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       # taz.de -- Ökonom über Mileis Wirtschaftspolitik: „Das industrielle Argentinien wird verschwinden“
       
       > Auf den ersten Blick steht das Land unter Präsident Javier Milei
       > ökonomisch gut da. Aber der Preis dafür sei hoch, sagt Ökonom Hernán
       > Letcher.
       
   IMG Bild: Extraktivismus zuerst, Arbeitsplätze und Sozialstaat zuletzt: Anti-Milei-Proteste am Tag der Arbeit
       
       taz: Herr Letcher, ein Teil der internationalen Wirtschaftspresse bejubelt
       derzeit den argentinischen Präsidenten Javier Milei dafür, [1][den
       Pleitekandidaten Argentinien] ökonomisch auf Kurs gebracht zu haben. Wird
       Milei dieses Jahr [2][den Nobelpreis für Wirtschaft] erhalten?
       
       Hernán Letcher: Ich wüsste nicht warum. Milei macht überhaupt nichts Neues.
       
       taz: Als Milei im Dezember 2023 sein Amt antrat, klaffte ein riesiges Loch
       im Staatshaushalt, eine dreistellige Inflationsrate machte der Bevölkerung
       das Leben schwer, die Wirtschaft stagnierte seit über zehn Jahren, niemand
       wollte Argentinien mehr Kredite geben und der Peso befand sich im freien
       Fall. Ein Jahr später [3][weist der Staatshaushalt einen Überschuss auf,
       die monatliche Inflationsrate liegt im einstelligen Bereich und der Peso
       hat gegenüber dem US-Dollar erheblich an Wert] gewonnen.
       
       Letcher: Der allgemeine Konsens Ende 2023 war, dass unabhängig davon, wer
       regiert, eine Reihe von makroökonomischen Korrekturen vorgenommen werden
       müssen. Rein technisch gesehen macht Milei nichts anderes als eine
       traditionelle orthodoxe Anpassungspolitik, also Abwertung der Währung,
       Erhöhung der Tarife für Energie und Wasser und Liberalisierung der Preise.
       Dies war nicht immer Teil der orthodoxen Agenda, aber in einigen
       Stabilisierungsprogrammen schon. Im Vergleich zu früheren
       Anpassungsprogrammen in Argentinien ist Mileis Anpassungspolitik sogar
       weniger restriktiv.
       
       taz: Also ist das, was Milei macht, gar nichts Besonderes? 
       
       Letcher: Realpolitisch betrachtet, ein klares Nein. Seine libertären
       Vorstellungen dagegen sind etwas ganz anderes. Milei vertritt die Ansichten
       der österreichischen Schule der Ökonomie, die unternehmerisches Handeln,
       freie Märkte, Privatwirtschaft und Selbstregulierung befürwortet. Das geht
       weit über eine liberale Sicht auf die Wirtschaft hinaus. Liberale halten im
       Allgemeinen einen kleinen Staat mit bestimmten Funktionen für notwendig.
       [4][Libertäre wollen auf die Existenz des Staates gänzlich verzichten].
       
       taz: Die sozioökonomischen Indikatoren haben sich in Mileis Amtszeit ja
       auch nicht unbedingt verbessert. 
       
       Letcher: Schlimmer. Sie haben sich seither alle verschlechtert. Der Preis
       für Mileis Erfolge ist extrem hoch. Die Armut ist in die Höhe geschnellt,
       auch wenn sie aktuell ein wenig zurückgeht. Die Arbeitslosigkeit hat
       zugenommen, die Kaufkraft der Löhne und vor allem der Renten ist weiter
       gesunken, und die Einkommen der informell Beschäftigten sind stark
       zurückgegangen.
       
       taz: Gibt es keine Gewinner? 
       
