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       # taz.de -- Fortschrittsinfluencer über Zuversicht: „Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“
       
       > Angus Hervey sendet 40 gute Meldungen mit dem Newsletter „Fix The News“.
       > Linke und Umweltschützer müssten mehr von Effizienz und Fortschritt
       > reden.
       
   IMG Bild: Malaria-Impfung in Tomali, Malawi, Dezember 2019: 50 Jahre lang hat die Welt auf den Impfstoff gewartet. Jetzt haben wir einen
       
       Die schlechten Nachrichten in diesem Jahr häuften sich. Optimismus, so hieß
       es lange gern im Scherz, sei nur ein Mangel an Information. Mit Blick auf
       das Klima etwa erscheint das Vielen heute geradezu unbestreitbar. Die
       Zukunft erscheint vielen bedrohlich, manche erwarten gar den Kollaps. Doch
       es gibt Menschen, bei denen ist es umgekehrt: Sie weisen auf empirische
       Entwicklungen hin, die menschlichen Fortschritt zeigen und Gründe zur
       Zuversicht geben. [1][In einem Text für die wochentaz] hat taz-Redakteur
       Christian Jakob beschrieben, was sie dem oft fatalistischen Zeitgeist
       entgegenhalten. Zusätzlich veröffentlichen wir diese Interviewreihe, in der
       wir ausführlich mit den Protagonisten dieses Textes, dem
       Fortschrittsinfluencer Angus Hervey, dem Ökonomen [2][Max Roser] und dem
       Journalisten [3][Ullrich Fichtner], darüber sprechen, ob der bisherige
       menschliche Fortschritt auch all die neuen Krisen übersteht.
       
       taz: Herr Hervey, Sie sagen, dass die Medien dabei versagen, uns die
       Wahrheit über die Welt zu berichten. Warum? 
       
       Angus Hervey: Sie berichten überwiegend von Dingen, die schief laufen. Was
       gut läuft bekommt einen viel geringeren Anteil an unserer Aufmerksamkeit.
       Und das Verhältnis ist ungefähr – und ich übertreibe hier nicht – 1.000 zu
       1.
       
       taz: Es ist die Aufgabe der Medien, auf Risiken und Fehlentwicklungen
       hinzuweisen. Das soll politischen und öffentlichen Druck auslösen, um eine
       Gesellschaft zur Korrektur zu befähigen. 
       
       Hervey: Da ist etwas Wahres dran. Die ursprüngliche Aufgabe des
       Journalismus war, in die dunklen Ecken zu leuchten. Aber die meisten
       Menschen, glauben, dass die Medien ihnen ein genaues Abbild vermitteln, was
       in der Welt vor sich geht. Aber die Nachrichten erzählen nur einen sehr,
       sehr kleinen Teil dessen, was in der Welt passiert. Sie teilen nicht mit,
       [4][was in der Welt richtig läuft.] Sie wollen provozieren, um
       Aufmerksamkeit zu erregen, um Licht in die dunklen Ecken zu bringen. Das
       Ergebnis ist eine völlig verzerrte Wahrnehmung.
       
       taz: Warum, glauben Sie, ist das so? 
       
       Hervey: Es gibt kommerzielle Gründe. ‚When it bleeds it leads‘, heißt es.
       Blutige Schlagzeilen werden geklickt. Das gilt nicht nur für
       Boulevardmedien. Es ist eine starke evolutionäre Wahrheit, die im Herzen
       des modernen Medienökosystems liegt. Soziale Medien haben dieses Problem
       beschleunigt. Für eine Studie werteten Forscher 47 Millionen Schlagzeilen
       in vorwiegend englischsprachigen Zeitungen zwischen 2000 und 2019 aus.
       Schlagzeilen, die negative Emotionen wie Angst, Wut oder Ekel ausdrücken,
       nahmen in dieser Zeit um das Dreifache zu. Schlagzeilen, die positive
       Gefühle wie Freude, Fortschritt oder Verbundenheit ausdrücken, gingen um
       etwa die Hälfte zurück. Wir haben also heute sechsmal mehr negative
       Schlagzeilen als noch vor 20 Jahren.
       
       taz: Wie ist das passiert? 
       
