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       # taz.de -- Olympische Spiele: Nicht noch höher, schneller, weiter
       
       > Paris 2024 wird als Vorzeigeolympia präsentiert: nachhaltig, gerecht,
       > schön. Doch die sozialen und ökologischen Kosten des Megaevents sind
       > dramatisch.
       
   IMG Bild: Sichtbarer Protest: Demonstration in der Nähe des Place de la République in Paris am 15. Juli 2024
       
       Paul Alauzy erzählt: „Die Räumung wurde uns von heute auf morgen bekannt
       gegeben“. Der 29-Jährige erinnert sich gut an jenen Tag im April 2023 in
       L’Île-Saint-Denis – einer Gemeinde in der Pariser Banlieue, wo heute das
       olympische Dorf steht. „Wir wurden von Drohnen gefilmt, es waren Hunderte
       Polizeikräfte da. Ich habe versucht, mit einem Kommissar zu sprechen; es
       war unmöglich. Sie haben uns dann teils in den Hof, teils in die Zimmer
       gesperrt. Der Kommissar hat gesagt: ‚Der erste Bus, der hier steht, geht
       nach Toulouse.‘ Da sollten die Leute in Aussortierungszentren gesteckt
       werden.“
       
       Paul Alauzy ist Koordinator bei Ärzte ohne Grenzen in Paris und Sprecher
       des Bündnisses Le revers de la médaille, auf Deutsch „Die andere Seite der
       Medaille“. Bis zu dem Zeitpunkt, von dem er hier erzählt, hatte er mit den
       Olympischen Spielen noch nie etwas am Hut gehabt. „Dann sind sie uns quasi
       vor die Nase gefallen“, erzählt er rückblickend.
       
       Die Räumung aus dem Jahr 2023, die Alauzy beschreibt, betrifft ein
       besetztes Haus, in dem etwa 500 Personen untergebracht waren. Unibéton
       heißt das Gebäude und hieß das dazugehörige Kollektiv. Die meisten der
       Bewohner*innen waren aus dem Tschad und Sudan geflohen. Ohne Papiere
       und im Randbezirk gehörten sie zu den eher Unsichtbaren der Gesellschaft.
       Nicht unsichtbar genug. Denn Unibéton war nur wenige Meter von dem Ort, an
       dem das olympische Dorf für Paris gebaut wurde – und passte offenbar nicht
       in das Bild, das die Stadt sich vor internationalen Gäst*innen geben
       wollte.
       
       „Die Olympischen Spiele haben unser Leben zerstört und waren ein Albtraum
       für uns“, erzählt Faris Alkhali. Der 31-Jährige war verantwortlich für das
       Gebäude und ist zudem Sprecher eines tschadisch-sudanesischen Kollektivs in
       Paris. Auch er ist aus dem Sudan geflohen. „Die Spiele sollen Freude
       bringen – aber sie waren nie für uns gedacht“, kritisiert Alkhali. „Das ist
       für die Reichen und Schicken. Und wir zahlen die Rechnung.“
       
       ## 19.500 Vertriebene
       
       Die Unibéton-Bewohner*innen sind nicht die Einzigen, die auf solche Art
       aus dem Stadtbild getilgt wurden. [1][19.500 Personen] wurden in und um
       Paris innerhalb von anderthalb Jahren aus ihren Unterkünften geräumt, so
       dokumentiert es Le revers de la médaille. „Das sind 40 Prozent mehr als
       sonst“, weiß Paul Alauzy. Viele von den Vertriebenen wurden in die eingangs
       erwähnten Zentren (sas) in ganz Frankreich verlegt. Diese „sas d’accueil
       temporaire“, Empfangsschleusen, werden etwa ein Jahr vor den Olympischen
       Spielen eingeführt.
       
       [2][Offiziell] sollen sie helfen, Migrant*innen auf Gemeinden in
       Frankreich zu verteilen und eine „passende Unterkunft“ für sie zu finden.
       Doch [3][Hilfsorganisationen] kritisieren, dass sie in Wirklichkeit nur der
       „sozialen Säuberung“ von Paris und Umgebung dienen. „Es gab dann überhaupt
       keine Unterkünfte“, berichtet auch Faris Alkhali. Meistens harren die in
       Bussen wegtransportierten Geflüchteten Hunderte Kilometer entfernt in
       Turnhallen oder Camps aus oder sind sofort obdachlos.
       
