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       # taz.de -- NS-Archive in Deutschland: 540 Kilometer Akten
       
       > Alleine im Bundesarchiv harren Millionen von Dokumentenseiten der
       > Digitalisierung. Dennoch ist das Auffinden von Informationen leichter
       > geworden.
       
   IMG Bild: Ein gigantischer Aufwand: Bereits 120 Millionen Seiten hat das Bundesarchiv schon digitalisiert
       
       Egon Strassner wächst in einem Berliner Waisenhaus auf. Er lernt Schlosser
       bei der Jüdischen Gemeinde. Bald danach, um 1941 herum, arbeitet er als
       Hilfserzieher. Am 19. Oktober 1942 wird ein Teil der Waisenkinder von der
       SS nach Riga deportiert. Dort werden sie kurz nach ihrer Ankunft
       erschossen. Der 18-jährige Strassner wird in das jüdische Ghetto Riga
       eingewiesen und muss Sklavenarbeit leisten. Von dort kommt er am 9. August
       1944 ins KZ Stutthof und wird eine Woche später nach Buchenwald
       verschleppt. Dort stirbt Egon Strassner am 21. Februar 1945 im Alter von 20
       Jahren.
       
       Die KZ-Papiere Strassners finden sich in den Arolsen Archives. Dort werden
       30 Millionen Dokumente über rund 17,5 Millionen Menschen verwahrt, die von
       den Nazis verschleppt worden sind. Jahrzehntelang war das Archiv unter dem
       Namen „Internationaler Suchdienst“ für Forschende verschlossen wie eine
       Auster. Heute sind fast alle Dokumente online einsehbar – ohne Anmeldung
       oder Genehmigung. Diese Offenheit sei „genau richtig“, erklärt
       Pressesprecherin Anke Münster. 2023 nutzen nach ihren Worten mehr als
       680.000 Menschen das Online-Archiv.
       
       In Deutschland stellt das Arolsen-Archiv eine Ausnahme dar, denn als
       international tätige Institution unterliegt es nicht der deutschen
       Rechtsprechung. Entsprechend können dort alle Papiere eingesehen werden,
       deren Inhalt älter als 25 Jahre ist. Mit Ausnahmen: Krankenakten bleiben
       ebenso gesperrt wie Papiere über die NS-Bewegung „Lebensborn“. Nur sehr
       selten hätten Angehörige Einspruch gegen diese Offenheit eingelegt, sagt
       Münster.
       
       Andere Dokumentensammlungen wie das Bundesarchiv unterliegen dem
       Bundesarchivgesetz und entsprechenden Länderregelungen. Für
       Personen-Recherchen bestimmt das Gesetz, dass die Schutzfrist frühestens
       zehn Jahre nach dem Tod oder 100 Jahre nach der Geburt endet. Doch auch bei
       einer vor 30 Jahren verstorbenen Person kann es Probleme geben, wenn sich
       ihre Akten auf einem Mikrofilm zusammen mit Daten über jüngere Menschen
       befinden.
       
       Die zeitliche Einschränkung betrifft gerade Akten über Täter aus der
       NS-Zeit. Solche Dokumente – etwa zur Mitgliedschaft in der NSDAP – kann man
       im Bundesarchiv auf Antrag recherchieren lassen und als Scan zur Verfügung
       gestellt bekommen oder vor Ort selbst Einsicht nehmen. Zwar ist die
       NSDAP-Datei inzwischen digitalisiert. Ein Internetzugriff sei „aufgrund
       noch bestehender personenbezogener Schutzfristen“ aber grundsätzlich nicht
       möglich, erklärt Pressesprecher Elmar Kramer.
       
       ## 120 Millionen Seiten digitalisiert
       
       Die Suche nach Akten wurde dennoch vereinfacht: Viele Findbücher stehen
       inzwischen online und auch manche nicht personenbezogene Dokumente sind so
       leichter erhältlich. Die Digitalisierung ist angesichts eines 540 Kilometer
       messenden Aktenbestandes für das Bundesarchiv eine gigantische Aufgabe.
       Bisher wurden unter anderem 120 Millionen Seiten digitalisiert, so Kramer.
       Jedes Jahr kämen rund 20 Millionen hinzu.
       
       Nicht nur im Bundesarchiv, auch in den Landesarchiven sowie kirchlichen und
       kommunalen Sammlungen werden Dokumente digitalisiert. Inwieweit diese auch
       online einsehbar sind, hängt vom jeweiligen Land und dem Archiv ab. Das
       Brandenburgische Landeshauptarchiv hat seine Dokumente über die
       Ausplünderung von Juden 2024 komplett online gestellt. Auch Egon Strassners
       „Vermögenserklärung“ findet sich dort, unterschrieben kurz vor seiner
       Deportation nach Riga. Er hinterließ nichts.
       
       Anmerkung der Redaktion: Dass die Akten über Täter aus der NS-Zeit nur im
       Bundesarchiv auf Antrag eingesehen werden können, ist unvollständig. Wir
       haben diese Stelle geändert.
       
       2 Jan 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Bundesarchiv
   DIR Holocaust
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   DIR Mein Vormieter Max Anschel
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   DIR Gedenken
       
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