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       # taz.de -- Vor der Bundestagswahl: Links liegen gelassen
       
       > Die rechte Hegemonie wirkt überwältigend in diesen Zeiten. Wer sie
       > überwinden will, muss sich den eigenen Fehlern stellen.
       
   IMG Bild: Hand in Hand gegen die „Remigrationspläne“ der AFD, in Berlin und überall im Land im Februar
       
       Berlin taz | Würde es die Linken nicht geben, müsste man sie erfinden – als
       Sündenbock für Probleme, die Rechte verursacht haben und Populisten nicht
       lösen wollen. Vor acht Jahren fing es an, mit dem ersten Wahlsieg von
       Donald Trump. Der Politologe Mark Lilla und die Philosophin Nancy Fraser
       identifizierten eine linksliberale Intellektuellenelite als Ursache dafür,
       dass in den USA weiße Männer ohne College-Abschluss von den Demokraten zu
       den Republikanern abgewandert waren.
       
       „Progressiver Neoliberalismus“ und Identitätspolitik lauteten die
       Stichworte. Die dazugehörige These besagte, dass die kulturellen und
       demokratischen Establishments, also Linke und Linksliberale, die
       Arbeiterklasse verachten. Linke sollten also Schuld haben am Rechtsruck.
       Ein Erklärmodell, das hierzulande rasend schnell Abnahme fand – bei
       AfD-Politiker:innen, bei Rechtskonservativen, bei Medien wie der Welt.
       
       Dass diese Übertragung nicht wirklich passte, weil das amerikanische
       Parteiensystem gänzlich anders ist, es hier gar kein Hollywood gibt, also
       eine mächtige, von progressivem Gedankengut geprägte
       Unterhaltungsindustrie, dafür aber (noch) relativ gut verankerte
       Gewerkschaften und ein Sozialsystem, in dem man nicht mit dem Jobverlust
       die Krankenversicherung verliert – geschenkt.
       
       Seit Jahren läuft das so: Nennt man als Wohnort Berlin-Kreuzberg, als Beruf
       Journalistin („links-grüner Mainstream“), erwähnt man noch dazu weitere
       Trigger-Faktoren wie Vegetarierin („Grill-Verbot“) und Fahrradfahrerin
       („Verbrenner-Aus“), kommt sogleich, je nach politischer Weltanschauung des
       Gegenübers, entweder die Identifizierung als arrogante Vertreterin eines
       progressiven Neoliberalismus oder als Repräsentantin einer linken
       Hegemonie, die es nie gab.
       
       ## Welche Gesellschaft soll das abbilden?
       
       Also als jemand, der rein gar nichts vom „wirklichen Leben“ und den Sorgen
       der „normalen“ Menschen versteht, auch wenn nach der Mietüberweisung noch
       sehr viel Monat übrig bleibt. Wenn Friedrich Merz sich der Mittelschicht
       zuordnet und findet, „nicht Berlin, nicht Kreuzberg ist Deutschland,
       Gillamoos ist Deutschland“ – übrigens kein Ort, sondern ein Jahrmarkts- und
       Politikspektakel, lautet die Frage: Welche Gesellschaft soll das eigentlich
       abbilden?
       
       Meine Generation, oder vielleicht genauer: meine linke Blase, die
       allerdings nicht ganz untypisch für meine Generation ist, wurde durch die
       von der Union systematisch verharmlosten Baseballschlägerjahre, Antifa und
       Punkrock politisch sozialisiert. Viele studierten (Aufstiegsversprechen),
       viele jobbten in den Semesterferien an den Fließbändern der Industrie (gut
       bezahlt) und kellnerten nebenbei.
       
       Nach dem Studium folgten lange und prinzipiell unbezahlte Praktika, die die
       Chance erhöhten, sich danach von einem befristeten Job zum nächsten zu
       hangeln. Wir waren die ersten, deren Berufseinstieg auf dem sogenannten
       flexibilisierten Arbeitsmarkt begann. Es war die Zeit, in der dank einer
       stramm neoliberalen Politik das Aufstiegs- und Wohlstandsversprechen
       zerschellte und die Lebensentwürfe fragil wurden.
       