       Die gewaltsame Räumung von Unterkünften und die noch weitere
       Marginalisierung von Obdachlosen ist – unter der Hand – zwar schon lange
       eine übliche Praxis, erzählt Paul Alauzy. Er weiß, wovon er spricht. Für
       Ärzte ohne Grenzen macht er in Teams sogenannte Kälterunden, bei denen man
       die Obdachlosen an ihren gewohnten Aufenthaltsorten besucht, mit ihnen
       spricht und sie unterstützt. „Aber mit den Olympischen Spielen sind neue
       Gesetze, neue Mittel und neue polizeiliche Methoden dazugekommen“, erzählt
       der Aktivist. „Die haben das alles beschleunigt.“
       
       Das [4][Antibesetzungsgesetz] – ein Jahr vor Olympia in Frankreich
       verabschiedet – bestraft das Besetzen und Bewohnen leer stehender Gebäude
       noch härter als zuvor. Bei einem anderen Gesetz ist die Verbindung zu dem
       Megaevent noch offensichtlicher. Das [5][„Gesetz vom 19. Mai 2023 bezüglich
       der Olympischen und Paralympischen Spiele“] regelt den Einsatz von
       KI-Videoüberwachung in den Straßen. Zwar wird noch keine
       Gesichtserkennungssoftware genutzt, wohl aber eine [6][„algorithmische
       Videoüberwachung“], die Bewegungen und Gruppen erkennt, liegen gelassene
       Taschen oder „verdächtige Menschen“.
       
       ## Repressive Gesetze dank Olympia
       
       Ursprünglich sollte der Einsatz dieser Technologie auf den Zeitraum um die
       Olympischen Spiele herum begrenzt sein und im März 2025 aufgehoben werden.
       Doch schon im Herbst 2024 hat sich der Pariser Polizeipräfekt in einer
       Anhörung vor dem Parlament [7][für eine Verlängerung ausgesprochen] – und
       könnte damit Erfolg haben. Genau das hatten Aktivisten für Menschenrechte
       und gegen einen Überwachungsstaat von Anfang an befürchtet. „Am Ende
       bleiben solche vermeintlichen Ausnahmegesetze dann doch dauerhaft“, moniert
       Paul Azauly.
       
       Auch vom neuen Einwanderungsgesetz („loi Darmanin“, benannt nach dem
       damaligen Innenminister) glaubt Alauzy, dass es einen Zusammenhang mit
       Olympia gibt. Nachweisen lässt sich das allerdings nicht. Das Gesetz trat
       Anfang 2024 in Kraft, ein halbes Jahr vor Beginn der Spiele. Es hat die
       Rechte von Menschen ohne europäischen Pass drastisch eingeschränkt.
       
       „Leider gehören soziale Säuberungen zu den Olympischen Spielen intrinsisch
       dazu. Das ist extrem problematisch“, sagt Paul Alauzy. Tatsächlich lassen
       sich drastische Gesetzesänderungen in diesem Bereich bei einer Reihe von
       Olympiagastgebern feststellen. In Atlanta wurde das Übernachten in Parks
       und auf den Straßen [8][1996] pünktlich zu den Olympischen Spielen
       kriminalisiert, genauso aber das Betreten von leer stehenden Gebäuden.
       
       Für Olympia 2004 in Athen wiederum erließ die griechische Regierung ein
       [9][Gesetz], das die sofortige Enteignung all jener erlaubte, auf deren
       Grundstücken Gebäude für die Spiele errichtet werden sollten. Letztlich
       wurden vor allem [10][Sinti*zze und Rom*nja] gewaltsam aus der Stadt
       vertrieben.
       
