Jacobs findet die aktuelle politische Entwicklung
       „gruselig“, vor allem, dass viele junge Menschen über Tiktok oder andere
       soziale Medien von der AfD beeinflusst werden. Sie ist überzeugt, dass
       Comics ein gutes Medium sind, um junge Menschen zu erreichen und rechtem
       Gedankengut etwas entgegenzusetzen.
       
       Aktivistisch: Mit 16 Jahren begann Chiara Jacobs, bei Konzerten und
       Veranstaltungen Geld für gute Zwecke zu sammeln. 2019 gründete sie die
       „Fridays for Future“-Gruppe in Stade mit, organisierte Demos und führte
       Gespräche mit lokalen Politiker*innen. „Ich hatte viel Energie“, sagt sie.
       Heute ist Jacobs der Meinung, dass es nicht ausreicht, nur auf Demos zu
       gehen. Sie möchte „tiefergehender aktiv werden“, etwa mit ihrer Graphic
       Novel.
       
       Persönlich: Für „Über Leben“ ist sie auf der Suche nach einem Verlag. Am
       liebsten hätte sie es, wenn ihr Buch als Unterrichtsmaterial genutzt würde.
       Das wäre im Sinne der Schwestern Bloch, die ihre Geschichte auch an
       Schüler*innen weitergaben, glaubt sie. Sie würde gerne mit „Über Leben“
       direkt mit Jugendlichen ins Gespräch kommen und so persönliche Verbindungen
       zu Schicksalen wie dem der Schwestern schaffen.
       
       Glücklich: Für Chiara Jacobs bedeutet Glück, sich mit Menschen wohlzufühlen
       – vor allem mit Freund*innen. „Wenn ich weder zu leise noch zu laut sein
       muss und einfach so sein darf, wie ich bin, ohne mich anpassen zu müssen,
       dann ist das perfekt.“
       
       21 Feb 2025
       
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