       Hervey: Diese Beschleunigung entstand, als um 2009/2010 die
       Social-Media-Plattformen den chronologischen Feed der Nachrichten durch
       algorithmische Sortierung ersetzten. Was am häufigsten angeklickt wird,
       steht seither oben im Newsfeed. Das war der Beginn einer wahren Explosion
       von Negativität und Angst in den Medien.
       
       taz: Welche Folgen hat das? 
       
       Hervey: Dieses Problem ist heute schlimmer als je zuvor zu meinen
       Lebzeiten. Es ist wie bei einem Kind, das aus der Schule ein Zeugnis mit
       guten und schlechten Noten bringt. Die Medien sind wie Eltern, die nur auf
       die schlechten Noten zeigen. Wir zeigen immer nur auf die Fünfen, nie auf
       die Einsen oder Zweien, die die Menschheit schafft. Wenn wir so auf das
       Zeugnis schauen, bekommen wir kein genaues Bild davon, wie die Welt
       vorankommt. Die Einsen oder Zweien sind unsichtbar. 99 Prozent der Menschen
       auf diesem Planeten sind sich der Fortschritte, die die Menschheit macht,
       überhaupt nicht bewusst. Diese Voreingenommenheit für schlechte Nachrichten
       führt dazu, dass die meisten gebildeten, medienkonsumierenden Menschen ein
       völlig verzerrtes Bild von den Geschehnissen haben.
       
       taz: Ihr [5][Newsletter „Fix the News“] handelt von den Einsen und Zweien,
       um in Ihrem Bild zu bleiben. Welche Reaktionen bekommen Sie darauf? 
       
       Hervey: Viele Menschen reagieren sehr emotional und sehr intuitiv auf gute
       Nachrichten, weil es so wenig davon gibt. Wir bekommen Hunderte von E-Mails
       und Brief: ‚Oh mein Gott, ich danke Ihnen.‘ ‚Ich hatte keine Ahnung, dass
       so etwas passiert.‘ ‚Sie haben meine geistige Gesundheit gerettet.‘ ‚Wir
       verwenden diese Inhalte in den Schulen.‘ ‚Das ist mein einziger Lichtblick
       im Wahnsinn der Negativität.‘
       
       taz: Es ist beliebt, Medien eine Mitschuld daran zu geben, dass man an der
       Welt verzweifeln. Tatsächlich klicken Menschen aber mit großer Vorliebe auf
       die schlimmen Nachrichten. 
       
       Hervey: Wir wurden darauf trainiert, diese Art von Nachrichten zu
       konsumieren. Und Journalisten sind sehr gut darin geworden, über diese Art
       von Geschichten zu berichten. Das fällt ihnen leicht. Jede Journalisten
       Generation kopiert, was vor ihr war. Und es gibt eine lange
       Kulturgeschichte von Berichten über Schlimmes, Beängstigendes. Tod,
       Katastrophe und Spaltung – das sind die drei Hauptkategorien von
       Nachrichten.
       
       taz: Es gibt heute [6][Konstruktivem Journalismus]. Ist der besser? 
       
       Hervey: Der ist leider ebenfalls schrecklich. Wer „gute Nachrichten“
       googelt, findet Geschichten über Kaninchen, die gerettet werden, oder über
       eine Gemeinde, die einer Oma Geld spendet. Es sind meist kleine, alberne
       Sachen. Fernsehsender bringen Nachrichtenbeiträge, die ganze Welt bricht
       darin zusammen. Und am Ende sagen sie: „Hier ist eine gute Nachricht für
       Sie: ein Hund auf einem Surfbrett.“ Das trägt kaum dazu bei, dass sich die
       Menschen in der Welt besser fühlen. Und es vermittelt ihnen auch kein
       genaueres Bild. Sie fühlen sich schlechter, weil sie denken: „20
       Geschichten darüber, wie die Welt zusammenbricht, und die einzige
       Geschichte über Fortschritt, die sie finden konnten, ist ein Hund auf einem
       Surfbrett.“ Das ist die eine der beiden schlechten Arten, heute gute
       Nachrichten zu verbreiten.
       
       taz: Und die andere? 
       