       ## „Olympia Kidnapping Act“
       
       Zu den Spielen 2012 in London wurde kurz vorher noch ein Gesetz erlassen,
       dass die [11][Durchsuchung] von Privathäusern durch die Polizei erlaubte,
       wenn sie sich auf olympischen Stätten befanden.
       
       2010 fanden die Olympischen Spiele im kanadischen Vancouver statt – und zu
       dieser Zeit wurde dort auch ein neues Gesetz [12][gegen Obdachlose]
       verabschiedet: der [13][Assistance to Shelter Act]. Polizeikräfte sind
       seitdem in Vancouver berechtigt, Obdachlose dazu zu zwingen, in eine
       Unterkunft zu gehen. Das Gesetz gilt unter seinen Gegner*innen als
       „Olympia Kidnapping Act“.
       
       Auch in Paris organisieren sich diejenigen, die von den „sozialen
       Säuberungen“, wie Alauzy es nennt, in der ein oder anderen Art betroffen
       sind. „Wir haben dann Kontakt zu anderen Vereinen aufgenommen und
       festgestellt: Es sind nicht nur die migrantischen Obdachlosen betroffen. Es
       sind auch die ‚französischen‘. Es sind auch Sexarbeiterinnen, die
       festgenommen und in Haft gesteckt werden. Ganze Obdachlosensiedlungen
       wurden aufgelöst.“
       
       Alauzy und viele andere tun sich zusammen und gründen die Organisation
       [14][Le revers de la médaille]. Mit der Zeit kommen in diesem Bündnis über
       hundert Organisationen zusammen. Unabhängig von dem Bündnis finden sich
       auch Klimaschutzaktivist*innen etwa von Youth4Climate und Extinction
       Rebellion. Denn auch aus ökologischer Perspektive sind die Olympischen
       Spiele für viele nicht vertretbar. Zu den Sponsoren gehören notorische
       Umweltsünder wie Coca-Cola; die Errichtung von großer Infrastruktur
       verschwendet Ressourcen.
       
       ## Zerstörte Grünflächen
       
       In Aubervilliers im Norden von Paris werden 4.000 Quadratmeter Grünfläche
       für die Errichtung eines Olympiaschwimmbads zerstört: Die jardins
       d’ouvriers sind so etwas wie Schrebergärten, in Frankreich „Arbeitergärten“
       genannt, weil sie in Randbezirken von Arbeiter*innen genutzt wurden und
       werden.
       
       Im Vorort Saint-Denis wird ein [15][Autobahnkreuz] gebaut – es soll zwei
       bedeutende Autobahnen verbinden. Auch hier ist die Rolle der Olympischen
       Spiele sichtbar: Das Projekt gibt es schon lange, es wurde jedoch als zu
       teuer und aufwendig viele Jahre ad acta gelegt. Für die Olympischen Spiele
       jedoch wird das Geld dann in die Hand genommen – zumal eine der Autobahnen
       am olympischen Dorf vorbeiführt. Das Autobahnkreuz wird um eine Schule
       herum gebaut; Schüler*innen und Anwohner*innen wehren sich –
       vergeblich. Wenige Monate nach der Eröffnung der Anschlussstelle ist die
       Bilanz mau: Rund um das [16][Autobahnkreuz] ist massiver Stau, morgens
       braucht man hier für 1,6 Kilometer etwa eine halbe Stunde.
       
       Auf den Baustellen schuften [17][Geflüchtete] ohne Papiere für geringe
       Löhne und unter schlechten Arbeitsbedingungen. Die Legalisierung ihres
       Aufenthaltsstatus, den die Arbeiter*innen in einem Streik gefordert
       hatten, wurde von den Behörden versprochen und bis heute nicht umgesetzt.
       
       ## Widerstand früher organisieren
       
       Paul Alauzy und die Mitstreiter*innen von Le revers de la médaille
       wissen im Jahr 2023, dass es schon zu spät ist, die Spiele zu verhindern.
       Sie versuchen, die verheerenden Folgen irgendwie abzufedern und
       Öffentlichkeit dafür zu schaffen. Alauzys wichtigste Lektion: Der
       Widerstand gegen die Olympischen Spiele muss früh genug anfangen.
       