       Qua Biografie war man antifaschistisch, antirassistisch und
       kapitalismuskritisch aufgestellt, ohne sich dafür zwangsläufig auf
       elaborierte intellektuelle Höhenflüge begeben zu müssen.
       Linksemanzipatorisch zu werden war sozusagen eine vollkommen logische
       Entwicklung. Und die derzeitigen Debatten um Asyl und Bürgergeld rufen bei
       uns fatale Erinnerungen an die 90er und Nullerjahre hervor.
       
       ## Aus jeder Krise gingen die Reichen reicher raus
       
       16 Jahre Merkel-Regierung hießen Schwarze Null, die Straßen und Schienen
       bröckelten, die Schulgebäude wurden marode. Finanzkrise und Corona dämmten
       zwar das neoliberale Dogma „Mehr Markt als Staat“ ein, aber aus jeder Krise
       gingen die Reichen reicher und die Armen ärmer hervor. Linke und
       Linksliberale wählten die Linkspartei (zumindest bis die Wagenknechtianer
       so richtig loslegten), Grün (trotz Skepsis gegenüber dem grünen
       Kapitalismus), oder vielleicht auch SPD (der man allerdings Hartz IV nie
       verzieh).
       
       Ein Votum also für eine rot-rot-grüne Mehrheit, die es zwar mehrfach gab,
       aber aus der nie eine Regierung wurde.
       
       Dann kam die Ampel: Fortschrittskoalition mit dem Versprechen, die
       überfällige sozialökologische Transformation endlich auf den Weg zu
       bringen. Auch wenn viele im Unterschied zu Olaf Scholz die Performance von
       Christian Lindner nicht überraschte und der Ökonom Joseph Stiglitz und der
       Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ja explizit davor gewarnt hatten, den
       FDP-Chef und Schuldenbremsen-Apologeten zum Finanzminister zu küren, konnte
       man die Ampel als besser empfinden als die Aussicht auf weitere Jahrzehnte
       Stillstand mit der Groko.
       
       Corona, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, den Umbau der
       Energieversorgung sicherstellen – angesichts einer solchen weltpolitischen
       Lage gab es Respekt vor den Aufgaben, die sich da türmten. Dass Friedrich
       Merz und Markus Söder der Ampel das Leben schwer machen würden, war zu
       erwarten. [1][Dass die Ampel allerdings so dermaßen schnell in die
       Defensive gehen würde, nicht.]
       
       Asylrechtsverschärfungen, Lützerath-Räumung, Klimaschutz-Gesetz mit
       aufgeweichten Sektorzielen, verschärfte Maßnahmen gegen „Klimakleber“, das
       Ausbleiben des versprochenen Klimagelds, schärfere Regeln beim Bürgergeld
       statt Sozialstaat auf Augenhöhe, da schwand das anfängliche Wohlwollen
       rapide.
       
       ## Ein wohltuendes Gefühl der Selbstvergewisserung
       
       Aber dann begann das Jahr 2024 [2][mit den größten Demonstrationen in der
       Geschichte der Bundesrepublik]. Rund 3,6 Millionen Menschen gingen
       wochenlang gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Das Narrativ, dass sich
       nur wohlhabende linksliberale Akademiker:innen mit Eigentumswohnungen
       in teuren Großstädten antirassistisches Engagement „leisten“ können, lief
       mit den Bildern der Massen von Menschen, die auch landauf, landab, in
       kleinen Städten und auf dem Dorf demonstrierten, ins Leere.
       
       Das gab ein wohltuendes Gefühl von Selbstvergewisserung, dass man zusammen
       weniger allein ist, in diesen Zeiten der permanenten Bewirtschaftung von
       Ressentiments.
       
       Der Protest sollte ein Druckmittel gegenüber Politiker:innen der
       demokratischen Parteien sein, die eigene Abgrenzung zur AfD zu betonen. Die
       Adressierten stimmten Lobeshymnen auf die Zivilgesellschaft an. Und machten
       danach weiter wie bisher.
       