       Hervey: Die andere Art wird uns [7][in Form von Daten] präsentiert. Viele
       glauben, dass wir den Menschen nur Beweise für Dinge liefern müssen. Wir
       müssen sagen, dass Millionen von Menschen aus der Armut befreit wurden oder
       dass die Zahl der Aids-Toten zurückgeht oder was auch immer. Wenn Menschen
       diese Daten ansehen, dann werden sie verstehen, dass die Welt nicht so
       schlecht ist, wie sie denken. Aber die meisten Menschen erschließen sich
       die Welt nicht durch Daten, sondern durch Erzählungen. Aber es gibt kaum
       Reporter, die versuchen, fesselnde, dramatische, erzählerisch interessante
       Geschichten über etwas zu schreiben, das in der Welt richtig läuft.
       
       taz: Doch, die gibt’s … 
       
       Hervey: … kaum. Ein klassisches Beispiel dafür ist [8][der
       Malaria-Impfstoff. 50 Jahre lang hat die Welt darauf gewartet]. Jetzt haben
       wir einen. Das ist erstaunlich. Und es ist eine sehr interessante
       Geschichte über wissenschaftliche Entdeckungen, über Korruption, geheime
       Absprachen in den Korridoren der Macht. Es ließe sich eine wirklich tolle,
       dramatische, interessante Geschichte darüber erzählen: Es gibt politische
       Vorgänge im Hintergrund, unerschrockene Abenteurer, Gruppen, die
       gegeneinander kämpfen. Der springende Punkt an der Story ist, dass es um
       die Chance geht, Abermillionen von Leben zu retten. Aber leider sind
       Journalisten nicht dafür ausgebildet, diese Art von Geschichten aufzuspüren
       und zu erzählen.
       
       taz: In der Medienbranche gilt es als völlig legitim, die Dinge ein wenig
       zuzuspitzen, etwas zu übertreiben, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ist das
       ein Problem in einem Umfeld, in dem die Krisen sich überlagern und die
       Realität schlimmer geworden ist? 
       
       Hervey: Die uralte Praxis der Sensationsgier. Das ist wie ein Junge, der
       dauend schreit, dass ein Wolf kommt. Wenn er wirklich da ist, glaubt ihm
       keiner mehr und er wird gefressen. Jetzt also, wo wir wirklich in einer
       Krise stecken, schreiben die Medien weiter sensationalistisch – meinen Sie
       das?
       
       taz: Genau. 
       
       Hervey: Ich glaube nicht, dass die Medien zu sensationslüstern sind. Ich
       würde sagen, in den englischsprachigen Medien ist es fast umgekehrt: Den
       Leute sind die alten Medien nicht sensationslüstern genug. Sie machen die
       Inhalte nicht interessant genug, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu
       erregen.
       
       taz: Das ist ein origineller Befund. 
       
       Hervey: Aber deshalb haben die sozialen Medien und neue Medienformen wie
       Podcasts oder YouTube oder Streaming so großen Erfolg und können so viel
       Aufmerksamkeit erregen.
       
       taz: Ein Beispiel: 2023 gab es eine Studie, laut der sich die Weltmeere
       seit der Jahrtausendwende um rund 0,075 Grad erwärmt haben. [9][Die
       Schlagzeile dazu lautete: „3,6 Milliarden Atombomben ins Meer“]. Man hatte
       die zusätzliche Wärmeenergie beziffert und in Äquivalente von
       Hiroshima-Bomben umgerechnet. Die Leugner der Klimakrise bestärken solche
       Schlagzeilen und jene, die an Klimaangst leiden, versetzt sowas in Panik. 
       