       Aktuell ist Le revers de la médaille im Kampf gegen Winterolympia 2030 in
       den französischen Alpen aktiv. Auch mit Blick auf die mögliche Bewerbung
       deutscher Städte sagt er: „Ich würde sofort in einen Zug steigen, um mich
       mit den Leuten in Berlin zu vernetzen.“ Denn dass auf die deutsche
       Hauptstadt ein ähnliches Szenario zukäme wie auf Paris, dessen ist er sich
       sicher.
       
       „Wenn die Olympischen Spiele wirklich für Freundschaft zwischen den Völkern
       stehen, für Solidarität und Inklusion – dann sind das Werte unserer
       Organisationen und Bürger*inneninitiativen“, stellt Alauzy klar. Die
       Mitglieder von Le revers de la médaille hätten nicht per se ein Problem
       mit den Olympischen Spielen. Das Budget des Megaevents würde es theoretisch
       ermöglichen, ein wirklich inklusives Ereignis daraus zu machen. „Wenn es
       nur ein kapitalistisches Riesenfest ist, wo es um neue Kundschaft und neue
       Territorien geht, um Business zu machen – mit allen sozialen und
       ökologischen Folgen –, dann sind wir dagegen.“
       
       4 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://lereversdelamedaille.fr/wp-content/uploads/2024/06/1-year-of-social-cleansing-le-revers-de-la-medaille-Disclaimer-AI-generated-translation-from-the-French-version-may-not-be-accurate.pdf
   DIR [2] https://www.gisti.org/IMG/pdf/circ_2023-03-13_sas_ocr.pdf
   DIR [3] https://www.gisti.org/spip.php?article7116
   DIR [4] https://fr.wikipedia.org/wiki/Loi_du_27_juillet_2023_visant_%C3%A0_prot%C3%A9ger_les_logements_contre_l'occupation_illicite
   DIR [5] https://www.interieur.gouv.fr/actualites/grands-dossiers/a-linterieur-des-jeux-olympiques-et-paralympiques-de-paris-2024/securite
   DIR [6] https://www.amnesty.fr/liberte-d-expression/actualites/pourquoi-la-videosurveillance-algorithmique-pose-probleme-cameras-technologies
   DIR [7] https://www.lemonde.fr/societe/article/2024/09/25/le-prefet-de-police-de-paris-se-dit-favorable-a-une-prolongation-du-recours-a-la-videosurveillance-algorithmique_6333125_3224.html
   DIR [8] https://www.nytimes.com/1996/07/01/us/as-olympics-approach-homeless-are-not-feeling-at-home-in-atlanta.html
   DIR [9] http://www.ruig-gian.org/ressources/Athens_background_paper.pdf
   DIR [10] https://www.omct.org/en/resources/urgent-interventions/greece-evictions-of-roma-as-part-of-the-preparation-for-the-2004-olympic-games
   DIR [11] https://www.vice.com/de/article/anti-homosexuelle-gesetzgebung-ist-nur-ein-kleiner-grund-die-olympischen-spiele-zu-hassen/
   DIR [12] https://www.theguardian.com/world/2010/feb/03/vancouver-winter-olympics-homeless-row
   DIR [13] https://thetyee.ca/News/2009/10/14/OlympicsHomelessLaws/
   DIR [14] https://lereversdelamedaille.fr/les-associations-du-collectif/
   DIR [15] https://radioparleur.net/2020/08/24/pleyel-echangeur-mobilisation-jo/
   DIR [16] https://www.leparisien.fr/seine-saint-denis-93/saint-denis-malgre-les-amenagements-autoroutiers-a-pleyel-cest-blinde-de-7h30-a-10-heures-19-03-2024-QHELEWWFPZGAFCZ7L4DQQDQI5M.php
   DIR [17] https://www.leparisien.fr/seine-saint-denis-93/saint-denis-malgre-les-amenagements-autoroutiers-a-pleyel-cest-blinde-de-7h30-a-10-heures-19-03-2024-QHELEWWFPZGAFCZ7L4DQQDQI5M.php
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Fauth
       
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