       Letcher: Doch, der Finanzdienstleistungssektor, [5][der Bergbau und der
       Energiesektor, sprich Öl und Gas]. Ihre Rentabilität wird sich auch weiter
       vervielfachen und die Gesamtstatistik der Wirtschaft hochziehen. Aber die
       Allgemeinheit wird das Nachsehen haben. Es gibt keine Spillover-Effekte,
       zumal diese drei Gewinnersektoren nicht arbeitsintensiv sind und nur vier
       Prozent zu den registrierten Arbeitsplätzen beitragen. Hinzu kommt das
       umstrittene RIGI-System zur Förderung von Großinvestitionen. Ein
       Investitionsprogramm, das auch Steuer- und Deviseneinnahmen generiert und
       auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Technologietransfer abzielt, ist
       eine gute Sache. Das RIGI tut nichts von alledem. Milei favorisiert
       eindeutig ein extraktivistisches Wirtschaftsmodell, das sich auf Sektoren
       konzentriert, die wenig Beschäftigung schaffen. Ein kleiner Teil der
       Gesellschaft hat also Grund zum Feiern.
       
       taz: Und wem ist nicht nach Feiern zumute? 
       
       Letcher: Der Industrie, dem Baugewerbe und dem Handel und allen, die damit
       zusammenhängen. Auf diese drei Sektoren entfallen 45 Prozent der
       Arbeitsplätze. Zusammen mit ihnen stehen die Arbeitnehmer und Rentner
       eindeutig auf der Verliererseite. Mileis Reprimarisierung wird die
       strukturelle Heterogenität zwischen den Produktionssektoren vertiefen. Das
       hat konkrete Auswirkungen, insbesondere auf die Industrieproduktion.
       
       taz: Steuert Milei Argentinien in Richtung Deindustrialisierung? 
       
       Letcher: Ja, die gesamte Industrie ist betroffen, möglicherweise mit
       Ausnahme der Zulieferbereiche für die Erdöl- und Bergbauindustrie. Das
       Gleiche gilt für die Landmaschinen- und die Lebensmittelindustrie, die
       beide mit dem Agrarsektor verbunden sind, der ebenfalls ein
       extraktivistischer Sektor ist. Für alle anderen ist die Situation
       kompliziert. Abgesehen davon, dass ihre Umsätze zurückgegangen sind, droht
       auch eine Öffnung des Binnenmarkts für Importe. Das erinnert an die zehn
       Jahre der Präsidentschaft von Carlos Menem bis 1999, als viele Fabriken
       schließen mussten und die Menschen auf der Straße landeten. Wir sind jetzt
       auf dem Weg dorthin. Niemand investiert in Branchen, die international
       nicht konkurrenzfähig sein können, und Milei hat den Zeitraum für
       Antidumpingmaßnahmen gegen Importe bereits von fünf auf zwei Jahre
       verkürzt. Wer nicht konkurrenzfähig ist, wird seine Fabrik schließen
       müssen. Das industrielle Argentinien, wie wir es heute kennen, wird
       verschwinden.
       
       taz: Eine große Mehrheit wird jedoch die billigeren Importe von
       elektronischen Gütern wie Handys und Computern begrüßen. Und auch im
       Textilbereich ist Argentinien im internationalen Vergleich extrem teuer. 
       
       Letcher: Das stimmt, die Textilindustrie hat den Importschutz ausgenutzt
       und die Preise wahllos erhöht. Aber ich glaube nicht, dass es angebracht
       ist, das Problem zu lösen, indem man den gesamten Sektor killt. Besser wäre
       es, darüber zu diskutieren, wie man die Schutzmaßnahmen aufhebt und die
       Industrie wettbewerbsfähig machen kann. Aber das setzt ein Eingreifen des
       Staates voraus, während gerade der libertäre Milei den Staat mit dem Credo
       „das müssen die Unternehmer schon selbst regeln“ abzieht. Das tut kein
       Staat, weder in Deutschland noch in den USA.
       
       taz: Der Dezember ist in Argentinien traditionell ein Monat der sozialen
       Proteste. Warum ist es dieses Mal so ruhig geblieben? 
       
       Letcher: Ein kleiner Teil der Gesellschaft profitiert von der Politik
       Mileis. Aber auch der andere größere Teil hält immer noch an der Erwartung
       fest, dass sich die Dinge für ihn verbessern werden. Im Moment gibt es 50
       Prozent, die Milei unterstützen, und 50 Prozent, die ihn hassen, die aber
       auch nicht zu den alten Zeiten zurückkehren wollen. Es ist eine eher
       subjektive, emotionale Zustimmung.
       
       1 Jan 2025
       
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