       Hervey: Das ist extrem schädlich. Und das zieht sich durch unsere gesamte
       Klimaberichterstattung. Die war wirklich schrecklich ungenau.
       Wissenschaftler warnen seit 30 Jahren, ohne dass etwas passiert ist. Jetzt
       haben wir Wissenschaftler und Journalisten, die immer weiter eskalieren, um
       zu versuchen, die Aufmerksamkeit zu gewinnen.
       
       taz: Bringt das etwas? 
       
       Hervey: Nein. Studien zum Medienkonsum zeigen, dass das Schreien und die
       beängstigenden Schlagzeilen über die globale Erwärmung, die die Welt
       zerstören wird, sehr gut dazu sind, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu
       erregen. Die meisten Menschen wissen jetzt, dass es so etwas gibt.
       
       taz: Es wirkt nicht so. 
       
       Hervey: Nein, denn auf einer Liste von 10 Dingen, die man tun kann, um die
       Menschen zum Handeln zu bewegen, steht die Angstmacherei auf Platz 9 oder
       10.
       
       taz: 10 ist dabei das Schlimmste? 
       
       Hervey: Ja, 10 ist das Schlimmste. Es ist also ganz unten auf der Liste.
       Eine beängstigende Schlagzeile erregt Aufmerksamkeit, bewegt aber nicht zum
       Handeln und ändert keine Überzeugungen. Die heutige Situation ist das
       Ergebnis von 50 Jahren Untätigkeit. Und Wissenschaftler und Journalisten
       denken, dass sie nun lauter schreien müssen, damit die Leute endlich
       zuhören. Und hinzu kommt noch der „Bad News Bias“
       
       taz: Was ist das? 
       
       Hervey: Damit sind algorithmisch gesteuerte Medien gemeint, deren Erfolg
       nach der Anzahl der Klicks beurteilt wird. Wenn also der Guardian oder der
       Spiegel oder CNN Schlagzeilen textet, dann machen sie nicht eine, sondern
       mindestens zwei. Dann testen sie parallel, welche die meisten Klicks
       bekommt. Die Schlagzeile bleibt dann stehen. Wenn Sie nun eine Schlagzeile
       haben, die besagt, dass die Wahrscheinlichkeit 0,1 Prozent beträgt, dass
       der Golfstrom in den nächsten 100 Jahren zusammenbricht, dann wird die
       nicht so oft angeklickt wie eine Schlagzeile, die sagt, dass wir dann alle
       erfrieren würden. Viele dieser sensationslüsternen Schlagzeilen werden von
       algorithmischen Medien gesteuert.
       
       taz: Die neuen Erkenntnisse sind objektiv besorgniserregend. 
       
       Hervey: Sie sind beängstigend, aber nicht so, wie die meisten in der
       Öffentlichkeit glauben. Als wir 2015 das Pariser Abkommen schufen, war die
       Welt auf dem Weg zu einer Erwärmung von etwa plus 4,5 Grad Celsius bis zum
       Jahr 2100. Aber durch den raschen Zubau von Einführung von Solar- und
       Windenergie bezieht etwa Deutschland [10][heute etwa zwei Drittel seiner
       Energie aus sauberen Quellen]. Das ist sehr schnell passiert. Auch
       infolgedessen sind wir jetzt wahrscheinlich auf dem Weg zu plus 2,7°C.
       
       taz: Auch das wäre ausgesprochen dramatisch. 
       
       Hervey: Aber es ist wahrscheinlich, dass wir am Ende irgendwo bei plus 1,9
       oder 2 Grad landen werden. Das Worst-Case-Szenario von vor fünf Jahren
       liegt nicht mehr auf dem Tisch. Und was den Zubau sauberer Energien angeht,
       so läuft es besser, als je erwartet wurde. 2024 könnte es zum ersten
       Rückgang der weltweiten Kohlenstoffemissionen kommen. Diese Geschichte wird
       nicht Seite an Seite mit der Geschichte des Untergangs und der
       Klimazerstörung erzählt. Es gibt nur sehr wenige Klimajournalisten, die die
       Geschichte erzählen, wie wir die Kurve drücken. Die meisten von ihnen
       erzählen immer nur die Geschichte, wie alles zusammenbricht.
       
       taz: Die allermeisten Menschen sind nicht bereit, irgendwelche
       Einschränkungen des Lebensstils zu akzeptieren. 
       