       Leute wie ich, aber auch viele aus gänzlich anderen Lebenswelten, die gegen
       Rechtsextremismus und die Abschiebepläne der AfD demonstriert hatten,
       wurden links liegen gelassen. Mehr Entmutigung geht kaum: Die Union setzte
       die Ampel unter Druck, die Ampel-Regierung verschärfte in noch höherer
       Taktung das Asylrecht, die AfD eilte von Wahlerfolg zu Wahlerfolg.
       
       ## Vertane Chancen
       
       Es wäre eine Chance gewesen, sich statt des seit Pegida in der politischen
       Debatte omnipräsenten Sozialcharakters des „besorgten Bürgers“ der Sorge
       von linken, linksliberalen und liberalkonservativen Milieus vor dem Verlust
       der offenen und pluralistischen Gesellschaft zu widmen.
       
       Der 6. November ging dann als Tag in die Geschichte ein, an dem morgens mit
       dem erneuten Wahlsieg von Donald Trump eindrucksvoll vor Augen geführt
       wurde, wie dominant die rechte Hegemonie ist. Abends kam das Ende der
       Ampel. Was unterdessen in der Aufmerksamkeitsökonomie unterging:
       Nachmittags hatte das Bundeskabinett noch zwei asylpolitische
       Gesetzentwürfe verabschiedet, mit denen sogar Kindern die Inhaftierung
       droht.
       
       In sieben Wochen steht eine Bundestagswahl an, bei der entscheidend ist,
       dass die Regierung, die daraus hervorgeht, keinen Mist baut. Denn die
       Furcht davor, dass bei der übernächsten Wahl die AfD an die Macht kommen
       könnte, ist berechtigt. Es reicht, einen Blick auf andere europäische
       Länder zu werfen, in denen rechtsextreme Regierungsparteien längst die Axt
       an die liberale Demokratie und den Rechtsstaat legen.
       
       Aktuelle Umfragen zur Bundestagswahl zeigen, dass hierzulande die antilinke
       Konjunktur auch nach der Trump-Erschütterung konstant geblieben ist. Die
       CDU liegt stabil bei der 30-Prozent-Marke, gefolgt von der AfD bei 19
       Prozent. Bei den Parteien Mitte-links und links der Mitte kommt die SPD auf
       16, [3][die Grünen auf 12 Prozentpunkte], die Linkspartei liegt unter der
       5-Prozenthürde, könnte es aber über Direktmandate in den Bundestag
       schaffen.
       
       ## Und wen wählt man jetzt?
       
       Angesichts dessen ist es für Linksliberale und linke Wähler:innen keine
       gute Idee, aus Frust über die Politik der Ampel nun auf eine der
       Kleinstparteien zu setzen, die keine Chance auf einen Parlamentseinzug
       haben.
       
       Nur, wen wählt man da? Die Linkspartei ist seit dem Abgang von Sahra
       Wagenknecht, ihren Getreuen und der BSW-Gründung noch im
       Wiederfindungsprozess. SPD und Grüne haben in der Regierungszeit an
       Glaubwürdigkeit verloren.
       
       Zum Scheitern der Ampel ist oft zu hören: die FDP, die Karlsruher
       Entscheidung zur Schuldenbremse, die Kampagne gegen das Heizungsgesetz. Was
       bei SPD und Grünen hingegen eher diskret ausfällt, ist die selbstkritische
       Aufarbeitung des eigenen Regierungshandelns in der Ampel.
       
       Und jetzt? Weniger Konzessionen an den rechten Zeitgeist wären eine Idee.
       Dass gerade die Grünen als Feindbild Nummer eins funktionieren, – trotz
       ihres pragmatischen Agierens bis zu ihrer eigenen Schmerzgrenze – sagt viel
       über die derzeitige Schwäche linker und linksliberaler Parteien im
       Allgemeinen und der gesellschaftlichen Linken aus. Aber sie werden alle
       zwingend gebraucht, um der rechten Hegemonie etwas entgegenzusetzen.
       
       4 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Martina Mescher
       
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