       Hervey: Man sollte mehr darüber sprechen, welche Vorteile der Übergang zu
       sauberer Energie mit sich bringt, darüber, dass es billiger wird, dass wir
       nicht so viel Energie brauchen, wenn wir diesen Übergang vollziehen, dass
       zwei Drittel der fossilen Energie schon bei der Erzeugung verschwendet
       werden. Es muss eine Geschichte der Industrialisierung sein.
       [11][Deutschland fällt heute als industrielle Führungsnation zurück.] Also
       muss diese Geschichte als Geschichte des Nicht-Zurückfallens verkauft
       werden. Man muss an den Sinn der Menschen für wirtschaftliche
       Möglichkeiten, Effizienz und Fortschritt appellieren. Die Linke und die
       Umweltschützer sind sehr schlecht darin, diese Art von Geschichte zu
       erzählen. Viele sagen das glatte Gegenteil. Das ist ein großes
       Kommunikationsproblem der Linken. Menschen gelangen zu ihren Überzeugungen
       durch eine Kombination aus Gemeinschaft, Kultur, Religion, Ort, Geografie
       und vor allem durch Erzählungen und Geschichten. Es setzt sich durch, wer
       die bessere Geschichte hat.
       
       taz: Meinen Sie das, was man heute gern Tribalismus nennt? 
       
       Hervey: Das als Stammesdenken zu sehen ist zu einfach, weil die Menschen zu
       vielen verschiedenen Arten von Stämmen gehören können, um in dem Bild zu
       bleiben. Ich könnte jemand sein, der Trump wählt, und gleichzeitig ein
       Umweltschützer ist, der glaubt, dass Palästina ein Opfer ist und dass meine
       Tochter das Recht auf Abtreibung haben sollte. Das Problem mit der
       Tribalismus-Vorstellung ist, dass wir Menschen einer Gruppe zuordnen und
       glauben, dass alle aus dieser Gruppe ähnlich wählen und denken. Aber echte
       Menschen sind viel komplexer.
       
       taz: Was heißt das für die Frage, wie man dem Fatalismus entgegentreten
       kann? 
       
       Hervey: Menschen, die an die liberale Demokratie glauben oder sich selbst
       als fortschrittlich oder links sehen, müssen lernen, bessere Geschichten
       darüber zu erzählen, was das Ziel ihres Projekts in der heutigen Welt ist.
       Eine Geschichte über Moral reicht dafür nicht, eine über Identität auch
       nicht. Es reicht auch nicht, nur zu erzählen, was fair ist und was nicht.
       
       taz: Ok, was dann? 
       
       Hervey: Es muss eine Geschichte darüber sein, was die Interessen der
       Menschen anspricht, die die Menschen dort abholt, wo sie sind. Es muss
       ihnen erklären, warum eine bestimmte Politik oder ein Bündel von Maßnahmen
       ihnen auf lange Sicht wahrscheinlich zugute kommt. Progressive können das
       nicht gut.
       
       taz: Das tut die Linke die ganze Zeit. 
       
       Hervey: Nein. Ein gutes Beispiel dafür ist [12][die Dekarbonisierung
       Deutschlands], der fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, die sehr stark
       industriell geprägt ist. Anders als die meisten Volkswirtschaften in Europa
       und dem Rest der Welt bezieht Deutschland heute etwa zwei Drittel seines
       Stroms aus sauberen Quellen. Vor sieben Jahren waren es noch 38 Prozent.
       Die Dekarbonisierung ist viel schneller vonstatten gegangen, als vor 5
       Jahren gedacht. Eine sehr gute Nachricht, die sehr unterschätzt wird.
       
       taz: Es ist eher so, dass der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sehr
       viel Hass abkriegt, weil viele davon überzeugt sind, dass er die deutsche
       Energieversorgung ruiniert hat und die Industrie deshalb das Land verlässt.
       Allerdings erklärt er selber durchaus, warum die Energiewende sinnvoll ist. 
       
       Hervey: Die Grünen oder die Linken waren offenkundig nicht in der Lage, die
       Geschichte der Dekarbonisierung so zu erzählen, dass sie viele überzeugt.
       Sie haben einfach die Arbeit gemacht und dann gesagt: „Schaut euch die
       Daten an.“ Aber die Leute schauen sich die Daten nicht an. Und wenn es eine
       Lücke in der Erzählung gibt, stürzen sich andere darauf, diese Lücke zu
       füllen.
       
       taz: Auch viele Medien weisen durchaus auf positive Entwicklungen etwa bei
       den Erneuerbaren in Deutschland hin. Das Misstrauen ihnen gegenüber ist
       aber gewachsen. Viele trauen etablierten Medien nicht mehr. Wie sollen sie
       da diese Geschichten erzählen? 
       
       Hervey: Nach der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert dauerte es
       etwa 30 Jahre, bis die Menschen verstanden, dass sie nun alles, was sie
       wollen, auf ein Flugblatt drucken und an Zehntausende verteilen können. Es
       kam dann zu einer Entwicklung, die der heutigen sehr ähnlich ist.
       
       taz: Damals wurden dann vor allem apokalyptische Pamphlete gedruckt. 
       
       Hervey: Ja, apokalyptische, aber auch andere Formen von Fake News mit denen
       die Verfasser ihre Interesse verfolgten. Es dauerte noch etwa 150 Jahre,
       bis man davon wegkam. Dann wurden Institutionen geschaffen, in denen
       Informationen zentralisiert wurden, so dass Menschen Vertrauen in diese
       Informationen haben können. Das ist die Grundlage der modernen Praktiken
       des Journalismus, die diesem Glaubwürdigkeit verleihen: Die Überprüfbarkeit
       von Quellen, Zitierfähigkeit, die Idee, dass man als
       Nachrichtenorganisation einen Ruf hat und dass dieser Ruf auch wieder
       verspielt werden kann.
       
       Das Internet führte an einen Punkt, an dem Kulturunternehmer verstehen,
       dass sie alles schreiben können, was sie wollen, und dass der Gewinner die
       beste Geschichte ist – nicht die Person mit den genauesten Fakten. Es wird
       wahrscheinlich noch etwa eine Generation dauern, bis es im Netz wieder
       vertrauenswürdige vertrauenswürdige Zentren journalistischer Exzellenz
       gibt. Aber bis dahin, in den nächsten 20 oder 30 Jahren werden wir eine
       interessante Ära erleben, in der nicht die beste Information, sondern die
       beste Geschichte gewinnt.
       
       taz: Was macht Sie so optimistisch, dass sich die Dinge innerhalb einer
       Generation so entwickeln werden? Warum glauben Sie, dass die politischen,
       technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen es erlauben werden, in
       einen solchen Zustand wiederherzustellen? 
       
       Hervey: Weil die Autoritären zu einfache Antworten auf das haben, was in
       der Welt falsch läuft. Sie sagen, das Problem sei eine bestimmte Gruppe von
       Menschen. Aber so ist nicht. Die Welt ist hochkomplex. Und wenn sie genug
       Zeit haben, werden die Menschen verstehen, dass die Geschichten, die diese
       Kulturunternehmer ihnen verkaufen, nicht wahr sind. Aber wir sind noch sehr
       früh in dieser Phase.
       
       taz: Soziale Kämpfe und Technologie haben sich bislang zu einer Periode des
       allgemeinen Fortschritts akkumuliert. Nun kommen Autoritarismus, eine
       dysfunktionale öffentliche Kommunikation, [13][Ultralibertäre wie Milei],
       die den Staat zerstören wollen, Kleptokraten wie [14][Viktor Orbán].
       Untergräbt das nicht die Voraussetzungen für die bisherigen Entwicklungen,
       die Wohlstand und Bürgerrechte wachsen ließen? 
       
       Hervey: Ich bin nicht überzeugt, dass der bisherige Trend anhält. Aber wir
       werden in vielen Bereichen weiterhin Fortschritte sehen: Einen Anstieg des
       Lebensstandards weltweit, wie werden weiterhin einen Rückgang der Armut
       sehen, unglaubliche Fortschritte im Bereich der globalen Gesundheit, wir
       werden größtenteils weitere Fortschritte bei den Menschenrechten sehen.
       
       taz: Warum glauben Sie das? 
       
       Hervey: In vielen Ländern werden [15][die Rechte der Frauen] liberalisiert,
       die Homo-Ehe wird in immer mehr Ländern eingeführt, die Todesstrafe in
       immer mehr Ländern abgeschafft. Auf einer grundlegenden Ebene sehen wir
       also eine Ausweitung der Rechte und der Toleranz. Das sind wichtige
       Nachrichten in Bezug auf den menschlichen Fortschritt. Die Krise der
       biologischen Vielfalt aber verschlimmert sich. Es sieht nicht so aus, als
       würden wir dieses Problem lösen. Und auch wenn wir beginnen, die
       CO2-Emissionskurve zu drücken, werden wir immer noch dramatische
       Klimaauswirkungen erleben, Migrationsprobleme. Vielleicht setzt Russland
       seine Aggressionen in Europa fort, vielleicht kommt es zu Konflikten im
       Osten rund um Taiwan, vielleicht bricht im Südchinesischen Meer ein
       Konflikt aus. Es ist eine Zeit großer Unsicherheit. Ich weiß nicht, ob wir
       eine einzige Geschichte des Fortschritts sehen. Aber wir werden weiterhin
       Elemente des Fortschritts während der kommenden, wahrscheinlich sehr
       turbulenten 20 oder 30 Jahre sehen.
       
       taz: Und danach? 
       
       Hervey: Dann werden wir mehr darüber wissen, ob es die Geschichte des
       Zusammenbruchs oder die Geschichte der Erneuerung war. Wenn es die
       Geschichte der Erneuerung und des Fortschritts sein soll, brauchen wir mehr
       Menschen, die darüber sprechen. Um auf die Metapher mit dem Zeugnis
       zurückzukommen: Wir könnten eine ganze Reihe von Einsen bekommen, aber wenn
       niemand auf diese Einsen hinweist, ist es unwahrscheinlicher, dass wir sie
       in Zukunft weiter bekommen.
       
       taz: Bekommen Sie Reaktionen von Leuten, die sagen, dass das, was Sie tun,
       angesichts der offensichtlich katastrophalen Nachrichtenlage verrückt ist? 
       
       Hervey: Wir beschreiben [16][in jedem Newsletter] 40 bedeutende
       Fortschritte. Es ist sehr schwierig, jede Woche 40 solcher Artikel zu
       erhalten und dann zu sagen dass alles schrecklich ist. Es mögen
       schreckliche Dinge in der Welt passieren, aber nicht alles, was passiert,
       ist schrecklich.
       
       taz: Sind die Menschen nicht irritiert? 
       
       Hervey: Sie sind nur erleichtert, nicht verärgert. Sehen Sie sich an, dass
       Malaria in Ägypten ausgerottet wurde. In Ägypten leben 100 Millionen
       Menschen, und Malaria ist in Ägypten seit 8000 v. Chr. endemisch. Es gibt
       Aufzeichnungen über Malaria, die so weit zurückreichen, dass Schätzungen
       zufolge zeitweise bis zu 70 Prozent der ägyptischen Bevölkerung an Malaria
       starben. Die Krankheit hat die Menschheit an einem der Orte begleitet hat,
       an dem sie am längsten lebt. Nun wurde sie im Oktober 2024 in Ägypten
       ausgerottet. Das ist vielleicht eine der größten Geschichten, die es je
       gab, und ich kann mir keine größere Geschichte vorstellen als diese. Und
       doch gab es in den Mainstream-Medien fast nichts, fast gar keine
       Berichterstattung.
       
       taz: Die taz hat darüber geschrieben. 
       
       Hervey: Es gab nichts in der New York Times, es gab eine Erwähnung in der
       BBC, nichts im Guardian, nichts in der Washington Post, nichts in der Daily
       Mail. Das sind die meistgelesenen englischsprachigen Nachrichtenseiten. Bei
       Al Jazeera wurde es einmal erwähnt. Und es gibt mehr solcher Beispiel:
       Jordanien hat Lepra eliminiert – als erstes Land der Welt. Vietnam,
       Pakistan und Indien eliminierten Trachoma, die weltweit wichtigste Ursache
       für vermeidbare Erblindung. Allein in Indien leben 1,4 Milliarden Menschen,
       Trachoma war die Hauptursache für infektiöse Blindheit dort. Timor-Leste
       hat die Elefantiasis eliminiert, Brasilien auch. Die Liste ließe sich
       fortsetzen. Es handelt sich um Krankheiten, die Hunderte von Millionen von
       Menschen betroffen haben und seit Hunderten von Generationen Leid
       verursachen. All das geschah in der jüngsten Vergangenheit. Es ist
       schwierig, sich das anzusehen und dann zu sagen, dass alles zusammenbricht,
       dass die Welt so schlimm ist wie nie zuvor.
       
       taz: Ihr Beruf ist, auf positive Entwicklungen zu schauen. Wenn Sie
       Nachrichten über Gaza, die [17][Ukraine], den [18][Sudan], [19][Trump]
       lesen – fühlen Sie sich durch Ihre Arbeit widerstandsfähiger dagegen? 
       
       Hervey: Nein, es berührt mich. Ich rege mich wirklich darüber auf. Wenn ich
       die Berichte über die humanitäre Krise im Sudan lese, finde ich das absolut
       verheerend. Ich lese, was in Gaza passiert. Ich kann nicht glauben, wie die
       Welt darauf reagiert. Aber meine Arbeit erlaubt es mir, diese Nachrichten
       zu betrachten und nicht zu verzweifeln. Denn gleichzeitig lese ich, dass
       wir im letzten Jahr 150.000 Menschen vor [20][Tuberkulose] gerettet haben,
       und ich lese, dass 160 Millionen Schulkinder auf der ganzen Welt jetzt mit
       Schulspeisungen versorgt werden, und das ist ein Anstieg gegenüber 100
       Millionen vor einem Jahr. Für jede herzzerreißende, erschütternde
       Geschichte gibt es eine Geschichte, die genauso oder noch viel kraftvoller
       ist. Ich versuche, der Geschichte vom Zusammenbruch und der von der
       Erneuerung in meinem Kopf gleich viel Gewicht haben.
       
       taz: Gibt es Dinge, die Sie grundsätzlich an Ihrem positiven Weltbild
       zweifeln lassen? 
       
       Hervey: Ich habe große Zweifel. Ich dachte zum Beispiel immer, die liberale
       Demokratie sei eine Geschichte, die sich von selbst durchsetzt. Es scheint
       mir so offensichtlich zu sein, dass dies die richtige Regierungsform ist.
       Daher bin ich wirklich schockiert, dass die liberale Demokratie gerade
       einfach nicht gewinnt. Ich finde das verwirrend. Mein Weltbild wird also
       ständig erschüttert, ich bin oft verzweifelt, zuletzt bei der Wahl von
       Trump. Ich kann nicht begreifen, warum 75 Millionen Menschen für so
       jemanden stimmen konnten. Es erschüttert meine moralischen Grundlagen
       erschüttert. Aber es gibt gleichzeitig so viele Menschen, die sich dafür
       einsetzen, dass die Dinge besser werden. Und wenn ich meine Aufmerksamkeit
       auf diese Menschen richte, dann ist das ein Ort, zu dem ich immer
       zurückkehren kann, wenn mein Weltbild einen Schlag ins Gesicht bekommt.
       
       26 Dec 2024
       
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